6


Die Stadt lag wie ein Mosaik aus dunklen, schmutzigen Farben unter ihm. Aus einer Höhe von fast vier Meilen herab betrachtet, waren die Spuren der Zerstörungen kaum noch auszumachen. Der Feuersturm, der über Köln hinweggerast war, hatte jedes Leben und fast jedes Gebäude vernichtet, aber die Grundstruktur, nach der diese Stadt errichtet worden war, war erhalten geblieben. Stone konnte deutlich die Grundrisse der alten Festungsmauer erkennen, die noch aus der Zeit der Römer stammte, und das asymmetrische Muster der Straßen und Alleen, die nachfolgende Generationen erschaffen hatten. Es gehörte nicht einmal viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, daß das Leben dort unten noch immer so pulsierte wie vor fünfundfünfzig Jahren. Daß alles nur ein böser Traum gewesen war, aus dem man nur zu erwachen brauchte, um ihn ungeschehen zu machen.

Doch es war kein Alptraum, sondern grausame Wirklichkeit. Die Stadt hatte eine Anzahl neuer, schrecklicher Wunden davongetragen.

Die Strahlung der Bomben, die die Gleiter geworfen hatten, war extrem kurzlebig, aber auch extrem hart. In nicht einmal ganz zweiundsiebzig Stunden würde er das Gelände dort unten nur mit einem leichten Schutzanzug bekleidet betreten können; aber im Moment würde jedes Leben, das sich dem verseuchten Gebiet näherte, auf der Stelle erlöschen. Nicht einmal ein so unglaubliches Geschöpf wie der entkommene Megamann, konnte in dieser Hölle länger als einige Sekunden überleben. Er und Captain Laird und die anderen mußten tot sein.

Und doch stellte sich der Triumph, auf den er bei diesem Gedanken wartete, nicht ein; nicht einmal ein Gefühl der Sicherheit, jetzt, wo der letzte Zeuge seines Verrates beseitigt war.

Er hatte Captain Lairds Tod niemals gewollt. Was er ihr an jenem Abend in seinem Zimmer im höchsten Turm des Shai-Taan von Colorado erzählt hatte, war die Wahrheit gewesen. Er betrachtete Charity Laird so wenig als seine Feindin, wie er sich selbst als Verräter betrachtete. Denn war es wirklich Verrat, wenn er versuchte, einen Kampf zu verhindern, der mit nichts anderem als der völligen Vernichtung seiner Heimatwelt enden konnte?

Stone war sich völlig darüber im klaren, daß er der meistgehaßte Mann dieses Planeten war, vielleicht der meistgehaßte Mensch, den es jemals auf dieser Welt gegeben hatte.

Aber für ihn war dies der Preis, den er, und nur er allein für das Überleben der menschlichen Rasse zu zahlen hatte.

Mochten sie ihn verfluchen.

Mochten sie seiner mit Haß gedenken.

Was viel wichtiger war und niemand je erfahren würde, das waren die unzähligen Leben, die er gerettet hatte. Die Jahre, die er für diese Welt herausgeschunden hatte, indem er all seinen Einfluß geltend machte, um die Herrscher der Schwarzen Festung am Nordpol davon zu überzeugen, daß sein Volk nützlich war.

Sein Blick glitt über die schwarz glitzernde Chitingestalt der Ameise, die neben ihm an den Kontrollen des Gleiters stand und das Fahrzeug reglos in vier Meilen Höhe über der Stadt schweben ließ. Der Anblick bereitete ihm immer noch Unbehagen, und das würde sich niemals ändern, ganz egal, wie viele Jahre seines Lebens er noch in der Gesellschaft dieser gigantischen Rieseninsekten verbrachte.

Und trotzdem erfüllte er ihn mit einer wilden, fast wahnsinnigen Hoffnung.

Auch sie waren einmal ein freies Volk gewesen. Auch sie hatten vermutlich erbittert um ihre Freiheit gekämpft, und vermutlich härter und länger als je ein anderes Volk vor ihnen. Sie hatten diesen Kampf verloren wie alle anderen Rassen, nach deren Welt sich die Hand Morons ausgestreckt hatte, und doch waren sie nicht untergegangen.

Im Gegenteil. Heute waren sie die treuesten Verbündeten Morons; ihr Schwert und ihre Faust.

Und vielleicht, dachte Stone, würde es den Menschen eines Tages ebenso ergehen. Sie konnten diesen Kampf nicht gewinnen. Aber möglicherweise konnten sie ihn als Sklaven von einer Macht und Größe überleben, die sie als freies Volk niemals hätten erlangen können.

Auf seine Art war Stone ein aufrechter, tapferer Mann. Er war überzeugt, daß der Weg, den er eingeschlagen hatte, der einzig mögliche war. Und daß Captain Laird die Menschen in den totalen Untergang geführt hätte. Trotzdem erfüllte ihn der Gedanke, daß sie tot war, nicht mit Erleichterung, sondern nur mit einer tiefen, entsetzlichen Leere.


*


Auf dem Bildschirm spann sich ein Koordinatennetz aus dünnen, grünen Linien, in dem sich eine Anzahl winziger Leuchtpunkte hin und her bewegte. Wenn man genau hinsah, erkannte man, daß ihre Stellung zueinander nicht zufällig war. Sie bildeten einen Dreiviertelkreis, in dem sich nach und nach immer mehr und mehr der flimmernden grünen Punkte einfügten, die vom rechten Bildschirmrand auftauchten. Doch was auf dem Monitor wie ein wirbelnder Mückenschwarm aussah, war in Wirklichkeit eine Flotte von vierzig oder fünfzig Gleitern, und ihre Zahl wuchs unaufhörlich. Es war eine ganze Armee, die sich dort draußen über der Stadt zusammenzog. Und Charity hatte das sehr sichere Gefühl zu wissen, wen sie suchten.

