9


Was ihn am meisten erstaunte, war der Umstand, daß er sich an keine Schmerzen erinnerte. Er hatte einen grellen Blitz wahrgenommen und ein ungeheures Dröhnen und Bersten, und er hatte wie in Zeitlupe gesehen, wie die schwere Stahltür vor ihm auseinandergerissen wurde und die Splitter seinen Anzug durchbohrten.

Aber keine Schmerzen hatte er gespürt, auch kein Entsetzen, obwohl er in diesem Moment mit unerschütterlicher Sicherheit davon überzeugt gewesen war, zu sterben.

Stone war nicht gestorben, und doch erinnerte er sich an das Gefühl, aus seinem Körper herausgelöst worden zu sein und durch einen langen, finsteren Tunnel zu gleiten, einen Schacht, an dessen Ende ein gleißendes, unsagbar schönes Licht wartete. Aber dann hatte etwas ihn zurückgeholt. Er erinnerte sich nicht, wie er wieder an Bord des Gleiters gekommen war. Seine nächste Wahrnehmung war das starre Gesicht Luzifers gewesen, das sich über ihn beugte, und dünne, lange Nadeln hatten sich in seinen Körper gebohrt.

Danach war er in eine tiefe Bewußtlosigkeit gefallen, in der ihn Alpträume und sinnlose, schreckliche Visionen geplagt hatten.

Er spürte, daß er nicht allein war. Eine hochgewachsene, schlanke Ameisengestalt stand neben seiner Liege und hantierte mit vier Armen an den Schaltern eines kompliziert aussehenden Gerätes, das neben seinem Bett aufgestellt war. Eine Unzahl dünner Drähte und Schläuche war mit seinem Körper verbunden.

Luzifer bemerkte, daß Stone erwacht war, und wandte den Kopf. Für einen Moment bildete sich Stone ein, ein schadenfrohes Glitzern in seinen faustgroßen Facettenaugen zu erkennen.

»Was ist passiert?« fragte er. Er erschrak, als er den Klang seiner eigenen Stimme hörte. Viel mehr als alles andere verriet er ihm, wie es um ihn stand.

»Versuchen Sie nicht, sich zu bewegen«, antwortete Luzifer. »Reden Sie nicht. Sie sind sehr schwer verwundet worden.«

»Das weiß ich«, murmelte Stone. »Was war los? Was...«

»Eine Falle«, sagte Luzifer.

»Eine Falle?« wiederholte Stone stöhnend. »Ihr Idioten! Wozu habt ihr all eure Wundermaschinen? Könnt ihr nicht einmal eine ferngelenkte Bombe aufspüren?«

»Das können wir«, antwortete Luzifer ungerührt. »Der Sprengkörper wurde nicht ferngezündet. Sie ließen einen ihrer Männer zurück, der ihn von Hand auslöste.«

Stone schloß mit einem neuerlichen Stöhnen die Augen. Für einen Moment wußte er nicht, was schlimmer war - der Zorn über das, was geschehen war, oder das Entsetzen über die Vorstellung, daß sich einer dieser Narren selbst in die Luft gejagt hatte, nur um ein paar Ameisen mitzunehmen.

»Wie schlimm ... ist es?« fragte er mühsam.

»Sehr schlimm«, antwortete Luzifer, im kalten, seelenlosen Tonfall einer Maschine.

»Ihr Körper wurde irreparabel geschädigt.«

Es dauerte eine Sekunde, bis Stone begriff, was sein Adjutant meinte. Erschrocken riß er die Augen auf und starrte die riesige Ameise an. »Irreparabel...?«

»Es besteht kein Grund zur Sorge«, beruhigte ihn Luzifer. »Wir befinden uns bereits auf dem Rückflug nach New York. Die Ausrüstung an Bord dieses Schiffes reicht, die notwendigen Lebensfunktionen Ihres Körpers bis dorthin aufrechtzuerhalten.«

»Heißt das, daß ich ... verkrüppelt bin?« fragte Stone entsetzt.

