11 Tar Valon

Das kleine Dorf Darein hatte sich beinahe genauso lang am Ufer des Erinin befunden wie Tar Valon auf seiner Insel. Dareins kleine, rote und braune Backsteinhäuser und Geschäfte, die gepflasterten Straßen: alles vermittelte ein Gefühl von Beständigkeit. Doch während der Trolloc-Kriege war das Dorf niedergebrannt worden; man hatte es geschleift, als das Heer Artur Falkenflügels Tar Valon belagerte; mehr als einmal während des Hundertjährigen Kriegs war es geplündert worden, und vor nicht einmal zwanzig Jahren hatte man es im Aiel-Krieg erneut niedergebrannt. Eine unruhige Geschichte für ein kleines Dorf, aber da Darein günstig am Fuß einer der großen Brücken nach Tar Valon lag, wurde es immer wieder aufgebaut, gleich, wie oft man es zerstörte. Jedenfalls, solange Tar Valon stand.

Zuerst schien es Egwene, als erwarte man in Darein wieder einen Krieg. Eine Einheit Pikeure marschierte durch die Straßen. Ihre Reihen wirkten wie eine Drahthaarbürste, so gespickt mit ihren langen Piken... Ihnen folgten Bogenschützen mit flachen, breitrandigen Helmen, an den Hüften prall gefüllte Köcher und die Bögen vor der Brust. Eine Schwadron gerüsteter Reiter mit geschlossenen Visieren machte Verin und ihrer Begleitung Platz, als ein Offizier sie mit einer im schweren Kampfhandschuh steckenden Hand beiseite winkte. Alle trugen die Weiße Flamme von Tar Valon wie eine Schneeträne auf der Brust.

Doch die Einwohner des Dorfs gingen offensichtlich unbeeindruckt ihren Geschäften nach. Die Menge auf dem Markt teilte sich so selbstverständlich vor den Soldaten, als seien die Marschierenden längst gewohnte Hindernisse. Ein paar Männer und Frauen mit obstbeladenen Verkaufsbrettern hielten mit den Soldaten Schritt und versuchten, deren Interesse an verschrumpelten Äpfeln und Pflaumen zu wecken, die den Winter durch eingekellert gewesen waren, doch von ihnen abgesehen beachteten die Hausierer und Ladenbesitzer die Soldaten gar nicht. Auch Verin schien sie zu ignorieren, während sie Egwene und die anderen durch das Dorf zu der großen Brücke hin führte, die sich wie eine aus Stein geklöppelte Spitzenborte über eine halbe Meile Wasser spannte.

Am Fuß der Brücke standen weitere Soldaten Wache: ein Dutzend Pikeure und halb so viele Bogenschützen, die jeden überprüften, der die Brücke überqueren wollte. Der Offizier, ein Mann mit lichtem Haar, der den Helm über den Griff seines Schwerts gehängt hatte, schien verärgert angesichts der langen Schlange wartender Fußgänger und Reiter, Pferdewagen, Ochsengespanne und Karren, die von ihren Eigentümern selbst gezogen wurden. Die Schlange war nur etwa hundert Schritt lang, doch jedesmal, wenn jemand auf die Brücke gelassen wurde, kam hinten jemand Neues dazu. Trotzdem nahm sich der alternde Offizier jedesmal Zeit, um sicherzugehen, daß jeder auch das Recht hatte, Tar Valon zu betreten. Erst dann ließ er den Wartenden gehen.

Er öffnete den Mund und wollte schon wütend werden, als Verin ihre Begleiter gleich ganz nach vorn führte, doch dann sah er ihr Gesicht und setzte sich eilig den Helm wieder auf. Keiner, der sie wirklich kannte, mußte erst den Schlangenring sehen, um eine Aes Sedai zu erkennen. »Guten Morgen, Aes Sedai«, sagte er mit einer Verbeugung, wobei er eine Hand auf sein Herz legte. »Guten Morgen. Reitet nur hinüber, wie es Euch gefällt.«

Verin hielt ihr Pferd neben ihm an. In der wartenden Schlange wurde Murren laut, doch keiner wagte, sich zu beschweren. »Probleme mit den Weißmänteln, Wächter?«

Warum halten wir an? fragte sich Egwene voller Unruhe. Hat sie Mat vergessen?