Den finsteren Blicken nach zu urteilen, die Hartmann abwechselnd ihr und den anderen zuwarf, hegte der Leutnant ähnliche Gedanken. »Wie viele sind es bisher?«

Die Frage galt einem jungen Mann mit blondem Haar und bleicher, fast durchsichtiger Haut, der hinter einem der beiden wuchtigen Computerpulte saß, die fast den gesamten vorhandenen Platz in der kleinen Überwachungszentrale blockierten. »Fünfundvierzig«, antwortete er, warf einen raschen Blick auf eines seiner Geräte und verbesserte sich. »Sechsundvierzig.«

»Und in jedem sitzen mindestens fünfzig von diesen Viechern«, sagte Hartmann gepreßt. Er maß Charity mit einem langen, nicht sehr freundlichen Blick. »Wer zum Teufel sind Sie, daß sie Ihnen ihre halbe Armee hinterherjagen?«

Sie hätte viel darum gegeben, die Antwort auf diese Frage selbst zu wissen. Es mußte irgend etwas mit der geheimen NATO-Station unter der Botschaft in Paris zu tun haben. Irgend etwas befand sich dort, das für die Moroni von ungeheurem Wert sein mußte. So wertvoll, daß schon die bloße Möglichkeit, es könne sich in ihrem Besitz befinden, sie dazu brachte, aus der bisher eher spielerischen Jagd auf sie und ihre Begleiter ein gnadenloses Kesseltreiben zu machen.

»Was gibt es dort draußen?« fragte sie mit einer Kopfbewegung auf den Monitor. »Ich meine - außer uns?«

Hartmann zuckte grob mit den Achseln. »Nichts«, sagte er. »Eine Handvoll Dreckfresser und ein oder zwei Nester.«

Ihr fragender Blick machte ihm klar, wie wenig sie mit dieser Antwort anfangen konnte, denn er erklärte mit hörbarer Ungeduld in der Stimme: »Von einem wissen wir genau, wo es ist. Die Existenz des zweiten vermuten wir nur. Aber ich bin sicher, daß es eines gibt.«

»Sie meinen eine Königin?« vergewisserte sich Kyle.

»Ja«, antwortete Hartmann. Er berührte einen Punkt ungefähr eine Bildschirmlänge über dem Monitor an der Wand. »Das Nest liegt ungefähr hier. Wahrscheinlich ist es der einzige Grund, aus dem Sie und Ihre Freunde überhaupt noch am Leben sind. Wäre es nicht da, hätten sie wahrscheinlich größere Bomben geworfen.«

»Ich verstehe das alles nicht«, murmelte Charity. Sie tauschte einen fragenden Blick mit Kyle und Skudder und wandte sich schließlich an Helen. Das Mädchen war noch immer sehr blaß, und obwohl ihr Hartmann und Charity mehrmals versichert hatten, daß sie nicht in Gefahr sei, war ihr ihre Angst deutlich anzusehen.

»Es muß irgend etwas mit dieser Basis in Paris zu tun haben«, sagte Charity. »Hat dein Vater jemals gesagt, was er dort unten zu finden hoffte?«

Helen schüttelte nur stumm den Kopf, aber Charity bemerkte aus den Augenwinkeln, wie Hartmann sie plötzlich sehr aufmerksam ansah. »Welche Basis?« fragte er.

Charity zögerte einen kurzen Moment, dann erklärte sie ihm mit wenigen, knappen Worten, was sie in Paris gefunden hatten; wobei sie sich bemühte, so wenig Informationen wie nur möglich weiterzugeben, ohne daß Hartmanns Mißtrauen dadurch noch verstärkt wurde.

Der Ausdruck auf Hartmanns Gesicht wurde immer besorgter, während er ihren Worten lauschte. »Ich kenne diese Basis«, sagte er schließlich. »Wenn es ihnen gelungen ist, in das Computernetz einzudringen, dann wissen sie alles.«

»Alles?« hakte Net nach. »Was meinen sie damit?«

»Sie könnten ... die gesamte Nato-Logistik kennen.«

»Unmöglich.« Charity schüttelte entschieden den Kopf. »Sie hatten allerhöchstens zwei Stunden, bevor ich die Selbstzerstörungsanlage in Betrieb gesetzt habe.«

»Zwei Stunden sind eine Menge Zeit«, gab Hartmann zu bedenken. »Wenn sie...«

»Wenn ihnen die Position Ihres Verstecks bekannt wäre«, unterbrach ihn Kyle ruhig, »dann wären sie wahrscheinlich schon hier.«

Hartmann blickte den Megamann einen Moment lang mit unverhohlener Feindseligkeit an, aber er kam nicht dazu, zu antworten, denn in diesem Moment meldete sich der junge Mann an dem Computerpult wieder zu Wort: »Sie sind gelandet, Herr Leutnant. Die Strahlung ist noch immer zu stark. Ich bekomme keine sauberen Meßergebnisse.«

Hartmann überlegte einen Moment, dann deutete er fast anklagend auf den Techniker. »In Ordnung«, sagte er. »Schicken Sie eine Drohne los. Aber keine Funkverbindung. Wir werten die Videoaufzeichnungen aus, sobald sie zurück ist.«

Während der letzten Minuten hatte Felss Leutnant Hartmann von einer Seite kennengelernt, die er bisher nicht einmal an ihm vermutet hatte. Statt mit einem ständig übelgelaunten Vorgesetzten hatte Felss mit einem ruhigen Mann gesprochen, der ihn die meiste Zeit mit unbewegtem Gesicht hatte reden lassen und ihn nur dann und wann einmal unterbrach, um eine knappe Zwischenfrage zu stellen.

»Also Sie trauen ihnen?« faßte Hartmann schließlich in einem Satz zusammen, was der junge Soldat ihm im Laufe der letzten zwanzig Minuten wortreich zu erklären versucht hatte.

Felss zögerte. Gerade die scheinbare Beiläufigkeit, mit der Hartmann diese Frage stellte, machte ihm klar, wie wichtig die Antwort sein konnte - nicht nur für diese Fremden, sondern auch für ihn. Er zögerte sekundenlang, dann rettete er sich in ein verunglücktes Lächeln. »Ich denke schon«, sagte er.