Luzifer antwortete in seiner ausdruckslosen Maschinensprache: »Nein. Die Schäden sind nicht zu beheben. Sie bekommen einen neuen Körper.«

Es dauerte ein paar Momente, bis Stone begriff, was er da gehört hatte. Voller ungläubigem Entsetzen starrte er die Ameise an. »Einen neuen Körper...«

Er hatte davon gehört, daß es den Invasoren möglich war, einen Körper nach einer beliebigen Vorlage wieder aufzubauen. Doch die Maschine, deren Wirkungsweise er selbst einmal mit eigenen Augen beobachtet hatte, begnügte sich nicht damit, ein perfektes Duplikat eines Körper herzustellen. Sie transferierte die gesamte Persönlichkeit, das Bewußtsein und jede Erinnerung in den neuen Körper.

Und das bedeutete, dachte Stone entsetzt, daß sie seine Gedanken kennen würden. Alles, was er jemals gefühlt und gedacht, alles, was er jemals gesagt und getan hatte.

Und das wiederum bedeutete, daß sie erfahren würden, daß er sie verraten hatte.


*


Das Lager der Barbaren lag am Ufer eines breiten, ruhig dahinfließenden Flusses. Hier und da ragte noch ein Mauerrest aus den glitzernden Fluten, die im bleichen Sternenlicht wie ein Spiegel aus schwarzem Teer wirkten; da und dort waren noch die Reste einer Uferbefestigung zu sehen, aber zumeist wurde das Flußufer nur von wucherndem Grün beherrscht.

Dabei war das Ufer keineswegs unbewohnt. Schon während des zweistündigen Marsches waren immer mehr Männer und Frauen zu ihnen gestoßen, so daß die Zahl ihrer Begleiter noch weiter angewachsen war. Und was jetzt vor ihnen lag, war eine Stadt, auch wenn man schon sehr genau hinsehen mußte, um sie zu erkennen. Die Barbaren schienen zum allergrößten Teil unter der Erde zu leben - Charity erkannte nur einige wenige, aus Laub und Zweigen provisorisch errichtete Hütten, dafür aber eine große Anzahl sorgsam getarnter Löcher im Boden.

Sie wurden zu einem dieser Einstiege geleitet, hinter denen sie das fanden, was Charity erwartet hatte: den Keller des Gebäudes, das früher einmal hier gestanden hatte. Es war ein riesiger, rechteckiger Raum, der von Hunderten von Fackeln erleuchtet wurde.

Charity blieb unwillkürlich stehen, als sie den Fuß der Treppe erreichten. Sie sah, wie Hartmann und die beiden anderen erschrocken zusammenfuhren und nach ihren Waffen griffen. Doch führten sie ihre Bewegung nicht zu Ende. Zu ihrer aller Überraschung waren sie nicht entwaffnet worden, aber sowohl der Hopi als auch Kyle schienen einzusehen, wie wenig ihnen ihre Waffen gegen die erdrückende Übermacht nützen würde, der sie sich gegenübersahen.

In dem gewaltigen Kellergewölbe hielten sich Hunderte von Eingeborenen auf: Männer, Frauen, Kinder und Alte, die in kleinen Gruppen an brennenden Lagerfeuern saßen, auf Bündeln aus Lumpen und Laub lagen und schliefen oder redeten und aßen, oder auch Dinge taten, deren Bedeutung Charity verborgen blieb. Während sie quer durch den riesigen, unterirdischen Saal geführt wurden, hob sich dann und wann ein Gesicht und warf ihnen einen desinteressierten, flüchtigen Blick zu, und einmal folgten ihnen zwei Kinder einige Schritte weit, bis ihre Begleiter sie mit herrischen Gesten vertrieben.

Die Situation kam Charity immer unwirklicher vor. Die Vorstellung, daß niemand von ihrer Gefangennahme auch nur Notiz nehmen sollte, ergab einfach keinen Sinn.