»Eigentlich nicht, Aes Sedai«, sagte der Offizier. »Keine Kampfhandlungen. Sie versuchten, nach Markt Eldone vorzudringen, auf der anderen Seite des Flusses, aber wir haben es ihnen verdorben. Die Amyrlin will jedoch sichergehen, daß sie es nicht noch einmal versuchen.«

»Verin Sedai«, begann Egwene vorsichtig. »Mat... «

»Nur einen Moment noch, Kind«, sagte die Aes Sedai und klang nur halb geistesabwesend dabei. »Ich habe ihn nicht vergessen.« Dann wandte sie sofort ihre Aufmerksamkeit wieder dem Offizier zu. »Und die Dörfer im weiteren Umkreis?«

Der Mann zuckte unangenehm berührt die Achseln. »Wir können die Weißmäntel nicht ganz davon abhalten, Aes Sedai. Sie ziehen sich zurück, wenn unsere Patrouillen kommen. Sie scheinen uns in die Irre führen zu wollen.« Verin nickte und wäre losgeritten, wenn der Offizier sie nicht noch einmal angesprochen hätte: »Verzeiht mir, Aes Sedai, aber Ihr kommt offensichtlich von weit her. Habt Ihr irgendwelche Neuigkeiten? Mit jedem Handelsschiff kommen neue Gerüchte den Fluß herauf. Sie sagen, irgendwo im Westen gebe es einen neuen falschen Drachen. Also, sie behaupten sogar, daß Artur Falkenflügels Heer, das aus den Gräbern zurückgekehrt ist, ihm folgt und daß er eine Menge Weißmäntel getötet hat. Er soll auch eine Stadt zerstört haben — Falme wird sie wohl genannt —, behaupten manche. Das ist drunten in Tarabon.«

»Sie haben auch behauptet, daß Aes Sedai ihm halfen!« rief eine Männerstimme aus der wartenden Schlange. Hurin atmete tief durch und setzte sich zurecht, als erwarte er einen Gewaltausbruch. Egwene sah sich um, konnte aber nicht entdecken, wer das gerufen hatte. Alle schienen nur auf Warten eingestellt, geduldig oder ungeduldig, und wollten möglichst bald an der Reihe sein. Die Lage hatte sich geändert, und nicht zum Besten. Bevor sie Tar Valon verlassen hatten, hätte sich jeder glücklich geschätzt, der die Aes Sedai kritisierte, wenn er lediglich mit einer blutigen Nase davongekommen wäre. Mit hochrotem Gesicht blickte der Offizier die Wartenden an.

»Gerüchte entsprechen nur selten der Wahrheit«, sagte Verin zu ihm. »Ich kann Euch mitteilen, daß Falme immer noch steht. Und es liegt noch nicht einmal in Tarabon, Wächter. Hört weniger auf Gerüchte, sondern mehr auf den Amyrlin-Sitz. Das Licht leuchte Euch.« Sie hob die Zügel und er verbeugte sich, als sie die anderen an ihm vorbeiführte.

Die Brücke versetzte Egwene in Erstaunen, wie das die Brücken von Tar Valon immer taten. Die durchbrochenen Seitenwände waren so kunstvoll gearbeitet, daß sie auch die beste Handarbeiterin an ihrem Stickrahmen beschämten. Es schien kaum möglich zu sein, Stein so fein zu bearbeiten. Und dann war es unwahrscheinlich, daß die Brücke ihrem eigenen Gewicht standhalten konnte. Der Fluß strömte kräftig und gleichmäßig fünfzig Schritt oder mehr unter ihr dahin. Es gab keinen einzigen Pfeiler auf der halben Meile zwischen Ufer und Insel.

