13


Auf Hartmanns Befehl hin hatten sie noch gute zehn Minuten abgewartet, ehe die drei Helikopter weitergeflogen waren; sehr tief und so schnell, daß es Charity unmöglich war, die Entfernung zu schätzen, die sie in der folgenden Viertelstunde zurücklegten. Außerdem änderten die Maschinen ständig ihren Kurs und flogen einige großräumige Ausweichmanöver, wenn auf den Radarschirmen Moroni-Gleiter auftauchten.

Die Landschaft wurde hügeliger, nachdem sie das Gebiet der Stadt verlassen hatten. Bald tauchten die ersten Wälder unter ihnen auf, zwischen denen gelegentlich die Ruinen kleinerer Städte vorüberhuschten. Schließlich steuerten die Helikopter auf ein silbernes Funkeln zu, das rasch zu einem kleinen See heranwuchs. Die Maschinen wurden schließlich langsamer. Der Orkan der wirbelnden Rotorblätter peitschte das Wasser, während die drei Helikopter allmählich tiefer sanken. Als sich die Maschinen noch zehn Meter über dem Wasser befanden, sah Charity Hartmann besorgt an.

»Erzählen Sie mir nicht, daß die Dinger auch tauchen können«, sagte sie.

Hartmann lächelte geheimnisvoll. »Lassen Sie sich überraschen«, antwortete er.

Doch noch ehe sie eine weitere Frage stellen konnte, hatten die Maschinen das Wasser berührt - und glitten widerstandslos hindurch.

Für eine Sekunde sah Charity nichts, außer silberne Schleier, die an der Kanzel des Helikopters vorbeizogen, und sie mußte all ihre Willenskraft aufbieten, um nicht in Panik zu geraten.

Dann erlosch das verwirrende Flirren, und sie erkannte, daß sich die Maschine nicht unter Wasser befand. Unter ihnen erstreckte sich der schwarze Lava-Trichter des Sees, auf dessen eingeebnetem Grund eine ganze Anzahl weiterer Stealth-Copter abgestellt war.

Überrascht hob Charity den Kopf und blickte auf. Über ihnen erstreckte sich ein weiteres Flimmern, das sich ihren Blicken immer wieder zu entziehen schien. »Eine ... Holographie?!« murmelte sie erstaunt.

Hartmann nickte. »Perfekt, nicht wahr? Wir haben verdammt lange daran gearbeitet, das System so zu vervollkommnen, aber es hat sich gelohnt.«

Verblüfft beugte Charity sich über die Schulter des Piloten, um mehr erkennen zu können. Der Krater war ungefähr eine halbe Meile tief; sein Boden bestand aus der gleichen schwarzen Lava wie die Wände, war aber sorgsam geglättet. Zwischen den im Halbkreis abgestellten Helikoptern bewegte sich eine Anzahl winziger Gestalten, die hastig beiseite rannten, um nicht vom Wirbeln der Rotoren von den Füßen gerissen zu werden. Auf der offenen Seite des Halbkreises, den die Maschinen bildeten, führte ein gewaltiges, zweiflügliges Stahltor tiefer in die Erde hinein. Rechts und links davon erkannte Charity eine Anzahl halbrunder Betonkuppeln, aus denen die Läufe großer Laserwaffen ragten. Der vermeintliche See war nicht nur ein geheimer Helikopterhangar, sondern auch eine Festung.

Der Helikopter setzte mit einem leichten Ruck auf. Die große Tür an der Seite der Maschine glitt summend auf, und Hartmann machte eine einladende Handbewegung, schüttelte aber den Kopf, als Charity sich umwenden und zu Skudder zurückgehen wollte. »Man wird sich um Ihren Freund kümmern«, sagte er. »Er wird sofort zu Ihnen gebracht, sobald er das Bewußtsein zurückerlangt, darauf gebe ich Ihnen mein Ehrenwort.«

Mit einem beruhigenden Blick in Nets Richtung stieg Charity schließlich aus. Die Männer, die vor dem landenden Helikopter zurückgewichen waren, kehrten zurück. Charity fiel auf, daß sie ausnahmslos recht jung waren; keiner von ihnen war älter als Felss oder Lehmann. Sie waren alle sehr groß und breitschultrig und bewegten sich sehr hastig. Ihnen allen schien eine sonderbare Spannung anzuhaften, fast als wäre die Landung der drei Helikopter etwas, das sie vielleicht schon tausendmal geübt, aber niemals wirklich erlebt hatten.