Sie wurden in einen kleinen, türlosen Raum auf der Rückseite des Kellers gebracht, wo ihnen Jared wortlos, aber sehr gestenreich bedeutete, daß sie hier zu warten hätten. Zu Charitys Überraschung blieben weder er noch einer seiner Begleiter bei ihnen zurück.

Als die Barbaren verschwunden waren, stürzte Hartmann auf sie zu. »Bravo, Captain Laird!« sagte er scharf. »Das war wirklich eine strategische Meisterleistung. Ich beginne allmählich zu begreifen, wie die USA den Krieg gegen die Invasoren verlieren konnten!«

Charity wollte antworten, aber Kyle kam ihr zuvor. »Immerhin sind Sie noch am Leben, oder?«

Hartmann maß ihn mit einem Blick, in dem sich Zorn und Verachtung mischten.

»Ja«, sagte er gepreßt. »Die Frage ist nur, ob wir uns darüber freuen sollen.«

»Was ist los mit Ihnen, Hartmann?« fragte Charity ruhig. »Bisher haben sie uns nichts getan.«

»Sie sagen es!« grollte Hartmann. »Bisher!«

»Was soll denn das?« mischte sich Net ein. »Hassen Sie diese Menschen so sehr - oder haben Sie einfach nur Angst?«

Hartmann bedachte sie mit einem Blick, als wäre er sich nicht schlüssig, ob die Wasteländerin es überhaupt wert sei, eine Antwort zu erhalten. »Ja«, gestand er. »Ich habe Angst.«

»Bisher haben sie uns nichts getan«, sagte Skudder.

»Freuen Sie sich bloß nicht zu früh«, antwortete Hartmann. »Wir wären nicht die ersten, die von den Dreckfressern getötet werden würden.«

»Warum nennen Sie sie so?« fragte Skudder. »Dreckfresser?«

»Weil sie nichts anderes sind!« erwiderte Hartmann haßerfüllt. »Schauen Sie sich doch um!« Er machte eine zornige Geste in den angrenzenden Kellerraum hinaus. »Sie leben wie die Tiere!«

»Vielleicht leben sie einfach nur anders«, sagte Charity. Sie war wieder zur Tür zurückgegangen, hatte den Raum aber nicht verlassen, sondern sich gegen den Rahmen gelehnt und blickte nachdenklich hinaus.

Was sie sah, kam ihr immer verwirrender vor. Auf den ersten Blick schien die Ansammlung zerlumpter, schmutzstarrender Gestalten in dem gewaltigen Geviert aus Beton Hartmanns Worte zu bestätigen; hier und da gewahrte sie zwar Aktivität, aber die meisten saßen einfach nur reglos da und starrten dumpf ins Leere. Sie mußte wieder an Jared denken und den sonderbaren Ausdruck in seinen Augen; eine Leere, die vielleicht nur der Ausdruck eines völlig anderen, fremdartigen Denkens war. Vielleicht, dachte sie, hatte Hartmann sogar Recht - wenn auch auf vollkommen andere Art und Weise, als er selbst ahnte. Diese Männer und Frauen hier mochten die Nachkommen derer sein, die die Verheerung vor einem halben Jahrhundert irgendwie überlebt hatten. Es war schwer, unter all dem Schmutz und dem langen, verfilzten Haar und den Lumpen Einzelheiten zu erkennen, aber Charity glaubte zumindest zu sehen, daß viele der Gestalten verkrüppelt waren. Manche bewegten sich sonderbar falsch und umständlich, andere hatten Buckel oder unterschiedlich lange Gliedmaßen. Charity sah eine junge Frau, deren Gesicht fast zur Gänze unter einem grauschwarzen, wucherndem Gewächs verschwunden war, und eine andere, die keine Beine hatte, sich aber sehr geschickt und schnell auf Fäusten und Kniestümpfen bewegte.

Charity wandte sich zu Hartmann um und wiederholte die Frage, die Net vor einer Minute gestellt hatte: »Warum hassen Sie sie so, Hartmann?«

Statt sie anzufahren, wie sie es fast erwartet hatte, sah Hartmann sie nur müde an.