Für einen kurzen Moment kehrte der alte Ausdruck von Unmut auf Hartmanns Züge zurück. »Ich habe Sie nicht gefragt, was Sie denken«, erklärte der Leutnant, entschärfte seine Worte aber sofort mit einem milden Lächeln. »Trauen Sie ihnen oder nicht?«

»Ich glaube schon«, sagte Felss schließlich. »Zumindest den drei Frauen und diesem komischen Knirps.«

»Und die anderen?«

Wieder zögerte Felss einige Sekunden lang. »Bei dem Jüngeren bin ich mir nicht sicher«, gestand er schließlich. »Ich ... werde nicht ganz schlau aus ihm.«

Hartmann sah ihn fragend an.

»Er war nur ein paar Augenblicke bewußtlos«, fuhr Felss fort. »Dabei hat er eine volle Ladung abbekommen - genau wie die anderen. Danach hat er nur so getan, als schliefe er.«

»Vielleicht hätte ich das auch an seiner Stelle«, sagte Hartmann nachdenklich. »Wenn die Geschichte stimmt, die die Amerikanerin erzählt...«

»Wir könnten sie überprüfen«, sagte Felss.

Hartmann nickte. Er wirkte irgendwie niedergeschlagen. »Sobald wir in der Station sind, ja«, sagte er. »Aber dann kann es zu spät sein.«

»Wieso in der Station?« wunderte sich Felss.

»Es ist möglich, daß wir diesen Posten aufgeben müssen«, antwortete Hartmann in einem Ton, der Felss klarmachte, daß er nicht bereit war, mehr zu diesem Thema zu sagen. Er kehrte auch unmittelbar zu dem zurück, worüber sie die letzten zwanzig Minuten geredet hatten.

»Um Captain Laird und die beiden anderen Frauen kümmere ich mich«, sagte er. »Sie behalten diesen Kyle im Auge - oder wie immer er wirklich heißen mag. Hat er gemerkt, daß Sie Verdacht geschöpft haben?«

Felss schüttelte den Kopf.

»Das ist gut«, sagte Hartmann. »Dabei sollte es auch bleiben. Was ist mit dem anderen? Er könnte ein Dreckfresser sein.«

Wieder schüttelte Felss den Kopf. »Nein«, sagte er. »Ich weiß nicht, wer er ist, aber ein Dreckfresser ganz bestimmt nicht.«

»Gut«, sagte Hartmann. Er klang erleichtert.

Er hatte auch allen Grund dazu, dachte Felss, denn wenn die Dreckfresser eine Intelligenz entwickelt hätten, die es ihnen ermöglichte, eine so komplizierte und überzeugende Täuschung aufzubauen, dann waren sie mehr als ein Ärgernis.

»Also«, sagte Hartmann und stand auf. »Gehen Sie und halten Sie die beiden ein wenig im Auge. Und informieren Sie auch Lehmann über unser Gespräch.«


*


Es dauerte zwei Stunden, bis die Drohne zurückkam, und nicht nur Charity riß erstaunt die Augen auf, als sie das schwarzbraune Etwas erblickten, das Felss lässig unter den linken Arm geklemmt hatte und das vielmehr an ein lebendes Wesen als an einen Spionagesatelliten erinnerte. Das Gerät hatte die Form einer abgeflachten, ovalen Scheibe, aber jemand hatte den Chitinpanzer eines riesigen, glotzäugigen Käfermonstrums ausgehöhlt und ihn so geschickt umgearbeitet, daß er einen natürlichen Tarnanzug bildete. Selbst aus einer Entfernung von nur wenigen Schritten würde diese Drohne niemandem als das auffallen, was sie wirklich war.

Charity zog anerkennend die Augenbraue hoch und sah Felss an. »War das Ihre Idee?«

Der junge Soldat schüttelte den Kopf und deutete mit einer stummen Geste auf Hartmann.

»Kein schlechter Einfall«, sagte Charity, aber Hartmann knurrte auf seine gewohnte, unfreundliche Art:

»Sie können mir später einen Heiligenschein verpassen, Captain Laird. Jetzt lassen Sie uns sehen, was sich dort draußen tut.« Er drückte einen Knopf auf der Oberseite des Gerätes, und eine winzige Videokassette fiel in seine Hand. Rasch trug er sie zu einem Abspielgerät, schaltete es ein und blickte konzentriert auf den Monitor.

Im ersten Augenblick war auf dem Bildschirm nichts Außergewöhnliches zu erkennen - sah man davon ab, daß die Landschaft, über die die Drohne hinweggeglitten war, einen völlig verwüsteten Anblick bot. Ein paar Sekunden lang irritierte Charity der scheinbare ziellose, ruckhafte Flug des Gerätes, aber dann begriff sie, daß die Drohne nichts anderes als den taumelnden Flug eines Käfers nachgeahmt hatte.

Der Käfer hatte sich eine Weile scheinbar ziellos zwischen den ausgebrannten Ruinen der Stadt hin und her bewegt, wobei seine Tarnung möglicherweise sogar ein wenig zu perfekt gewesen war, denn zweimal war er von riesigen, fliegenden Kreaturen angegriffen worden, denen er aber jedesmal mit Leichtigkeit ausgewichen war. Einmal glaubte Charity, auf dem Bild eine menschliche Gestalt vorüberhuschen zu sehen, aber als sie Hartmann danach fragte, tat er so, als hätte er ihre Worte nicht gehört. Schließlich berührte der Leutnant einen Knopf und ließ die Aufnahme mit zehnfacher Geschwindigkeit laufen. Trotzdem vergingen noch Minuten, in denen der Bildschirm nichts anderes als graue, ausgebrannte Ruinen zeigte. Dann stoppte das Bild plötzlich, als die Drohne angehalten hatte, und Hartmann schaltete hastig auf die normale Geschwindigkeit zurück.