Auf gewisse Weise noch erstaunlicher war die Tatsache, daß sie das Gefühl hatte, die Brücke führe nach Hause. Erstaunlicher und erschreckender. Emondsfeld ist mein Zuhause. Aber in Tar Valon würde sie alles lernen, was sie zum Überleben können mußte, und um ihre Freiheit zu behalten. In Tar Valon würde sie erfahren — mußte sie erfahren —, warum ihre Träume so beunruhigend waren und warum sie gelegentlich Bedeutungen enthielten, die sie nicht enträtseln konnte. Ihr Leben war nun mit Tar Valon verknüpft. Falls sie je nach Emondsfeld zurückkehrte — das ›falls‹ tat weh, doch sie war ehrlich genug sich selbst gegenüber —, würde es ein Besuch sein, um ihre Eltern wiederzusehen. Sie hatte sich bereits weit von der Tochter eines Wirts wegentwickelt. Dieses Band würde sie nicht mehr fesseln, nicht, weil sie es haßte, sondern weil sie dem Dorf entwachsen war.

Die Brücke war nur der Anfang. Sie erstreckte sich bis an die Mauer, die die Insel umspannte: eine hohe, weiß schimmernde Mauer aus silbrig geädertem Stein, deren Krone auf die Höhe der Brücke hinabblickte. In Abständen wurde die Mauer von Wachttürmen unterbrochen, die aus dem gleichen weißen Stein bestanden und an deren Fuß der Fluß schäumte. Doch die Mauer wurde noch überragt von den echten Türmen von Tar Valon, den Türmen der Legende, spitzen Säulen und Flöten und Spiralen. Einige davon waren durch luftige Brücken miteinander verbunden, gute hundert Schritt oder mehr über dem Boden. Und trotzdem war auch das nur der Anfang.

An dem bronzebeschlagenen Tor standen keine Wächter, und die Flügel standen weit offen, so daß zwanzig Mann nebeneinander hätten hindurchreiten können. Dahinter erstreckte sich eine der breiten Alleen, die sich kreuz und quer über die Insel zogen. Der Frühling war wohl noch kaum voll ausgebrochen, doch in der Luft lag bereits ein Duft nach Blumen und Parfums und Gewürzen.

Die Stadt raubte Egwene den Atem, als habe sie sie noch nie zuvor gesehen. Jeder Platz und jede Straßenkreuzung wies einen Brunnen auf oder ein Denkmal oder ein Standbild. Einige davon standen auf turmhohen Sockeln. Doch es war die Stadt selbst, die aller Augen blendete. Was ganz einfach wirkte, konnte so viele Ornamente und Friese aufweisen, daß es selbst schon wie Zierat aussah, und was keine Verzierungen zeigte, wirkte durch seine Form grandios. Große und kleine Gebäude, aus Stein in allen überhaupt möglichen Farben erbaut... Manche sahen wie Muscheln aus oder wie Meereswogen, andere wieder wie vom Wind abgeschliffene Klippen, fließend und phantasievoll, aus der Natur entnommen oder aus dem Geist von Menschen entsprungen. Die Wohnhäuser, die Schenken, ja, sogar die Ställe — selbst das unbedeutendste Gebäude in Tar Valon war für das Auge erschaffen worden. Steinwerker der Ogier hatten den größten Teil der Stadt in den langen Jahren nach der Zerstörung der Welt erschaffen, und noch heute behaupteten sie, es sei ihre beste Arbeit überhaupt gewesen.

Männer und Frauen aus aller Herren Länder bevölkerten die Straßen. Man sah dunkelhäutige und blasse und alle Schattierungen dazwischen; leuchtend bunte Kleidung und Muster ebenso wie unauffällige; Kleidung mit Fransen und Troddeln und glänzenden Knöpfen, oder auch strenge und schmucklose; solche, die mehr Haut sehen ließ, als Egwene für schicklich hielt, und andere, aus der nicht mehr als die Augen und die Fingerspitzen hervorlugten. Geschlossene Sänften und offene Tragesitze suchten sich den Weg durch die Menge. Ihre Träger riefen: »Macht Platz!« Kutschen schoben sich langsam die Straßen entlang. Livrierte Kutscher schrien »Hüa!« und »Ho!«, als glaubten sie, dann ginge es schneller. Straßenmusikanten spielten Flöte oder Harfe oder Dudelsack. Manchmal begleiteten sie einen Jongleur oder einen Akrobaten, aber immer lag eine Mütze für die Münzen vor ihnen. Straßenhändler priesen ihre Waren, und Ladenbesitzer, die vor ihren Geschäften standen, boten schreiend ihre Ware feil. Die ganze Stadt war von einem Summen erfüllt, als sei sie ein lebender Organismus.