»Das tue ich gar nicht«, sagte er. »Vielleicht fürchte ich sie. Wir alle fürchten sie.«

»Diese harmlosen Wilden?« Kyle machte eine unbestimmte Geste auf die Wilden draußen. »Sie wollen mir doch nicht im Ernst erzählen, daß diese Menschen eine Gefahr für Sie darstellen?«

»Doch«, antwortete Hartmann ernst. »Ich weiß, daß sie einen anderen Eindruck erwecken - aber sie sind gefährlich. Sie haben mehrere von unseren Horchstationen überfallen. In der Basis ist kaum jemand, der nicht einen Freund oder einen Verwandten durch sie verloren hätte.«

»Aber es sind Wilde!« widersprach Skudder. »Sie haben nicht einmal Waffen. Mit ihren Keulen und Speeren...«

»Sie haben doch erlebt«, unterbrach ihn Hartmann, »was sie mit unserem Wagen gemacht haben. Unterschätzen Sie sie nicht. Ich kämpfe seit fünfzig Jahren gegen sie, und ich weiß bis heute nicht, wer diesen Krieg gewinnen wird.«

»Fünfzig Jahre?« Net sah den Leutnant mit unübersehbarem Spott an. »Aber Sie sind doch kein Jahr älter als vierzig.«

»Ich bin zweiundvierzig«, sagte Hartmann mit einem flüchtigen Lächeln.

»Sie haben einen Schlaftank«, vermutete Gurk.

Hartmann nickte. »Wir besetzen die Außenstationen immer im Wechsel - neun Jahre Schlaf, ein Jahr Wache. Und das ist schon fast mehr, als man aushallen kann.«

Net und auch Skudder blickten Hartmann und seine beiden Begleiter überrascht an, aber Charity empfand nur eine leise Verwunderung, daß sie nicht selbst darauf gekommen war. Die Selbstverständlichkeit, mit der Hartmann über ihren eigenen Aufenthalt im Schlaftank geredet hatte, hätte ihr sagen müssen, was hier wirklich vorging. Schließlich hatte sie gewußt, daß die USA kein Patent auf die Technik des künstlichen Winterschlafs gehabt hatten.

Und trotzdem sah sie Hartmann und die beiden anderen plötzlich mit ganz anderen Augen. Mit einem Mal verstand sie die Feindseligkeit und Verbitterung der drei Männer. Sie hieß sie nicht gut, aber sie begriff, was in ihnen vorging. Es waren die gleichen Gefühle, die auch sie kurz nach ihrem Erwachen gehabt hatte. Diese drei Männer kannten diesen Planeten, wie er vorher gewesen war. Sie kannten diese Stadt, bevor sie zerstört und in eine Hölle verwandelt worden war, sie kannten vielleicht jede einzelne Straße, jedes einzelne Gebäude dort draußen, und für sie mußte dieser Anblick ungleich erschreckender sein als für die anderen. Aber das Gefühl von Verständnis, mit dem Charity dieser Gedanke erfüllte, währte nur Augenblicke; dann machte es Zorn Platz.

»Ihr seid nicht allein, nicht wahr?« sagte sie. »Ich meine, irgendwo dort draußen gibt es wahrscheinlich eine ganze Bunkerfestung. Und ihr sitzt seit fünfzig Jahren dort, ausgerüstet mit allem, was ihr braucht, und bewaffnet bis an die Zähne und habt nichts anderes getan, als die Hände in den Schoß zu legen und zuzusehen, wie sie diesen Planeten Stück für Stück verändern.«

»Das ist nicht ganz richtig«, antwortete Hartmann ruhig.