Am Ende des verheerten Straßenzuges, den der Monitor zeigte, schwebte eine große silberfarbene Scheibe über dem Boden. Eine schmale Zunge aus Metall hatte sich aus ihrer Unterseite hervorgerollt und entließ Dutzende der schwarzen Ameisenkreaturen von Moron ins Freie.

»Soldaten«, sagte Kyle ruhig.

Charity sah verwirrt auf. »Sind sie das denn nicht alle?«

Kyle schüttelte den Kopf, ohne den Blick vom Monitor zu wenden. »Die meisten sind Arbeiter«, sagte er. »Sie kämpfen auch, wenn es sein muß. Aber das da sind Soldaten. Sie sind viel stärker und gefährlicher.«

Die Ameisen sammelten sich zu kleinen Gruppen und begannen dann, zu Fuß tiefer in das verwüstete Gebiet jenseits des Gleiters vorzudringen. Charity sah, daß die meisten von ihnen nicht mehr mit den üblichen kleinen Strahlenpistolen, sondern mit schweren, bizarr geformten Gewehren bewaffnet waren; andere schienen eine Art Meß- oder Ortungsgeräte mit sich zu schleppen, auf die sie immer wieder herabblickten, um sich dann mit schrillen Pfiffen zu verständigen.

»Ihre Freunde scheinen verdammt viel Wert darauf zu legen, Sie wiederzusehen«, sagte Hartmann sarkastisch. Er deutete auf das kleine Bildschirmfenster, das an der rechten unteren Ecke des Monitors erschienen war. »Die Strahlung dort reicht aus, einen Menschen in zehn Minuten umzubringen.«

»Radioaktivität macht ihnen nichts aus«, sagte Kyle. »Jedenfalls nicht viel.«

Abermals sah Hartmann ihn voller Mißtrauen an. »Sie wissen eine ganze Menge über diese Biester.«

Kyle nickte. Ein flüchtiges Lächeln huschte über seine Züge. »Sie doch auch«, sagte er. »Man sollte seinen Feind kennen, um ihn richtig bekämpfen zu können.«

Zumindest den letzten Satz hatte er einzig und allein gesprochen, um Hartmann zu beruhigen. Aber seine Worte hatten ihre Wirkung verfehlt. Hartmann traute Kyle nicht. Und er machte nicht sehr viel Hehl aus seinen Gefühlen.

Die Drohne glitt weiter, wobei sie nun dicht über dem Boden schwebte und jede natürliche Deckung ausnutzte, um nicht bemerkt zu werden. Eine Zeitlang folgte sie einer der Ameisengruppen, schlug dann eine andere Richtung ein und verharrte wiederum minutenlang in der Nähe des Landesplatzes eines weiteren Gleiters. Dieses Verhalten wiederholte sich vier- oder fünfmal hintereinander, wobei der Kurs, den das Instrument zurückgelegt hatte, auf einem zweiten, kleineren Bildschirmfenster zu verfolgen war. Offensichtlich waren die Gleiter am Rand eines gewaltigen, imaginären Kreises gelandet; wahrscheinlich der Grenze jenes Gebietes, das sie zuvor bombardiert hatten.

Hartmann warf ihr einen schwer zu deutenden Blick zu. »Was um alles in der Welt haben Sie getan?« fragte er. »Ich habe so etwas noch nie erlebt.«

»Nichts«, antwortete Charity beinahe hilflos. »Aber das ist auch nicht die Frage. Die Frage ist, was sie glauben, das wir getan haben.«

Hartmann konzentrierte sich wieder auf die Videoaufzeichnung. Die Bilder begannen einander zu gleichen: Gleiter, die sehr langsam und sehr tief über die Stadt flogen, und Gleiter, die gelandet waren und schier endlose Ketten schwarzer, spinnengliedriger Gestalten entließen. Offensichtlich drangen die Ameisen von allen Seiten des Kreises gleichzeitig in die verwüstete Stadt ein, um alles, was das Bombardement überlebt hatte, vor sich her und schließlich in die Enge zu treiben.

Die Aufzeichnung dauerte fast eine halbe Stunde, ohne ihnen noch weitere, neue Informationen zu bringen. Schließlich begann sich die Drohne wieder von der Front der Gleiter zu entfernen, und Hartmann wandte sich mit einem fast enttäuschten Seufzer vom Bildschirm ab, ließ die Aufzeichnung aber weiterlaufen.

»Mehr erfahren wir jetzt nicht mehr«, sagte er. »Falls wir überhaupt etwas erfahren haben.« Bei den letzten Worten hatte er Charity fragend angeschaut, doch sie wich seinem Blick aus. Plötzlich aber fuhren neben ihr sowohl Net als auch Skudder erschrocken zusammen. Der Hopi deutete mit dem ausgestreckten Arm auf den Monitor hinter Hartmann. »Seht doch!«

Aller Blicke wandten sich wieder dem Bildschirm zu. Die Drohne hatte auf ihrem Weg zurück noch einmal haltgemacht. Direkt auf der Straße vor ihr war eine weitere der gewaltigen schimmernden Flugscheiben gelandet. Auch in ihrem Rumpf hatte sich eine Luke geöffnet, aber die Gestalt, die aus diesem Gleiter hervorkam, war keine Ameise, sondern ein Mensch, der durch den gewaltigen, schwerfälligen Anzug, in den er gehüllt war, plump und ungeschickt wirkte.

