10


Irgendwie brachte sie das Kunststück fertig, in dieser Nacht doch noch einige Stunden zu schlafen. Mit einem Ruck erwachte sie und sah sich um. Durch die Tür fiel noch immer der flackernde rote Schein der Feuer, die draußen in der Halle brannten, aber in dieses Licht hatte sich jetzt ein grauer Schimmer gemischt. Sie stand auf und fuhr mit einem leisen Schrecken zusammen, als sie sah, daß zwei Mitglieder ihrer Gruppe fehlten: Helen und Gurk.

»Was ist passiert?« fragte sie erschrocken.

Hartmann, der mit vor der Brust verschränkten Armen am Türrahmen lehnte und in den angrenzenden Kellerraum hinausstarrte, warf ihr einen abfälligen Blick zu.

»Ihre Freunde haben sie geholt«, sagte er.

»Gyell und das Mädchen«, erklärte Skudder. »Sie kamen vor einer Viertelstunde und haben mit Gurk gesprochen. Und dann sind Helen und er mit ihnen gegangen.«

Skudders Stimme klang sehr ernst, aber er machte auf Charity trotzdem nicht den Eindruck, daß er sich um Helen und den Zwerg sorgte. Offensichtlich spürte der Hopi wie sie, daß das Geheimnis, das die Jared zweifellos umgab, völlig anders war, als Hartmann und seine Männer glauben mochten.

Langsam trat sie neben den Leutnant und blickte in die Halle hinaus. Der riesige, unterirdische Saal war fast völlig verwaist. Einige Feuer brannten noch, aber bis auf eine Handvoll Männer und Frauen hatten alle Jared den Keller verlassen. Plötzlich kam eine Gestalt mit langsamen Schritten auf sie zu. Es war Gyell. Obwohl er nicht einmal in ihre Richtung gesehen hatte, wußte Charity, daß er nur auf ihr Erwachen gewartet hatte.

»Warum habt ihr mich nicht geweckt?« fragte sie.

Hartmann zog nur die Augenbrauen hoch und schwieg, und Skudder antwortete beinahe verlegen. »Du brauchst deinen Schlaf. Wir sind seit fast achtundvierzig Stunden auf den Beinen.«

Charity wollte etwas entgegnen, aber Gyell war bereits näher gekommen und hob die Hand, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Wortlos und mit knappen, aber eindeutigen Gesten forderte er sie und die anderen auf, zu ihm herauszukommen.

Sie durchquerten den Kellerraum und stiegen wieder nach oben. Das graue Zwielicht, das durch den halb verschütteten Eingang herabgefallen war, verwandelte sich langsam in das helle, klare Licht eines frühen Morgens. Plötzlich hörte Charity eine erstaunliche Vielfalt von Geräuschen: das Rauschen des Flusses, das Wispern des Windes in den Baumwipfeln, den Gesang von Vögeln und das seltsame vertraut klingende Bellen eines Hundes - aber auch fremdartige, fast unheimliche Laute, die sie nicht einordnen konnte. All ihre Sinne schienen mit einem Male viel schärfer zu arbeiten als noch am Abend zuvor. Sie hörte Skudders Atem hinter sich, die Schritte jedes einzelnen auf der Betontreppe, das leise Rascheln ihrer Kleidung und die metallischen Laute, die ihre Waffen verursachten. Und sie nahm Farben und Gerüche in einer Intensität wahr, wie sie es schon lange nicht mehr getan hatte. Verwirrt überlegte sie, ob es wirklich nur diese wenigen Stunden Schlaf gewesen waren, die ihre Sinne so geschärft hatten.

Sie blinzelte, als sie hinter Gyell ins Freie trat. Jetzt, im hellen Licht des Morgens, konnte sie sehen, daß der Eindruck, den sie am vergangenen Abend gehabt hatten, richtig gewesen war. Sie schienen sich inmitten einer Stadt der Jared aufzuhalten. Charity bemerkte Hunderte der struppigen Gestalten, aber es war die sonderbarste Siedlung, die sie je zu Gesicht bekommen hatte. Es gab eine Anzahl einfacher, aus Ästen und Blättern errichteter Hütten und einige wenige, niedrige Gebäude aus Stein und rostigem Wellblech. Die Jared hatte sich bemüht, so wenig wie möglich zu verändern und nichts zu zerstören. Die Hütten lehnten sich an den natürlichen Wuchs der Bäume an und folgten dem Verlauf des Bodens, der zum Fluß hin sanft abfiel.