»Oh, natürlich nicht!« sagte Charity spöttisch. »Wahrscheinlich habt ihr euch die Zeit damit vertrieben, gelegentlich Jagd auf diese armen Kerle da draußen zu machen.«

»Irrtum, Schätzchen«, sagte Lehmann böse. »Es ist umgekehrt: Die armen Kerle dort draußen machen Jagd auf uns.«

Charity funkelte den Soldaten wütend an, verbiß sich aber die scharfe Antwort, die ihr auf der Zunge lag. Sie spürte, daß sie die Kontrolle über sich verlieren würde, wenn sie auch nur ein weiteres Wort sagte. Außerdem wußte sie einfach zu wenig über die Situation hier, um sich wirklich ein Urteil erlauben zu können. Ohne Hartmann und seine beiden Begleiter noch eines weiteren Blickes zu würdigen, wandte sie sich mit einem Ruck von der Tür ab und ging zu Helen und Net hinüber, die sich um den verwundeten Techniker kümmerten.

Kyle hatte den Mann auf eines der Lumpenbündel gebettet, die überall auf dem Boden herumlagen. Er war ohne Bewußtsein, bewegte sich aber unruhig und redete im Fieber. Charity verstand nicht, was er sagte, denn anders als Hartmann und die beiden Soldaten sprach er nicht Englisch, sondern Deutsch, von dem sie nur einige Brocken verstand. Besorgt musterte sie das bleiche, schweißglänzende Gesicht des Mannes einen Moment und wandte sich dann mit einem fragenden Blick an Net. Die Wasteländerin sah sie einen Moment lang ernst an und schüttelte dann fast unmerklich den Kopf. Charity spürte erneut eine Woge heißen, hilflosen Zorns in sich aufsteigen. Es war ungerecht, daß dieser Mann, der ihnen vermutlich allen das Leben gerettet hatte, indem er zurückblieb, um den Tunnel zu sprengen, jetzt mit seinem eigenen Leben dafür bezahlen sollte.

Mehr aus bloßer Verzweiflung denn aus der wirklichen Hoffnung heraus, daß er wirklich etwas tun könne, drehte sie sich herum und winkte Gurk heran. Im ersten Moment ignorierte der Zwerg ihre Geste. Seit sie auf die Barbaren gestoßen waren, hatte er kein einziges Wort mehr gesagt, aber sein Verhalten hatte sich geändert. Gurk gefiel sich normalerweise darin, den Giftzwerg zu spielen, aber niemand nahm seine aufgesetzte Feindseligkeit wirklich ernst. Doch der Zorn, den sie jetzt in Abn El Gurks pupillenlosen, dunklen Augen las, war echt. Sie hatte fast das Gefühl, daß er ihr und den anderen die Schuld an ihrer mißlichen Lage gab.

»Was willst du?« fragte Gurk, nachdem er sich endlich bequemt hatte, näher zu kommen.

Charity stand auf und deutete gleichzeitig mit einer Geste auf den Bewußtlosen. »Kannst du irgend etwas für ihn tun?«

»Ja«, knurrte Gurk, »ihm die Kehle durchschneiden. Dann leidet er wenigstens nicht länger.«

»Ich meine es ernst«, antwortete Charity ruhig. »Hilf ihm.«

»Und wie?« Gurk verzog das Gesicht zu einer Grimasse, ließ sich aber trotzdem neben dem verletzten Techniker auf die Knie sinken und tastete mit seinen dürren, greisen Fingern über sein Gesicht und seine Schläfen. »Was erwartest du von mir? Ich bin weder Medizinmann noch Zauberer. Der Mann stirbt.«

»Vielleicht ist es das beste für ihn.«

Obwohl Charity wußte, wie Hartmanns Worte gemeint waren, drehte sie sich herum und blickte den Leutnant wütend an. »Halten Sie den Mund!« schnappte sie.

»Warum?« erwiderte Hartmann kühl. »Der Knirps hat recht. Der Mann stirbt. Und wahrscheinlich leichter und schmerzloser als wir.«

Charity setzte zu einer wütenden Antwort an, aber der Ausdruck in Hartmanns Gesicht überzeugte sie davon, wie sinnlos jedes weitere Wort war. Statt mit ihm zu streiten, wie sie es vorgehabt hatte, drehte sie sich demonstrativ weg und ging zu ihrem Beobachtungsposten an der Tür zurück.