Verin hatte wieder ihre Kapuze hochgezogen, um ihr Gesicht zu verbergen. Doch in dieser Menge schien niemand ihnen Aufmerksamkeit zu schenken, wie Egwene glaubte. Nicht einmal Mat auf seiner Trage an der Seite des Packpferdes zog mehr als flüchtige Blicke an, obwohl einige Leute sich vor ihnen zurückzogen, als sie an ihnen vorbeiritten. Manchmal brachten die Menschen ihre Kranken zur Weißen Burg, um dort Heilung zu finden, und was es in seinem Fall auch sein mochte — es konnte ja ansteckend sein.

Egwene ritt zu Verin vor und beugte sich hinüber. »Habt Ihr wirklich gerade jetzt mit Schwierigkeiten gerechnet? Wir sind doch in der Stadt und schon beinahe angekommen.« Die Weiße Burg war jetzt bereits nahe vor ihnen. Das große Gebäude ragte breit und hoch über die Dächer hinweg.

»Ich rechne immer mit Schwierigkeiten«, antwortete Verin gelassen. »Das solltet Ihr auch. Vor allem in der Burg. Dort müßt ihr alle mehr denn je achtgeben. Eure... Tricks« — ihr Mund verzog sich bei der Erwähnung einen Moment lang, bis die übliche Ruhe wieder zurückkehrte — »haben die Weißmäntel verscheucht, aber innerhalb der Burg könnten sie Euch sehr wohl den Tod oder die Dämpfung einbringen.«

»Das würde ich in der Burg niemals tun!« protestierte Egwene. »Keine von uns täte das.« Nynaeve und Elayne hatten zu ihnen aufgeschlossen und Hurin bei den Pferden zurückgelassen. Sie nickten — Elayne eifrig und Nynaeve, wie es Egwene schien, etwas reservierter.

»Ihr solltet das überhaupt nicht mehr tun, Kind. Ihr dürft nicht! Nie mehr!« Verin sah sie unter ihrer Kapuze hervor von der Seite her an und schüttelte den Kopf. »Und ich hoffe wirklich, ihr habt gelernt, euren Mund zu halten, wenn es besser ist.« Elaynes Gesicht lief puterrot an, und Egwenes Wangen brannten. »Sobald wir den Bereich der Burg betreten, hütet eure Zungen und akzeptiert alles, was geschieht. Was es auch sein mag! Ihr wißt nicht, was uns in der Burg erwartet, und wenn doch, würdet ihr auch nicht wissen, wie ihr darauf reagieren sollt. Also seid still.«

»Ich werde tun, was Ihr sagt, Verin Sedai«, beteuerte Egwene, und Elayne sprach ihre Worte nach. Nynaeve schniefte. Die Aes Sedai starrte sie an, und so nickte sie schließlich zögernd.

Die Straße weitete sich zu einem riesigen Platz in der Stadtmitte, und mitten auf diesem Platz stand die Weiße Burg und strahlte in der Sonne. Sie war so hoch, daß sie den Himmel zu berühren schien. Kuppeln und zierliche Türmchen und wieder andere Bauformen waren da im Zentrum der riesenhaften Fläche zu sehen. Es befanden sich überraschend wenig Menschen auf dem Vorplatz. Keiner ging zur Burg, wenn er nicht dort zu tun hatte, dachte Egwene mit einem unangenehmen Gefühl im Magen.