»Das ist...« begann Charity, und Kyle unterbrach sie: »Governor Stone.«

Sowohl Charity als auch Skudder und Net sahen den Megamann ungläubig an, während Hartmann mißtrauisch die Augen zusammenkniff. »Woher wollen Sie wissen, wer das ist?« fragte er. Mit einer eher zornigen als fragenden Geste auf den Monitor fügte er hinzu: »In diesem Anzug kann wer weiß wer stecken.«

Kyle fing Charitys warnenden Blick auf - der, wie sie unbehaglich registrierte, auch Hartmann nicht entgangen war - und antwortete gelassen. »Ich habe seine Rangabzeichen auf dem Anzug erkannt. Hier - sehen Sie?« Er trat ganz dicht an den Monitor heran und deutete auf ein kaum stecknadelgroßes Funkeln über dem Herzen der menschlichen Gestalt. Hartmann starrte ihn einen Moment lang feindselig an, bequemte sich aber dann, sich vorzubeugen und seine Augen so dicht an den Monitor heranzubringen, daß seine Nase beinahe die Scheibe berührte. Fast eine Minute lang blickte er angestrengt auf die kaum handgroße, menschliche Gestalt, dann richtete er sich wieder auf und sagte nach einem weiteren, sehr mißtrauischen Blick in Kyles Gesicht: »Sie müssen verdammt gute Augen haben, junger Mann.«

»Das habe ich«, bestätigte Kyle.

Charity atmete auf. Vielleicht konnte Kyle seine Tarnung noch eine Weile aufrechterhalten.

»Wer ist das - Stone?« fragte Hartmann.

»Ein persönlicher Freund von uns«, antwortete Charity hastig, wobei sie das Wort Freund übermäßig betonte. Mit einem säuerlichen Blick auf den Monitor fügte sie hinzu: »Ich würde ihn wahrscheinlich auch im Dunkel und mit verbundenen Augen erkennen. Er hat uns lange genug gejagt.«

»Und wie es aussieht«, sagte Hartmann, »tut er es noch immer.«

»Ich hätte diesem Kerl den Hals herumdrehen sollen, als ich die Gelegenheit dazu hatte«, knurrte Skudder.

Hartmann lächelte flüchtig, aber sein Blick blieb ernst. Es war nicht leicht, diesem Mann etwas vorzumachen, dachte Charity. Er mußte längst gespürt haben, daß sie ihm etwas verheimlichten.

In die sonderbare Stille hinein meldete sich der junge Techniker hinter dem Computerpult mit einem lautstarken, unechten Räuspern. Hartmann sagte nichts, trat aber wortlos neben ihn und beugte sich über seine Schulter.

Charity tauschte einen fragenden Blick mit Kyle, ehe sie Hartmann folgte und sich ebenfalls über das Pult beugte. »Schwierigkeiten?« fragte sie.

»Vielleicht«, antwortete Hartmann ausweichend. »Das kann ich jetzt noch nicht sagen.«

»Können wir helfen?« fragte Kyle.

»Es wäre schon eine große Hilfe, wenn Sie nicht im Weg stehen würden. Bitte gehen Sie in Ihre Quartiere zurück.«

»Sie meinen, unsere Zellen?« fragte Charity ironisch.

Hartmann sah mit einem Ruck auf. In seinen Augen blitzte es, dann sagte er gepreßt: »Selbstverständlich steht Ihnen mein Privatquartier zur Verfügung, Captain Laird. Und Ihren Begleitern ebenfalls. Leutnant Felss wird Sie hinbringen und zu Ihrer Verfügung stehen, bis ich Sie wieder brauche.«

Hartmann drückte einen Knopf auf dem Pult vor sich, und der junge Leutnant und ein zweiter Soldat, dessen Namen sie nicht kannte, erschienen unter der Tür der kleinen Überwachungszentrale. Hartmann deutete auf Charity und die anderen und sagte: »Bringen Sie unsere Gäste in meine Räume. Und bleiben Sie bei ihnen - falls sie irgendwelche Wünsche haben.«

Sie verließen den Raum ohne ein weiteres Wort und gingen über den kurzen Korridor aus nacktem Beton zurück in jenen Raum, in dem Charity das erste Mal mit Hartmann gesprochen hatte. Die beiden Soldaten waren sehr zuvorkommend, aber auch sehr viel weniger diplomatisch als ihr Vorgesetzter. Der Ausdruck auf ihren Gesichtern machte deutlich, als was sie Charity und ihre Begleiter plötzlich betrachteten: als Gefangene.

»Ich verstehe das nicht ganz«, sagte Net, als die beiden Soldaten sie alleingelassen und die Tür hinter sich geschlossen hatten. »Was ist plötzlich los? Er behandelt uns, als wären wir ...«

Sie suchte einen Moment nach Worten, und Kyle sprang hilfreich ein. »Feinde«, sagte er.

Das Wort schien Net zu erschrecken, aber weniger, weil es sie überraschte, sondern wohl eher, weil es das ausdrückte, was sie selbst empfand.

»Er mißtraut uns«, sagte Kyle. »Und vor allem mir. Ich weiß nicht warum, aber ich habe es genau gespürt.«

»Kann es sein«, fragte Skudder, »daß er weiß, wer du bist?«

Kyle setzte zu einer Antwort an, wandte sich aber dann mit einer ruckhaften Bewegung um und trat an die Wand neben der Tür. Seine Fingerspitzen glitten wie suchend über die winzige Schalttafel darin, verharrten einen Moment, und als er die Hand wieder zurückzog, hielt er die Überreste eines winzigen Mikrofons mit abgerissenen Kabelenden zwischen Daumen und Zeigefinger.

Nicht einmal eine Sekunde später glitt die Tür auf, und Felss' junger Kollege kam herein, seine rechte Hand lag ganz unverhohlen auf dem Kolben der Pistole in seinem Gürtel. Als er sah, was Kyle in der Hand hielt, verwandelte sich der Ausdruck auf seinem Gesicht von Verwirrung in Zorn, aber der Megamann ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen, sondern hielt ihm mit einem fast fröhlichen Lächeln das winzige Mikrofon entgegen.

»Ich glaube, Sie suchen das hier«, sagte er. »Sie sollten Ihre Abhörgeräte ein wenig besser verstecken.«

Auf dem Gesicht des jungen Soldaten - das kleine Schildchen über seiner linken Brustseite identifizierte ihn als Unteroffizier Lehmann - mischten sich Verblüffung mit Zorn und Hilflosigkeit.