Dann sah Charity den Schatten, drehte sich automatisch herum - und hielt überrascht den Atem an.

In der vergangenen Nacht hatte sie nichts als einen verschwommenen Umriß wahrgenommen, eine weitere Ruine in einer Stadt aus Trümmern, der sie kaum einen flüchtigen Blick geschenkt hatte, aber jetzt erkannte sie das Bauwerk als das, was es war: ein gigantischer Dom, dessen Doppelspitze sich Hunderte von Metern über den Fluß erhob.

Der riesige Keller, in dem sie übernachtet hatten, mußte sich unter seinen Fundamenten befinden.

»Das ist...«

»Der Dom«, sagte Hartmann.

Er seufzte. »Ich bin sicher, Sie haben selbst in den Staaten davon gehört. Irgendwie hat er die Invasion überstanden.«

Abgesehen von einigen kleinen Schäden, war die imposante Kathedrale tatsächlich unversehrt geblieben - ein absurder Anblick in einer ansonsten völlig zerstörten Stadt.

Gyell deutete heftig gestikulierend auf eine Stelle unweit des Flußufers, an der einige Jared um ein Feuer saßen, über dem sie auf großen metallenen Spießen Fleisch brieten. Sein Geruch war fremdartig, aber nicht unangenehm. Und er allein reichte aus, um sie daran zu erinnern, daß sie seit fast achtundvierzig Stunden nichts mehr gegessen hatte. Gyell mußte seine Einladung nicht wiederholen, als er sich an einen Platz am Feuer setzte und sich vorbeugte, um einen der Spieße aus den Flammen zu klauben.

Skudder, Net und Kyle folgten Charity, während Hartmann und seine beiden Begleiter unschlüssig in zwei Schritten Entfernung stehenblieben.

»Worauf warten Sie, Hartmann?« fragte Charity. »Sind Sie nicht hungrig?«

»Doch«, antwortete Hartmann.

»Dann essen Sie etwas«, sagte Charity.

Hartmann verzog nur trotzig das Gesicht, und Charity wandte sich mit einem Achselzucken um und griff dankbar nach dem Stück Fleisch, das ihr Gyell hinhielt.

Sein Aussehen war so fremdartig und beunruhigend wie sein Geruch, aber Charity biß entschlossen hinein. So seltsam das Stück Fleisch roch und aussah, so gut schmeckte es. Nach der ersten Sekunde vergaß sie all ihre Hemmungen und kaute genüßlich.

»Wissen Sie eigentlich, was Sie da essen?« fragte Hartmann hinter ihr.

»Nein«, antwortete Charity mit vollem Mund. »Und ich will es auch gar nicht wissen.«

Gyell blickte sie an, und für einen Moment glaubte sie, ein Lächeln in seinen Augen zu entdecken.

Sie aßen schweigend. Zu dem Fleisch reichte ihnen Gyell Obst und klares Wasser aus dem Fluß, das mit irgendeinem Gewürz versetzt zu sein schien, denn es schmeckte köstlich und hinterließ einen angenehmen Nachgeschmack auf ihrer Zunge.

Nach einer Weile hörte sie Schritte, und als sie aufsah, erkannte sie Helen und Gurk, die sich in Begleitung zweier erwachsener Jared und des blonden Mädchens vom vergangenen Abend dem Feuer näherten. Helen wirkte erschöpft, während auf Gurks faltigem Gesicht ein zutiefst verwirrter Ausdruck lag, der Charity beunruhigte. Aber sie beherrschte ihre Ungeduld und wartete geduldig, bis auch Helen und der Zwerg ihren ärgsten Hunger gestillt hatten.

»Wie geht es Stern?« fragte sie schließlich.

Helen sah sie an und fuhr sich müde mit dem Handrücken über die Augen. »Nicht gut«, sagte sie. »Aber ich glaube, er überlebt es.« Sie sah das Mädchen neben sich an.

»Sie hat ihm das Leben gerettet«, sagte sie leise. »Ich weiß nicht wie, aber sie hat es geschafft.«

Charity wandte sich an Gurk. Sie sagte nichts, aber der Zwerg spürte ihren Blick und ahnte, was sie ihn fragen wollte. Kauend bemerkte er: »Stimmt. Sie hat irgend etwas mit ihm gemacht.«

»Was meinst du damit?« fragte Skudder, der neugierig geworden war.