Hurin führte das Pferd mit der Trage vorwärts, als sie den Vorplatz betraten. »Verin Sedai, ich muß Euch nun verlassen.« Er beäugte die Burg kurz und brachte es dann fertig, nicht mehr dorthin zu blicken, obwohl es schwerfiel, überhaupt woandershin zu schauen. Hurin kam aus einem Land, wo man die Aes Sedai respektierte, aber es war eine Sache, sie zu respektieren, und eine ganz andere, sich plötzlich von ihnen umgeben zu finden.

»Ihr wart uns auf dieser Reise eine große Hilfe, Hurin«, sagte Verin zu ihm, »und es war eine lange Reise. Ihr werdet in der Burg einen Schlafplatz bekommen, bis Ihr weiterreist.«

Hurin schüttelte energisch den Kopf. »Ich werde keinen Tag verschwenden, Verin Sedai. Nicht einmal eine Stunde. Ich muß nach Schienar zurück und König Easar und Lord Agelmar berichten, was in Wirklichkeit in Falme geschah. Ich muß ihnen sagen, was... « Er brach plötzlich ab und sah sich um. Es war niemand nahe genug, um lauschen zu können, doch er senkte die Stimme noch mehr und sagte nur: »Über Rand. Daß der Drache wiedergeboren wurde. Es muß doch Handelsschiffe geben, die flußaufwärts fahren, und ich will mit dem Nächstmöglichen fahren.«

»Dann wandelt im Licht, Hurin aus Schienar«, sagte Verin.

»Das Licht leuchte euch allen«, antwortete er und raffte seine Zügel. Doch dann zögerte er noch einen Augenblick und fügte hinzu: »Falls Ihr mich jemals braucht, schickt eine Botschaft nach Fal Dara, und ich werde eine Möglichkeit finden, zu kommen.« Dann räusperte er sich verlegen, ließ sein Pferd wenden und trabte davon. Viel zu bald war er nicht mehr zu sehen.

Nynaeve schüttelte den Kopf resignierend. »Männer! Sie sagen immer, man solle nach ihnen schicken, wenn man sie braucht, aber wenn man wirklich einen braucht, dann doch gerade zu dem Zeitpunkt.«

»Wo wir jetzt hingehen, kann uns kein Mann helfen«, sagte Verin trocken. »Denkt daran. Schweigt still.«

Egwene empfand schon etwas wie Einsamkeit, als Hurin wegritt. Er sprach wohl kaum mit ihnen, außer mit Mat, und Verin hatte durchaus recht. Er war eben nur ein Mann und so hilflos wie ein Kind, wenn er das erlebte, was sie in der Burg erwartete. Doch sein Verlust bedeutete, daß sie einer weniger waren, und sie konnte sich nicht helfen: Sie hielt einen Mann mit einem Schwert in ihrer Nähe für nützlich. Und er hatte ein Bindeglied zu Rand und Perrin dargestellt. Ich habe meine eigenen Sorgen. Rand und Perrin würden sich wohl damit abfinden müssen, daß sich Moiraine um sie kümmerte. Und Min wird sich ganz sicher um Rand kümmern, dachte sie und sie bemühte sich dabei, ihre Eifersucht zu unterdrücken. Beinahe wäre ihr das auch gelungen.

Seufzend nahm sie die Zügel des Pferdes, das die Bahre trug. Mat lag bis zum Kinn eingehüllt da. Er atmete trocken und rauh. Bald, dachte sie. Bald wirst du geheilt sein. Und wir werden herausfinden, was uns erwartet. Sie wünschte, Verin würde ihnen keine Angst mehr einjagen. Sie wünschte sich auch, es gäbe keinen Grund dafür, daß Verin ihnen Angst einjagte.

Verin führte sie um den Vorplatz herum zu einem kleinen Seiteneingang mit zwei Wächtern, der offen stand. Die Aes Sedai hielt an und schob die Kapuze zurück. Sie beugte sich herunter und sprach leise mit einem der Männer. Er fuhr zusammen und warf Egwene und den anderen einen überraschten Blick zu. Mit einem schnellen »Wie Ihr wünscht, Aes Sedai« rannte er weg. Verin ritt in dem Moment bereits durch das Tor. Sie tat, als gebe es keinen Grund zur Eile.