»Was soll das?« fragte Charity. »Ist es bei Ihnen üblich, die Privatgespräche Ihrer Gäste zu belauschen?«

Der scharfe Ton ihrer Worte erzielte die erhoffte Wirkung. Der Soldat sagte noch immer kein Wort, er blickte ratlos auf das zerstörte Miniaturmikrofon auf seiner Handfläche herunter, dann schloß er mit einem Ruck die Faust darum und stürmte aus dem Raum. Hinter ihm glitt die Tür zu und rastete mit einem hörbaren Klicken ein.

»Übertreib es nicht, Kyle«, sagte Charity, während sie gleichzeitig aufatmete. »Können wir jetzt offen reden?«

Kyle schien einen Moment in sich hineinzulauschen, dann nickte er wortlos.

»Ich möchte wissen, was das alles bedeutet!« knurrte Skudder. Er blickte die Tür an, die sich hinter Lehmann geschlossen - und verriegelt! - hatte, als gäbe er ihr ganz persönlich die Schuld an ihrer mißlichen Lage. »Ich bin es allmählich leid, ständig verhaftet, und ausgefragt zu werden!«

»Vielleicht liegt das an deinem Aussehen, Rothaut«, sagte Gurk spitz. »Zwei Meter große Indianer mit Punkerfrisur und in Rocker-Klamotten müssen ja das Mißtrauen eines preußischen Offiziers erwecken.«

»Immer noch besser als abgebrochene Zwerge mit eingeschlagenen Nasen«, antwortete Skudder und schüttelte drohend eine Faust vor Gurks Gesicht. Der Gnom wich mit übertrieben geschauspielertem Entsetzen zurück und hob abwehrend die Hände über dem Kopf.

»Hört auf!« sagte Charity scharf. Ihr war im Moment ganz und gar nicht nach Scherzen zumute. Sie hatte das Gefühl, daß ihre Situation vielleicht ernster war, als sie im Moment ahnten.

»Ich begreife nicht, warum sie sich plötzlich solche Mühe machen, uns einzufangen - oder sich von unserem Tod zu überzeugen.« Sie lehnte sich mit vor der Brust verschränkten Armen an die Wand neben der Tür und sah nachdenklich zu Boden. »Okay - Stone würde wahrscheinlich ein Jahr seines Lebens dafür geben, uns wieder in die Finger zu bekommen. Aber das allein kann es nicht sein.«

»Wieso?« fragte Helen. »Er hat euch doch schon drüben in den Staaten gejagt, oder?«

»Ununterbrochen«, bestätigte Charity. »Aber nicht mit einem solchen gigantischen Aufwand. Mit diesem Einsatz von Material und Kriegern hätte er uns binnen zehn Minuten gestellt.«

»Außerdem wollte er uns bisher nicht umbringen«, fügte Net hinzu.

Helen sah sie zweifelnd an, aber Kyle bestätigte die Worte der Wastelanderin. »Ich hatte Befehl, sie lebend zu fangen«, sagte er mit einer Kopfbewegung auf Charity.

»Und plötzlich wirft er Atombomben, um uns auszuschalten«, fügte Charity seufzend hinzu. »Ein ziemlich radikaler Stimmungswandel, wenn ihr mich fragt.«

»Vielleicht ist es meinetwegen«, vermutete Kyle. »Es ist das erste Mal, daß die Konditionierung eines Megakriegers durchbrochen wurde. Sie werden alles tun, um mich zu fangen oder zu eliminieren. Wir hätten uns trennen sollen.«

»Du täuscht dich, Kyle«, antwortet Charity. »Vielleicht bist du der erste, der sich ganz offen gegen sie gestellt hat. Aber ich glaube, die Idee, unsere eigenen Kinder zu unseren schlimmsten Feinden zu machen, funktioniert nicht ganz so gut, wie sie es sich vorgestellt haben.« Sie deutete mit einer Kopfbewegung auf Helen. »Denk nur an ihren Vater.«

Sie sah, wie Helen zusammenfuhr, und begriff, daß sie schon wieder einen Fehler gemacht hatte. Die Tatsache, daß Helen seit ihrer Flucht aus Paris kaum ein Wort gesprochen hatte, war kein Zufall. Das Mädchen hatte die Erkenntnis, daß der Mann, den es für seinen Vater gehalten hatte, in Wirklichkeit auf der Seite der Invasoren stand, noch längst nicht verkraftet. Sie war nicht einmal sicher, ob sie überhaupt mit dieser Erkenntnis fertig werden würde.

»Vielleicht ist diese Station hier der Grund«, sagte Net plötzlich. »Ich kann mir kaum vorstellen, daß sie ein halbes Land in Schutt und Asche legen, nur um ein paar Möchtegern-Revoluzzer und einen abtrünnigen Cyborg« - dabei warf sie einen fast spöttischen Blick in Kyles Richtung - »unschädlich zu machen. Aber das hier...«

»Ein paar schrottreife Computer und fünf Spielzeugsoldaten?« fragte Skudder zweifelnd.

»Das kann nicht alles sein«, sagte Charity.

»Natürlich nicht«, sagte Skudder. »Wahrscheinlich ist es alles, was übriggeblieben ist.«

Charity schüttelte abermals den Kopf. »Nein. Ich habe mich gründlich umgesehen - die Geräte hier sind allesamt alt, aber in ziemlich gutem Zustand. Entweder Hartmann verschweigt uns etwas, oder ...«

Die Tür flog auf, und Felss und Lehmann stürmten herein; die Waffen im Anschlag und einen Ausdruck in den Augen, der Charity klarmachte, daß sie bereit waren, sie auch zu benutzen.

»Was soll das?« fragte Charity. »So ...«

»Seien Sie still!« unterbrach sie Lehmann grob und richtete seine Waffe zuerst auf Kyle, dann auf Charity. »Sie beide!« sagte er barsch. »Mitkommen! Die anderen bleiben hier.«

»Aber wieso ...?« begann Kyle.