Gurk zuckte abermals mit den Achseln und verschlang ein Stück Fleisch, das so groß wie seine geballte Faust war.

»Euer Freund ... wird ... leben«, sagte Gyell, der zwar wie gewohnt vor sich hingestarrt, aber offensichtlich auch sehr aufmerksam zugehört hatte.

»Warum tut ihr das?« fragte Charity.

Gyell sah sie fragend an.

Charity deutete auf Hartmann, dann auf sich. »Sie haben uns erzählt, ihr wärt ... ihre Feinde.«

Gyell schüttelte langsam den Kopf. »Nein. Sie sind blind. Wir sehen. Sie sind unsere Feinde. Nicht wir ihre.«

Hartmanns Gesicht verdüsterte sich bei diesen Worten noch mehr, aber zu Charitys Erleichterung sagte er nichts, sondern blickte den Jared nur feindselig an.

»Aber der Angriff gestern abend«, fuhr Charity fort. »Ihr habt den Wagen mit Steinen beworfen und ... eine Falle gestellt.«

Gyell nickte. Sein Blick streifte Hartmann und blieb einen Moment an der Maschinenpistole über seiner Schulter hängen. Doch was Charity in Gyells Augen las, während er die Waffe betrachtete, war weder Zorn noch Furcht, sondern nur eine tiefe Mißbilligung. »Wir wehren uns«, sagte Gyell. »Sie greifen uns an. Wir vertreiben sie.«

»Blödsinn!« sagte Hartmann. »Wir...«

Charity brachte ihn mit einer hastigen Handbewegung zum Verstummen. »Du willst behaupten, ihr hättet sie niemals angegriffen?« vergewisserte sie sich.

Gyell schüttelte den Kopf und sagte: »Niemals.«

Hartmann lachte abfällig. »Sie haben nur drei unserer Basen überrannt und die Besatzung verschleppt; ein halbes Dutzend Wagen zerstört und den Großteil unserer Vorratsdepots geplündert. Aber sonst sind wir richtig gute Freunde, wissen Sie?«

»Du hörst, was er sagt«, sagte Charity.

»Willst du behaupten, daß er lügt?«

»Nein«, antwortet Gyell. »Er glaubt ... die Wahrheit ... zu sagen. Er ist blind. Wir sehen.«

»Was meinst du damit?« fragte sie.

Gyell lächelte. Aber es war ein Lächeln, das Charity einen eisigen Schauer über den Rücken laufen ließ. Mehr denn je hatte Charity plötzlich das Gefühl, einem Wesen gegenüber zu sitzen, dem menschliche Gefühle nicht fremd waren, dem sie aber nicht so viel bedeuteten wie ihr.

»Ihr seid ... anders ... als sie«, sagte Gyell und deutete auf Hartmann und die beiden Soldaten.

Charitys Blick folgte der Geste. Hartmanns Gesicht war völlig ausdruckslos, während Lehmann den Jared mit unverhohlenem Haß anstarrte. Felss hingegen blickte die Bratspieße über dem Feuer und das Fleisch daran an, und Charity konnte sehen, wie dem jungen Soldaten das Wasser im Munde zusammenlief. Er mußte ebenso hungrig und erschöpft wie sie selbst sein.

»Das stimmt«, antwortete sie. »Aber nicht so sehr, wie du glaubst.«

»Sie sind blind«, beharrte Gyell. »Auch ihr ... seid blind. Aber ihr ... könnt nicht ... sehen. Sie wollen nicht.«

Charity schüttelte hilflos den Kopf. »Ich verstehe nicht, was du meinst.«

Gyell machte eine hilflose Geste. »Du hast ... uns geholfen, Charity Laird«, sagte er.

Charitys Augen wurden groß. »Woher kennst du meinen Namen?« fragte sie. Sie war absolut sicher, daß keiner der anderen ihn ausgesprochen hatte, seit sie sich in der Gefangenschaft der Jared befanden.

Gyell überging die Frage. »Du hast auf die ... Ratten geschossen. Nicht ... auf uns.« Er hob wieder die Hand und deutete auf Hartmann. »Sie töten uns. Wir töten sie. Vielleicht können wir ... aufhören.«

»Wunderbar!« knurrte Hartmann. »Gleich wird er eine Friedenspfeife herausholen und sie stopfen.«

»Warum halten Sie nicht endlich den Mund?« fragte Charity matt.