Egwene folgte mit der Trage. Sie, Nynaeve und Elayne blickten sich erstaunt an. Sie fragten sich, was Verin dem Mann wohl gesagt habe.

Gleich innerhalb des Tores stand ein graues, aus Stein gemauertes Wachhaus in der Form eines auf der Seite liegenden sechsstrahligen Sterns. Eine kleine Gruppe von Wachsoldaten stand an dessen Tür herum, aber als Verin vorbeiritt, hielten sie in ihrer Unterhaltung inne und verbeugten sich.

Dieser Teil des Burggeländes hätte gut der Park irgendeines Lords sein können. Da wuchsen beschnittene Hecken und Bäume, und die Wege waren mit Kieseln bestreut. Zwischen den Bäumen waren andere Gebäude zu sehen. Die Burg selbst überragte alles.

Der Weg führte sie zu einem von Bäumen eingerahmten Stallhof, wo Burschen in Lederwesten zu ihnen herrannten, um ihre Pferde zu versorgen. Auf Befehl der Aes Sedai nahmen ein paar der Stallburschen die Trage herunter und stellten sie vorsichtig ab. Während die Pferde zum Stall geführt wurden, nahm Verin den Ledersack von Mats Füßen und klemmte ihn sich achtlos unter den Arm.

Nynaeve blieb stehen, rieb sich den Rücken und sah die Aes Sedai mit gerunzelter Stirn an. »Ihr habt gesagt, er habe vielleicht nur noch Stunden zu leben. Wollt Ihr jetzt bloß... «

Verin hob eine Hand, aber Egwene wußte nicht, ob sie damit Nynaeve am Sprechen hindern oder sie auf das Knirschen von Schritten auf dem Kiesweg aufmerksam machen wollte.

Einen Augenblick später erschien Sheriam Sedai, gefolgt von drei Aufgenommenen, die am Saum ihrer weißen Kleider die Farben aller Ajahs trugen — von Blau bis Rot —, und zwei kräftigen Männern in grober Arbeitskleidung. Die Herrin über alle Novizinnen war eine etwas rundliche Frau mit den für Saldaea typischen hohen Backenknochen. Flammend rotes Haar und klare, grüne Mandelaugen strichen ihre glatten Aes-Sedai-Gesichtszüge heraus. Sie musterte Egwene und die anderen gelassen, aber ihre Mundpartie war angespannt.

»Also habt Ihr unsere drei Ausreißerinnen zurückgebracht, Verin. Im Licht all der Geschehnisse wünschte ich beinahe, Ihr hättet sie nicht hergebracht.«

»Wir haben nicht...«, begann Egwene, doch Verin unterbrach sie mit einem scharfen: »SCHWEIG STILL!« Verin sah sie an — alle drei —, als könne die Intensität ihres Blicks ihre Münder verschließen.

Auf Egwene verfehlte dieser Blick seine Wirkung nicht. Sie hatte Verin noch niemals wütend erlebt. Nynaeve verschränkte die Arme auf der Brust und knurrte etwas in sich hinein, sagte dann aber doch nichts. Natürlich schwiegen auch die drei Aufgenommenen hinter Sheriam, aber Egwene konnte beinahe ihre Ohren wachsen sehen, so angestrengt lauschten sie.

Als sie sicher war, daß Egwene und die anderen begriffen hatten, wandte sich Verin wieder Sheriam zu. »Der Junge muß irgendwohin gebracht und isoliert werden. Er ist krank, und die Krankheit ist äußerst gefährlich. Gefährlich für andere, genau wie für ihn selbst.«

»Man sagte mir, daß eine Trage fortgebracht werden müsse.« Sheriam winkte die beiden Männer heran, sagte leise etwas zu dem einen, und im Handumdrehen war Mat weggebracht.

Egwene öffnete den Mund, um zu sagen, daß er jetzt sofort Hilfe benötige, aber als Verin sie blitzschnell zornig anfunkelte, schloß sie ihn wieder. Nynaeve zog so an ihrem Zopf, als wolle sie ihn ausreißen.