Lehmann trat mit einem blitzschnellen Schritt auf ihn zu und schlug ihm mit dem Handrücken über den Mund. Charity wußte, daß es Kyle ein leichtes gewesen wäre, dem Hieb auszuweichen oder den Soldaten zu entwaffnen, aber der Megamann zuckte nicht einmal mit den Wimpern. Er taumelte einen halben Schritt zurück, verzog schmerzhaft das Gesicht und hob die Hand an die Lippen, die aufgeplatzt waren und leicht zu bluten begannen.

»Maul halten, habe ich gesagt!« fauchte Lehmann. »Und die anderen bleiben hier!« Er trat hastig wieder zwei Schritte zurück und gab Charity und Kyle mit einem zornigen Wink zu verstehen, daß sie ihm folgen sollten.

Völlig verwirrt und doch erleichtert, daß Kyle geistesgegenwärtig genug gewesen war, seine Rolle weiterzuspielen, trat Charity zwischen den beiden Soldaten hindurch auf den Korridor hinaus und wandte sich nach rechts. Kyle folgte ihr, aber er schien für Lehmanns Geschmack nicht schnell genug zu gehen, denn der Soldat versetzte ihm einen groben Stoß.

Charity drehte sich zornig herum. »Zum Teufel, was soll das?« fragte sie zornig.

»Gehen Sie weiter!« befahl Lehmann. »Leutnant Hartmann wird Ihnen alles erklären.«

Die Panzertür zur Zentrale stand halb offen, und obwohl erst wenige Minuten vergangen waren, seit sie den Raum verlassen hatten, schien er sich völlig verändert zu haben. Hinter dem Computerpult saßen jetzt zwei Techniker, und auch Hartmann hatte sich mit besorgtem Gesichtsausdruck über einen mit Skalen und kleinen Bildschirmen übersäten Tisch gebeugt. Sämtliche Monitoren in der Wand waren zum Leben erwacht und zeigten Ausschnitte der Stadt.

»Was ist passiert?« fragte Charity.

Hartmann starrte sie einen Moment lang an, als sähe er sie zum ersten Mal. Seine Augen wurden schmal. »Wissen Sie das wirklich nicht, oder sind Sie einfach eine gute Schauspielerin?«

Mit mühsam beherrschter, aber hörbar zitternder Stimme antwortete Charity: »Ich würde nicht fragen, wenn ich es wüßte. Was ist los?« Sie deutete auf Lehmann, der einen halben Schritt hinter Kyle stand. »Wieso behandeln Sie uns plötzlich wie Gefangene? Was geht hier vor?«

Hartmann schwieg einen Moment. Dann richtete er sich ganz auf und gab dem Soldaten einen Wink, die Waffe herunterzunehmen. Lehmann gehorchte, hielt das Gewehr aber weiter schußbereit in den Händen.

»Sie haben uns entdeckt«, sagte Hartmann. Er deutete auf die Wand aus flimmernden Monitoren, auf denen eine ganze Armee aus scheinbar langsam dahintreibenden Gleitern und schwarzen, vierarmigen Ameisenkriegern zu sehen war. »Es gibt keinen Zweifel. Sie sind auf dem Weg hierher. Sie scheinen noch nicht ganz genau zu wissen, wo wir sind, aber sie kommen näher.«

»Und jetzt glauben Sie, das wäre unsere Schuld«, vermutete Charity.

»Ich glaube überhaupt nichts«, antwortete Hartmann kalt. »Ich zähle nur zwei und zwei zusammen, Captain Laird. Wir sitzen seit fünfzig Jahren hier, und sie versuchen seit fünfzig Jahren, uns zu finden. Und ausgerechnet heute sieht es so aus, als wäre es ihnen gelungen. Ein sonderbarer Zufall, nicht wahr?«

»Vielleicht ist es kein Zufall«, sagte Kyle ruhig.

»Zu genau dem gleichen Schluß bin ich auch gekommen«, erwiderte Hartmann.

»Sie glauben doch nicht etwa, daß wir Sie verraten haben?!« sagte Charity empört.

»Nein«, antwortete Hartmann. »Sie wahrscheinlich nicht, Captain Laird, aber vielleicht Ihr sonderbarer Freund. Ich bin weder dumm noch blind. Wer immer dieser Kerl ist, eines ist er bestimmt nicht: irgendein Revoluzzer wie Ihr Freund, der Indianer.«

»Das stimmt sogar«, gestand Charity.

»Sie kommen näher, Herr Leutnant«, sagte einer der beiden Techniker. »Noch vier oder fünf Kilometer...« Er zog nachdenklich die Unterlippe zwischen die Zähne. »Ich verstehe das nicht«, murmelte er. »Wenn ich nicht wüßte, daß es unmöglich ist, würde ich meine rechte Hand darauf verwetten, daß sie eine Dreieckspeilung durchführen.«

Hartmanns Blick wurde vorwurfsvoll, und Charity lächelte spöttisch. »Wenn Sie glauben, daß wir einen Funkpeilsender oder sonst etwas bei uns haben, dann durchsuchen Sie mich ruhig, Herr Leutnant. Nur keine falsche Scham.«

In Hartmanns Augen blitzte es zornig auf. »Ich sagte bereits, ich bin weder dumm noch blind«, antwortete er gereizt. »Ich weiß, daß keiner von Ihnen etwas Derartiges bei sich trägt. Aber verraten Sie mir, wie sie uns sonst gefunden haben sollen - wenn nicht durch Sie?«

»Vielleicht haben sie die Drohne angepeilt«, sagte Charity achselzuckend.

Hartmann machte eine ärgerliche Geste.

»Unsinn!« sagte er. »Die wurde gründlich durchgecheckt, ehe wir sie zurückgerufen haben. Glauben Sie, wir hätten fünfzig Jahre hier durchgehalten, wenn wir so leicht zu übertölpeln wären?«

Kyle sah ihn einen Moment lang fragend an, dann ging er langsam und ohne ein Wort zu dem kleinen Kartentisch hinüber, auf dem die Drohne und ihr Käferpanzer lagen. Hartmann folgte ihm mit feindseligen Blicken, sagte aber nichts und scheuchte auch Lehmann zurück, der kampflustig die Lippen schürzte und Kyle folgen wollte. Charity sah, wie Kyle die mattgraue Metallscheibe hochhob und einen Moment in den Händen drehte, ehe er sie wieder zurücklegte und sich dem ausgehöhlten Käferpanzer zuwandte.