Kurz bevor sie ihn erreichte, stieß sie beinahe mit Jared zusammen, der in Begleitung zweier Eingeborener zurückgekommen war. Einer von ihnen war ein Mann, dessen Alter unter dem wuchernden Bart und dem verfilzten, schulterlangen Haar unmöglich zu schätzen war, die zweite Gestalt war kleiner und schlanker und hatte blondes, langes Haar, es war ein Mädchen. Charity schätzte ihr Alter auf acht oder neun Jahre. Das zerfetzte Kleid, das das Mädchen trug, war über der rechten Schulter zerrissen. Und unter dem Stoff lugte etwas hervor, das auf den ersten Blick wie ein Buckel aussah. Doch in Wahrheit war es ein Wesen mit Chitinhaut und acht oder zehn Augen, die sich in einem verwirrenden Rhythmus und ununterbrochen öffneten und schlössen. Eine Unzahl von Tentakeln schien sich tief in die Haut des Kindes eingegraben zu haben.

»Großer Gott!« stöhnte Skudder. »Was ist...«

Charity brachte ihn mit einer raschen Handbewegung zum Verstummen. Jared und der andere Mann hatten ihr Erschrecken nicht bemerkt - aber das Mädchen sah beim Klang von Skudders Stimme auf und musterte den riesenhaften Hopi-Indianer aus wachen, durchdringenden Augen. Und Charity wußte, daß es jedes Wort verstand.

Mit aller Kraft unterdrückte sie den Widerwillen, mit dem der schreckliche Anblick sie erfüllte, und zwang sich zu einem Lächeln. Obwohl das Mädchen sie nicht ansah, lächelte es plötzlich ebenfalls - und der Blick der gräßlichen Kreatur auf ihrer Schulter richtete sich plötzlich auf Charitys Gesicht.

Es war nicht der Blick einer gehirnlosen Kreatur, es waren Insektenaugen: kalte, funkelnde Facetten, in denen das Leben aufblitzte, das sie in den Augen Jareds und der anderen vermißt hatte.

Nur mühsam gelang es Charity, ihren Blick von den Spinnenaugen zu lösen. Das Kind blickte immer noch mit schräg in den Nacken gelegtem Kopf zu Skudder, drehte sich jetzt aber zu ihr herum und lächelte. Charity erwiderte dieses Lächeln, und schließlich überwandt sie ihren Ekel so weit, daß sie einen weiteren Schritt auf das Mädchen zutreten und die Hand nach ihm ausstrecken konnte. Der glitzernde Hornball auf der Schulter des Kindes zuckte und bebte, und eine Sekunde lang mußte Charity mit aller Gewalt gegen die furchtbare Vorstellung ankämpfen, es könne sich vom Körper des Kindes lösen und mit einem Satz auf ihre Hand springen. Doch da hob das Kind die Hand und berührte flüchtig Charitys Finger.

Es war ein Gefühl, das sie nicht in Worte fassen konnte; ähnlich wie damals im Sternenschiff, als sie die Gegenwart von etwas Fremdartigen gespürt hatte. Und doch war es gleichzeitig vollkommen anders, denn damals hatte sie Gefahr gespürt, eine körperlose, unsagbare Bedrohung, jetzt fühlte sie von alledem nichts. Was immer sie spürte, es war fremd, unsagbar fremd und anders.

Aber nicht feindselig. Das Mädchen blickte sie noch eine Sekunde lang mit dem gleichen, sonderbaren Lächeln an, dann drehte es sich herum und ging langsam durch den Raum zu Net, Helen und Gurk, die noch immer neben dem Verletzten knieten. Nets Augen weiteten sich entsetzt, als nun auch sie sah, was auf der Schulter des Kindes hockte. Und ihre Hand senkte sich ganz automatisch zu der Waffe in ihrem Gürtel. Aber noch bevor Charity sie zurückhalten konnte, hob Gurk erschrocken den Arm und machte eine abwehrende Bewegung.