»Ich schätze«, sagte Verin, »die ganze Burg weiß mittlerweile, daß wir zurückgekehrt sind?«

»Die es noch nicht wissen«, erwiderte Sheriam, »erfahren es in Kürze. Das Kommen und Gehen einiger ist zum Gesprächsthema Nummer eins geworden. Sogar schon vor Falme und lange vor dem Krieg in Cairhien. Wolltet Ihr es geheimhalten?«

Verin packte den Ledersack mit beiden Händen. »Ich muß die Amyrlin sehen. Sofort.«

»Und was ist mit diesen dreien?«

Verin betrachtete Egwene und deren Freundinnen mit gerunzelter Stirn. »Sie müssen streng abgeschirmt werden, bis die Amyrlin sie zu sehen wünscht. Falls sie es wünscht. Strengstens abgeschirmt, versteht Ihr? In ihren eigenen Zimmern meinetwegen. Zellen sind überflüssig. Kein Wort darüber zu irgend jemand.«

Verin sprach wohl immer noch Sheriam an, doch Egwene wußte, das letzte hatte auch ihr und den anderen gegolten. Nynaeves Augenbrauen hingen nach unten, und sie riß nun an ihrem Zopf, als müsse sie ihn für etwas bestrafen. Elaynes blaue Augen waren weit aufgerissen, und ihr Gesicht wirkte noch blasser als sonst. Egwene war sich ihrer eigenen Gefühle nicht ganz sicher: Zorn oder Angst oder Sorge... Es war wohl ein Gemisch von allen dreien.

Nach einem letzten forschenden Blick auf ihre drei Begleiterinnen eilte Verin fort. Sie preßte den Sack an ihre Brust. Ihr Umhang flatterte hinter ihr her. Sheriam stützte die Fäuste in die Hüften und musterte Egwene und die anderen beiden. Einen Augenblick lang empfand Egwene so etwas wie ein Nachlassen der Anspannung. Die Oberin der Novizinnen hielt ihr Temperament stets im Zaum und bewahrte sich einen Sinn für Humor, selbst wenn sie jemandem Extraarbeiten aufbrummte, weil sie irgendwelche Regeln übertreten hatte.

Aber Sheriams Stimme klang todernst, als sie die drei ansprach: »Kein Wort, hat Verin Sedai gesagt, und dabei wird es bleiben. Falls eine von euch spricht — außer natürlich, um einer Aes Sedai zu antworten —, werde ich dafür sorgen, daß ihr euch wünscht, ihr hättet nur die Rute und ein paar Stunden Fußbodenschrubben vor euch. Versteht ihr mich?«

»Ja, Aes Sedai«, sagte Egwene, und sie hörte, wie die anderen es ihr nachsagten. Bei Nynaeve allerdings klang es wie eine Herausforderung.

Sheriam gab einen angewiderten Laut von sich. »Heute kommen weniger Mädchen als früher zur Ausbildung in die Burg, aber es kommen immer noch welche. Die meisten gehen wieder, ohne gelernt zu haben, wie man die Wahre Quelle wahrnimmt, und schon gar nicht, wie man sie berührt. Ein paar davon lernen wenigstens genug, um sich nicht selbst in Gefahr zu bringen, bevor sie wieder gehen. Nur eine Handvoll kann es anstreben, zu Aufgenommenen erhoben zu werden, und noch weniger, die Stola zu tragen. Es ist ein schweres Leben, das viel Disziplin erfordert, und doch bemüht sich jede Novizin, daran festzuhalten, um Ring und Stola zu erreichen. Und wenn sie auch so verängstigt sind, daß sie sich jeden Abend in den Schlaf weinen, klammern sie sich daran. Und ihr drei, die ihr größere Fähigkeiten besitzt, als ich je in meinem Leben zu finden hoffte, verlaßt die Burg ohne Erlaubnis, rennt noch nicht einmal halb ausgebildet weg, wie verantwortungslose Kinder, und bleibt monatelang fort. Und nun reitet ihr zurück, als ob nichts geschehen sei, als könntet ihr morgen mit eurer Ausbildung weitermachen wie zuvor.« Sie atmete so langgezogen aus, als müsse sie eine Explosion verhindern. »Faolain!«