Doch diesmal gehorchte Hartmann nicht. Im Gegenteil - seine Stimme wurde noch schneidender. »Wieso zum Teufel glauben Sie diesem Irren jedes Wort und uns überhaupt nicht?« fragte er. »Fragen Sie ihn, was sie mit all den Männern und Frauen gemacht haben, die sie verschleppen. Fragen Sie ihn, was sie mit Stern gemacht haben. Fragen Sie ihn, ob wir ihn wiedersehen werden!«

»Sehen wir ihn wieder?« fragte Charity den Jared.

Gyell schüttelte langsam den Kopf. »Nein«, antwortete er.

»Aber er wird leben?«

Der Jared nickte.

»Er wird sehen. Aber du ... hast meine Frage ... nicht beantwortete. Du hast ... die Eier ... gerettet. Du hast auf ... die Ratten geschossen, nicht ... auf uns. Warum?«

Charity schwieg einen Moment. Im Grunde war es nur ein bloßer Reflex gewesen, eine Handlung, die viel weniger von bewußtem Denken als vielmehr vom Instinkt geleitet gewesen war. »Sie sind nur Tiere«, antwortete sie schließlich.

Gyell schüttelte den Kopf. »Nein. Auch sie sehen.«

Charity blinzelte verwirrt. »Aber ihr habt sie gejagt.«

»Sie essen uns, wir essen sie«, antwortete Gyell. »Sie sehen. Wir sehen.« Er machte eine Kopfbewegung zu Hartmann hinauf. »Sie sind blind. Sie töten nur.«

Charity seufzte. »Ich fürchte, ich verstehe dich nicht«, gestand sie.

Gyell nickte, als hätte er keine andere Antwort erwartet. Mit einer erstaunlich fließenden, fast anmutigen Bewegung, die seinem zerlumptem Äußeren Hohn sprach, stand er auf und deutete auf die gewaltige Kathedrale hinter ihnen. »Komm mit«, sagte er. »Vielleicht wirst du dann ... verstehen.«

Charity und die anderen erhoben sich, und Gyell erhob auch keine Einwände, als sich auch Hartmann und seine beiden Begleiter ihnen anschlössen.

Sie näherten sich dem Dom, dessen gigantische Tore offenstanden. Als sie hindurchtraten, war Charity im ersten Moment beinahe blind, denn ihre Augen hatten sich an das grelle Sonnenlicht draußen gewöhnt. Ein kalter, sonderbar stechender Geruch schlug ihr entgegen und ließ sie frösteln, und sie nahm schattenhafte Bewegung in dem riesigen, gefliesten Innenraum vor sich wahr.

Neben ihr stieß Skudder plötzlich einen überraschten Ruf aus, und sie sah aus den Augenwinkeln, wie Hartmann zusammenfuhr und einer seiner beiden Soldaten erschrocken und in einer unbewußten Bewegung nach seiner Waffe griff.

Der riesige Innenraum war nicht leer. Von der ehemaligen Einrichtung war nichts mehr geblieben, aber auf dem gesprungenen Mosaikmuster des Bodens lagen Dutzende, wenn nicht Hunderte formloser, dunkler ... Dinge, die zu pulsieren und zu zittern schienen. Zahllose Jared bewegten sich zwischen diesen pulsierenden Klumpen hin und her, und hoch über ihren Köpfen, unter dem gewaltigen gotischen Spitzbogen des Daches...

Charity unterdrückte mit letzter Kraft einen erschrockenen Aufschrei. Was sie sah, war mit nichts zu vergleichen, was sie jemals zu Gesicht bekommen hatte. Ein Gespinst armdicker, glitzernder, grauer Fäden verwandelte das Dach des Domes in ein titanisches, zuckendes Spinnennetz, in dem sich zahllose dunkle Körper auf glitzernden Gliedern bewegten. Riesige Tropfen einer farblosen, zähen Flüssigkeit drohten herunter zu fallen, ohne sich wirklich zu bewegen. Einige Jared krabbelten emsig auf einem Gestell aus Stahlrohren auf und ab, das sich vom Boden bis unter die Decke spannte.

Und im Zentrum dieses riesigen Gespinstes hockte wie eine absurd große Spinne ein Ungeheuer.

Charity wußte, was sie vor sich hatte, und trotzdem war der Anblick fast mehr, als sie ertragen konnte.