»Was soll das?« fragte Hartmann. Er machte einen hastigen Schritt, als wolle er dem Mädchen den Weg vertreten, und blieb wieder stehen, als Charity hastig den Kopf schüttelte.

»Lassen Sie sie«, sagte sie leise.

Hartmann runzelte die Stirn, trat aber zu Charitys Überraschung gehorsam zurück, und auch Net und Helen erhoben sich, um dem Kind Platz zu machen. Gurk blieb reglos stehen, verfolgte jedoch jede Bewegung des Mädchens aus mißtrauischen, wachen Augen.

Das Kind kniete langsam neben dem Verletzten nieder, blickte fast eine Minute lang reglos auf sein Gesicht herab und streckte dann langsam die Hände aus. Hartmann sog scharf die Luft ein, sagte aber nichts.

Die Finger des Mädchens glitten langsam über das Gesicht des Technikers, tasteten über seine Wangen, seine Lippen, seine Nase und seine geschlossenen Augen, zeichneten Kreise und komplizierte, ineinanderfließende Muster auf seine Stirn und seine Schläfen. Weder Charity noch einer der anderen konnte erkennen, was es wirklich tat - aber nach einer Weile beruhigte sich der rasselnde Atem des Verletzten.

»Was tut sie?« fragte Charity. Unwillkürlich hatte sie ihre Stimme zu einem Flüstern gesenkt.

Ebenso leise antwortete Jared: »Euer Freund ... ist ... sehr krank.«

»Ich weiß«, antwortete Charity. »Er wird sterben.«

»Nein«, sagte Jared. »Er kann ... leben.«

Nicht nur Charity wandte sich verblüfft zu Jared um und sah ihn an. Wie bei ihrem ersten Zusammentreffen sprach Jared langsam und mit großen Pausen zwischen den einzelnen Worten. Aber jetzt erst fiel Charity auf, daß er englisch gesprochen hatte - in ihrer Muttersprache, die er eigentlich gar nicht beherrschen durfte.

»Wie meinst du das?« fragte sie verblüfft.

»Wenn ihr ... wollt«, antwortete Jared langsam, »dann ... lebt er ... weiter. Aber nicht als ... Blinder.«

»Als Blinder?« wiederholte Charity verwirrt. »Was...«

»Wir können ... ihn ... retten«, unterbrach sie Jared. »Er wird ... Jared. Als Blinder ... stirbt er.«

Nun verstand Charity überhaupt nichts mehr. Und ein rascher Blick in Hartmanns Gesicht zeigte ihr, daß es dem Deutschen nicht anders erging. Aber während sie einfach nur Verwirrung empfand, verdunkelte sich Hartmanns Gesicht vor Zorn und Mißtrauen. Rasch, ehe der Leutnant etwas sagen oder tun konnte, fuhr sie fort: »Ich fürchte, ich verstehe nicht. Wieso wird er zu dir?«

Jared schüttelte den Kopf. In einer übertrieben pantomimischen Geste hob er die Hand, spreizte die Finger und legte sie auf seine Brust.

»Ich bin ... Gyell«, sagte er. »Wir sind... Jared.«

Damit vollführte er mit der anderen Hand eine kreisende Bewegung, und endlich verstand Charity.

»Euer Volk nennt sich Jared«, vermutete sie. »Und wir sind die Blinden.«

Gyell nickte und schüttelte fast in der gleichen Bewegung den Kopf. Mit einem Lächeln, das bei der sonderbaren Leere seines Blickes eher erschreckend als beruhigend wirkte, deutete er auf Hartmann und seine beiden Begleiter. »Sie sind ... blind«, sagte er. »Ihr nicht.«

»Und ihr ... könnt diesen Mann retten?« fragte Charity zögernd. »Wenn ihr ihn zu einem der euren macht?«

»Er wird ... sehen«, bestätigte Gyell.