Die drei Aufgenommenen zuckten zusammen, als habe man sie beim Lauschen ertappt, und eine von ihnen, mit einem dunklen Lockenkopf, trat vor. Sie waren alle noch junge Frauen, doch immerhin älter als Nynaeve. Daß Nynaeve so schnell zu den Aufgenommenen erhoben wurde, war schon erstaunlich gewesen. Normalerweise dauerte es Jahre, bis eine Novizin den Ring der großen Schlange bekam, den die Aufgenommenen trugen, und dann dauerte es wiederum Jahre, bis sie überhaupt hoffen konnten, zur Aes Sedai gemacht zu werden.

»Bringt sie in ihre Zimmer«, befahl Sheriam, »und sorgt dafür, daß sie dort bleiben. Sie können Brot bekommen und kalte Suppe und Wasser, bis die Amyrlin anderes anordnet. Und wenn eine von ihnen auch nur ein Wort sagt, bringt ihr sie in die Küche und laßt sie Töpfe auskratzen.« Sie wirbelte herum und stolzierte weg. Selbst ihr steifer Rücken drückte noch Zorn aus.

Faolain betrachtete Egwene und die anderen beinahe hoffnungsvoll, besonders Nynaeve, der die Wut auf das Gesicht geschrieben stand. Faolains rundes Gesicht zeigte, daß sie keine Sympathie für diejenigen empfand, die alle Vorschriften mißachteten, und am allerwenigsten für eine wie Nynaeve, eine Wilde, die ihren Ring erhalten hatte, ohne jemals Novizin gewesen zu sein, und die die Macht gebraucht hatte, bevor sie Tar Valon betrat. Als es schließlich offensichtlich war, daß Nynaeve nicht daran dachte, ihrer Wut freien Lauf zu lassen, zuckte Faolain die Achseln. »Wenn die Amyrlin nach Euch schickt, werdet Ihr wahrscheinlich einer Dämpfung unterzogen.«

»Überlaßt sie mir, Faolain«, sagte eine andere der Aufgenommenen. Es war die älteste der drei. Sie hatte einen langen Hals und kupferfarbene Haut und bewegte sich auffallend graziös. »Ich bringe Euch hin«, sagte sie zu Nynaeve. »Ich heiße Theodrin und war auch eine Wilde. Ich werde mich an Sheriam Sedais Befehl halten, aber Euch nicht provozieren. Kommt.«

Nynaeve warf Egwene und Elayne einen besorgten Blick zu, seufzte dann und ließ sich von Theodrin wegführen.

»Wilde«, knurrte Faolain. Bei ihr klang das wie ein Fluch. Sie drehte sich um und starrte Egwene an.

Die dritte Aufgenommene, eine hübsche junge Frau mit roten Wangen, stellte sich neben Elayne. Ihre Mundwinkel waren leicht hochgezogen, als lächle sie gern, doch der strenge Blick, den sie Elayne zuwarf, sagte klar aus, daß sie keinen Unsinn zulassen werde.

Egwene erwiderte Faolains Blick so ruhig wie möglich und mit der gleichen überlegenen Verachtung, so hoffte sie jedenfalls, wie Elayne das so gut konnte. Rote Ajah, dachte sie. Die wird sich garantiert den Roten anschließen. Aber es gelang ihr nicht, sich lange von den eigenen Sorgen abzulenken. Licht, was werden sie mit uns machen? Sie meinte damit die Aes Sedai, die Burg, und nicht diese drei Frauen.

»Also dann kommt mit«, fauchte Faolain. »Es ist schon schlimm genug, daß ich an Eurer Tür Wache halten soll. Dann müssen wir nicht auch noch den ganzen Tag hier herumstehen. Los schon!«

Egwene atmete tief durch, ergriff Elaynes Hand und folgte. Licht, laß sie nur Mat heilen!


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