Die Ameise war ein Gigant, dreißigmal so groß wie die Krieger und Arbeiterinnen, und mit einem unförmig aufgedunsenen Leib und riesigen Augen, die voller kalter, berechnender Bosheit auf Charity und die anderen herunterstarrten, die es wagten, in ihr Reich einzudringen. Ihr unförmiger, aufgequollener Hinterleib befand sich in beständiger, pumpender Bewegung und stieß glitzernde Kokons aus; große Eier, unter deren durchsichtiger Oberfläche sich zusammengekrümmte, spinnengliedrige Körper bewegten.

»Das Nest!« murmelte Hartmann. »Verdammt, ich wußte, daß es ein zweites gibt.«

»Habt keine Angst«, sagte Gyell, der ebenfalls stehengeblieben war. »Euch wird nichts ... geschehen.«

Charity schluckte mehrmals, um den bitteren Kloß loszuwerden, der plötzlich in ihrem Hals saß. Sie glaubte Gyell.

Selbst wenn dieses gigantische Monster gewollt hätte - sie war gar nicht in der Lage, ihnen irgend etwas zu tun. Ihre Beine, so riesenhaft sie auch waren, waren viel zu schwach, um den aufgeblähten Hinterleib zu tragen. Das riesige Netz, in dem sie hockte, glich einem Gefängnis, das sie Zeit ihres Lebens nicht mehr verlassen würde. Aber der bloße Anblick dieses Ameisen-ungeheuers lahmte sie.

Seit sie den Schlaftank unter den nordamerikanischen Bergen verlassen hatte, hatte sie sich so oft unter den Invasoren von Moron bewegt, daß ihr Empfinden für die Fremdartigkeit dieses Insektenvolkes abgestumpft war. Aber jetzt war es wieder da, stärker und bedrückender denn je. Sie hatte das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Jeder Mut, jede Kraft schien sie verlassen zu haben. Sie wollte nur noch herumfahren und aus diesem gräßlichen Gebäude stürzen.

»Kommt«, sagte Gyell noch einmal. »Ihr habt nichts zu befürchten.«

Fast beiläufig registrierte Charity, daß er plötzlich schneller und flüssiger sprach, fast als lerne er seine Sprache neu.

Zögernd gingen sie ein paar Schritte weiter, dann blieb Felss plötzlich stehen und deutete mit ausgestrecktem Arm und ungläubig aufgerissenen Augen auf eine der heruntergekommenen Gestalten, die sich zwischen den vibrierenden Eierkokons auf dem Boden bewegte. »Roland!« rief er überrascht aus. »Das ist Roland, Herr Leutnant! Sehen Sie doch!«

Hartmanns Blick folgte dem ausgestreckten Arm des jungen Soldaten. Einen Moment lang sah er die verdreckte Gestalt stirnrunzelnd an, auf die Felss deutete, dann schüttelte er den Kopf. »Nein«, antwortete er. »Das ist er nicht. Sie täuschen sich.«

»Aber...«

»Sie irren sich, Felss«, sagte Hartmann noch einmal mit harter Stimme, so daß Felss nicht wagte, ihm zu widersprechen.

Aber Charity fühlte, daß Hartmann log. Auch er hatte den Mann erkannt, auf den Felss gedeutet hatte. Während sie weitergingen, betrachtete sie die schlanke Gestalt aufmerksam. Der Mann unterschied sich nicht von den anderen Jared. Auch sein Haar war lang und verfilzt, auch sein Gesicht war fast völlig unter einem struppigen Bart verschwunden, und auch er war in Fetzen gekleidet, allerdings in die Fetzen einer hellgrünen Uniform. Sein Blick aber war leer, und in seinen Augen war kein Erkennen, als er aufsah und die vorübergehende Gruppe musterte.

Charity atmete erleichtert auf, als sie das Kirchenschiff durchquert hatten und einen kleineren Raum betraten. Wozu er einmal gedient hatte, war nicht mehr festzustellen, denn seine gesamte Einrichtung war entfernt worden. Die Wände waren völlig unter einem Muster aus rankenden Pflanzen und den gleichen, grauschwarzen Fäden verborgen, die auch das Netz der Ameisenkönigin bildeten. Als Charity versehentlich einen dieser Stränge berührte, stellte sie überrascht fest, daß er sich warm und lebendig anfühlte, obwohl er schleimig und kalt aussah.