»Einen Moment!« sagte Hartmann scharf. Mit einem zornigen Schritt trat er neben Charity und machte eine herrische Handbewegung auf das Mädchen und den verwundeten Techniker.

»Ich werde ganz bestimmt nicht zulassen, daß ihr ihn zu einer ... Kreatur wie euch macht!«

Gyells leere Augen wandten sich Hartmann zu und musterten ihn auf eine Art, die Charity schaudern ließ. »Dann ... stirbt ... er«, sagte er ruhig.

»Das ist immer noch besser, als...«

»Halten Sie endlich den Mund, Hartmann!« unterbrach ihn Charity scharf. »Wollen Sie, daß der Mann stirbt?«

»Wollen Sie, daß er so wird wie diese...« Er suchte sichtlich nach Worten. »Diese Tiere!« stieß er schließlich hervor.

»Sie sind ein Narr, Hartmann«, sagte Kyle ruhig. »Ich weiß nicht, wer oder was diese Jared sind - aber sie sind ganz bestimmt keine Tiere. Selbst Sie sollten das mittlerweile erkannt haben.«

Hartmanns Gesicht färbte sich allmählich dunkelrot. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, und eine Sekunde lang sah es so aus, als wolle er sich einfach auf den Megamann stürzen. Dann schürzte er trotzig die Lippen. »Ich verbiete es!« sagte er. »Dieser Mann untersteht meinem Befehl. Niemand wird ihn anrühren, solange ich es nicht ausdrücklich erlaube.«

»Ich glaube nicht«, sagte Charity ruhig, »daß Sie oder ich hier irgend etwas zu befehlen haben, Leutnant Hartmann.«

Hartmann antwortete nicht darauf, aber sie sah, wie Lehmann und nach kurzem Zögern auch Felss sich von ihren Plätzen lösten und neben den verletzten Techniker und das Mädchen traten. Felss wirkte unschlüssig und wich ihrem Blick aus, aber auf Lehmanns Gesicht lag ein grimmiger Ausdruck.

Charity musterte die beiden Soldaten eine Sekunde lang, dann drehte sie sich wieder zu Gyell herum, wobei sie Kyle und Skudder einen raschen Blick zuwarf. Die beiden verstanden und näherten sich dem Verletzten und dem Mädchen. Lehmanns Hand sank auf den Kolben der Pistole in seinem Gürtel herab und blieb darauf liegen, während Felss immer unglücklicher aussah und von einem Bein auf das andere zu treten begann.

»Helft ihm«, bat Charity Gyell. Dann wandte sie sich wieder an Hartmann. »Pfeifen Sie Ihre beiden Zinnsoldaten zurück, Leutnant Hartmann. Oder Sie werden sie verlieren.«

Vielleicht war es der ruhige, fast freundliche Ton ihrer Stimme, der Hartmann klarmachte, wie ernst sie ihre Worte meinte. »Also gut«, sagte er schließlich. »Diesmal haben Sie gewonnen, Captain Laird. Aber wir reden noch darüber. Und glauben Sie nicht, daß ich Angst vor Ihnen habe. Ich will nicht, daß diese Wilden sehen, wie wir uns streiten. Das ist alles.«

»Natürlich«, sagte Charity spöttisch.

Auf einen Wink Hartmanns hin zogen sich die beiden Soldaten wieder zurück, und auch Kyle und der Hopi traten wieder beiseite. Das Mädchen stand auf, und auf einen knappen Befehl Gyells hin trat der zweite Jared neben den Verletzten und trug ihn scheinbar mühelos aus dem Raum. Das Mädchen folgte ihm, während Gyell noch zurückblieb.

»Was werdet ihr mit ihm tun?« erkundigte sich Charity.

»Ihm geschieht ... nichts«, antwortete Gyell langsam.

»Bringt ihr ihn zurück?« fragte Charity.

Gyell antwortete nicht darauf.

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