»Wieviel Zeit haben wir noch?« fragte Charity.

Anstelle einer direkten Antwort blickte Hartmann zuerst die Batterie flimmernder Monitore an, auf denen die näher rückende Moroni-Armee zu sehen war, dann die beiden Techniker hinter ihren Pulten.

»Zehn Minuten, allerhöchstens fünfzehn«, antwortete einer der beiden Männer. »Wenn sie uns nicht vorher anpeilen.«

»Das können sie nicht«, widersprach Hartmann. Es klang eher hilflos als überzeugt. Und der Techniker machte sich nicht einmal die Mühe, etwas darauf zu erwidern.

»Doch, das können sie.«

Sowohl Charity als auch Hartmann sahen bei Kyles Worten alarmiert auf. Der Megamann war wieder vom Kartentisch zurückgetreten und hielt den Insektenpanzer der Drohne in der rechten und einen kleinen schwarzen Gegenstand in der ausgestreckten linken Hand. »Ich hatte recht«, sagte er. »An dem Ding saß eine Wanze.«

»Das ist völlig ausgeschlossen!« ereiferte sich Hartmann. »Wir haben sie mehrfach ...«

Seine Augen weiteten sich ungläubig, als er sah, was Kyle in der ausgehöhlten Insektenschale gefunden hatte.

Es war eine Wanze. Im wahrsten Sinne des Wortes - keines jener kleinen, heimtückischen, technischen Geräte, die man gemeinhin mit diesem Wort bezeichnete, sondern eine wirkliche Wanze.

Das Tier war nicht größer als ihr kleiner Fingernagel. Es hatte einen schwarzbraunen, schimmernden Chitinpanzer, wie fast alle Lebewesen, die die Invasoren von ihrer Heimatwelt mitgebracht hatten, und eine Unzahl von winzigen, emsig wirbelnden Beinchen.

»Was ist das?« fragte Hartmann.

»Ein Finder«, antwortete Kyle.

Als sowohl Hartmann als auch Charity fragend die Stirn runzelten, fuhr er erklärend fort: »Sie setzen sie ein, wenn sie jemanden aufspüren wollen. Sie sind nicht besonders intelligent und nicht gefährlich, aber sie haben zwei Besonderheiten - sie sind monogam und sie sind telepathisch.«

Die Verwirrung in Hartmanns Augen schlug in jähes Entsetzen um. »Sie meinen, dieses Ding ... liest unsere Gedanken?!«

»Nein«, antwortete Kyle kopfschüttelnd. »Ein Paar, das einmal zusammengefunden hat, bleibt sein Leben lang zusammen. Ungewöhnlich für Insekten, aber für sich allein genommen noch nicht gefährlich. Wenn eines stirbt, dann stirbt auch das andere. Und sie können die Gedankenwellen ihres Partners über Hunderte von Meilen hinweg orten. Und das macht sie wirklich gefährlich.«

Er deutete auf die Bildschirme hinter sich.

»Sie haben das hierzu passende Weibchen in irgendeinem dieser Gleiter«, sagte er. »Sie brauchen nur der Richtung zu folgen, in die es will, und werden uns finden.« Er zögerte einen Moment, dann nahm er das winzige Insekt zwischen Daumen und Zeigefinger und drückte zu. Ein trockenes Knacken erklang, und Hartmann verzog angeekelt das Gesicht, als Kyle die Überreste des winzigen Tieres zu Boden fallen ließ und noch einmal mit dem Absatz darauf trat.

»Das ist ... unglaublich«, murmelte er.

»Nein«, sagte Kyle ruhig. »Es ist nicht einmal ungewöhnlich. Sie setzen sie sehr oft ein. Sie sind zuverlässiger als kunstliche Peilsender; und sehr viel schwerer zu entdecken.«

Hartmann blickte ihn durchdringend an. »Woher wissen Sie das alles?« fragte er. »Sie sind keiner von diesen Rebellen. Und Sie gehören auch nicht zu Captain Laird.«

»Das stimmt«, gestand Kyle. »Aber wir sollten später darüber reden.« Er deutete wieder auf die Wand aus flimmernden Monitoren. »Sie werden jetzt etwas länger brauchen, aber sie werden uns trotzdem finden. Sie sollten schnellstens von hier verschwinden.«

»Und die Station aufgeben?« fragte Hartmann. Er schüttelte trotzig den Kopf. »Sie suchen uns seit einem halben Jahrhundert, ohne uns zu finden.«

»Weil sie es nicht ernsthaft versucht haben«, sagte Kyle ruhig. »Glauben Sie mir, Leutnant Hartmann - wenn sie etwas wirklich wollen, dann tun sie es auch.«

»Schlimmstenfalls können wir uns auch noch wehren«, erwiderte Hartmann. »Es sind ziemlich viele, aber ich glaube, wir könnten mit ihnen fertig werden.«

»Das können Sie nicht«, sagte Kyle. »Es sind fünfzig oder sechzig Gleiter, und wenn Sie diese abwehren, dann schicken sie fünfhundert oder sechshundert neue.«

»Oder jemanden wie Sie«, sagte Hartmann leise.

»Oder jemanden wie mich«, bestätigte Kyle. Zwei, drei Sekunden lang starrte Leutnant Hartmann ihn wortlos an, dann senkte er den Blick, atmete tief ein und nickte schließlich. »Holen Sie Leutnant Felss und die anderen, Lehmann«, sagte er.

»Und dann gehen Sie, und machen Sie den Fluchttunnel klar.«

Er wandte sich zu den beiden Männern hinter den Computerpulten um.

»Und wir bereiten inzwischen alles zur Evakuierung vor. In spätestens zehn Minuten ist der Laden hier leer.«

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