Als sie den Raum durch eine rückwärtige Tür wieder verlassen wollten, sah sie etwas, das sie abermals entsetzt stehenbleiben ließ.

In einem Winkel neben der Tür lag eine Gestalt: ein gewöhnlicher Jared mit Armen und Schultern, doch von den Hüften abwärts begann sich sein Körper zu verändern. Seine Haut war rissig und hart geworden, wie schwarzes Hörn, das unter Hammerschlägen zerborsten war. Aus seiner rechten Hüfte wuchs ein dicker, pulsierender Strang, der mit dem lebenden Netz an den Wänden verbunden war, und seine Unterschenkel waren vollständig unter der grauen, pulsierenden Masse verschwunden.

Neben ihr schlug Hartmann entsetzt die Hand vor den Mund. Er begann krampfhaft zu schlucken, als kämpfe er mit aller Macht dagegen an, sich übergeben zu müssen. Felss stieß einen würgenden Laut aus und drehte sich mit einem Ruck um, und selbst Skudder fuhr zusammen und erblaßte. Nur Gurk und Helen zeigten keine sichtbare Reaktion.

»Gott im Himmel!« stieß Hartmann schließlich hervor. »Was ... was ist hier passiert?«

»Es ist nicht das, was ... ihr glaubt«, antwortete Gyell, wobei er aber nicht Hartmann, sondern Charity ansah. Er machte eine einladende Geste auf die Tür hinter sich. »Kommt mit. Dann werdet ihr ... begreifen.«

Hartmann starrte den Jared aus Augen an, die dunkel vor Entsetzen waren. Seine Lippen zitterten, aber seine Stimme versagte; er brachte nur einen krächzenden, unverständlichen Laut hervor. Zitternd hob er die Hand und deutete auf die halb eingesponnene, reglose Gestalt zu seinen Füßen.

»Ihr ... verdammten ... Bestien!« stieß er mühsam hervor.

»Was habt ihr mit meinen Männern gemacht? Was habt ihr ihnen angetan?«

»Nichts«, antwortete Gyell ruhig. »Du...«

Plötzlich schrie Hartmann auf, prallte zwei Schritte zurück und versuchte, die Waffe von seiner Schulter zu zerren. Kyle schlug ihm mit einer blitzschnellen Bewegung die Hand herunter, doch Lehmann stürzte sich mit einem wütenden Schrei vor, um seinem Vorgesetzten zu Hilfe zu kommen. Kyle machte eine blitzschnelle Bewegung, und Lehmann schien wie von Zauberhand den Boden unter den Füßen zu verlieren und segelte in hohem Bogen durch den Raum, ehe er mit furchtbarer Wucht gegen die gegenüberliegende Wand prallte. Noch bevor er zu Boden sank, hatte Skudder seine Waffe gezogen und richtete sie drohend auf Felss.

»Bitte, Hartmann«, sagte Charity beschwörend. »Seien Sie vernünftig!«

Hartmanns Blick wanderte unstet zwischen ihr, der reglosen Gestalt auf dem Boden und dem Jared hin und her. Seine Augen flackerten vor Entsetzen, und er zitterte am ganzen Leib. Aber er versuchte nicht noch einmal, seine Waffe zu ergreifen.

»Ihr seid ja wahnsinnig!« stammelte er. »Ich ... ich gehe keinen Schritt mehr weiter. Ich ... ich will hier raus!«

Und damit fuhr er herum und stürzte aus dem Raum. Felss zögerte. Er machte eine Bewegung, als wolle er ihm folgen, drehte sich dann aber herum und ging rasch zu seinem gestürzten Kameraden, um ihm auf die Beine zu helfen. Lehmann war benommen, aber bei Bewußtsein und offensichtlich nicht schwer verletzt. Er blutete aus einer Platzwunde über dem linken Auge, und als er aufzutreten versuchte, verzerrte sich sein Gesicht vor Schmerz. Er wäre gestürzt, hätte ihn Felss nicht gepackt. Auf die Schulter seines Kameraden gestützt, humpelte er hinter Hartmann her.

»Vielleicht ist es besser ... wenn ihr ihnen ... nachgeht«, sagte Gyell langsam. »Sie haben Angst. Ich ... verstehe das. Sie wissen nicht ... was sie ... tun.«

Charity blickte den Jared einen kurzen Moment Verzeihung heischend an, dann drehte auch sie sich ohne ein Wort um und beeilte sich, Hartmann und den beiden Soldaten zu folgen.

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