»Was ist mit Ihrer Freundin?« fragte Hartmann. »Kommt sie nicht mit?«

Charity schüttelte den Kopf. »Nein. Sie möchte ... bei Skudder bleiben.«

Hartmann lachte leise. »Ich verstehe Ihr Mißtrauen, Captain Laird. Aber glauben Sie mir, es ist durch und durch unberechtigt.«

Sie näherten sich dem Panzertor, das sich einen Spaltbreit öffnete, als sie noch fünf Schritte davon entfernt waren. Charity tat so, als bemerke sie es nicht, aber ihr entging keineswegs, daß eine der Laserkanonen ihren Bewegungen lautlos folgte. Der Mann an den Kontrollen dieser Waffe, dachte Charity spöttisch, mußte sehr mißtrauisch sein - und ein kompletter Idiot. Wenn er diese Kanone hier abfeuerte, dann würde sich dieser getarnte Hangar in einen wirklichen Vulkan verwandeln.

Bevor sie das Tor durchschritten, blieb Hartmann stehen und streckte die Hand aus. »Dürfte ich Sie um Ihre Waffe bitten, Captain Laird?« fragte er.

»Wie bitte?« fragte Charity überrascht.

Hartmann zuckte bedauernd mit den Schultern. »Vorschriften - Sie kennen das ja.«

»Nein«, antwortete Charity ruhig, »das kenne ich nicht. Gehört bei Ihnen zu den Vorschriften, Verbündete zu entwaffnen?«

»Eigentlich nicht«, gestand Hartmann, »aber die ganze Anlage wird von einem Computer überwacht, der leider starrsinnig ist. Er glaubt nicht so ohne weiteres, daß Sie zu uns gehören.«

Charity war zu erschöpft, um sich auf einen weiteren Streit mit dem Leutnant einzulassen. Mit einem resignierenden Seufzer nahm sie das Gewehr von den Schultern und reichte es einem der Soldaten, die Hartmann und sie begleiteten.

Sie durchschritten das Tor, hinter dem sich ein halbrunder, vielleicht hundert Meter langer Gang aus nacktem Beton erstreckte. Er war groß genug, auch den Helikoptern Platz zu bieten, sollte ein Notfall es erfordern.

»Was ist das hier?« fragte sie, während sie sich neugierig umsah.

»Das, wonach dieser Stone und seine Kreaturen gesucht haben«, antwortete Hartmann. »Erinnern Sie sich noch, was Sie mir gestern erzählten? Von SS01, dem Bunker in Amerika, aus dem Sie kommen?«

Charity nickte, und Hartmann verschränkte die Hände hinter dem Rücken und ging mit leicht vorgebeugten Schultern neben ihr her, während er weitersprach. »Sie haben ganz recht mit Ihrer Vermutung, Captain Laird. Das hier ist das deutsche Gegenstück, eine Bunkeranlage, in die sich die Regierung und wichtige Persönlichkeiten zurückziehen konnten, wäre es jemals zu einem nuklearen Krieg gekommen.«

Charity sah sich mit unverhohlenem Zweifel in dem gewaltigen Gang um. »Ein wenig groß für einen Regierungsbunker, nicht wahr?«

Hartmann nickte. »Die gesamte Anlage ist auch weit mehr. Wir können ein Jahrhundert hier unten durchstehen, wenn es sein muß.«

»Und ich vermute, Sie haben auch genug Waffen, um danach den Rest der Welt zurückzuerobern - oder das, was davon übrig ist«, sagte Charity.

Hartmann runzelte die Stirn, als wäre er sich nicht ganz darüber im klaren, wie sie diese Worte meinte. Dann grinste er plötzlich. »Vielleicht«, sagte er knapp.

Sie hatten das Ende des Tunnels erreicht, und Charity erlebte eine neuerliche Überraschung. Sie hatte ein Gewirr von Gängen und Katakomben erwartet, wie es SS01 in den amerikanischen Rocky Mountains gewesen war, aber vor und unter ihr erstreckte sich eine gewaltige Höhle, die offenbar natürlichen Ursprungs war. Eine Unzahl riesiger Natriumdampflampen tauchten sie in blendende Helligkeit. Auf dem Boden der Höhle erhob sich eine Stadt aus unterschiedlich großen Gebäuden, die aus gleichförmigen Kunststoffteilen errichtet war. Manche Bauwerke waren kaum größer als ein Einfamilienhaus, andere wiederum gewaltige Hallen, groß genug, ein Flugzeug aufzunehmen. Hunderte von Gestalten in grünen Uniformen bewegten sich zwischen diesen Gebäuden, dazwischen flitzten winzige Elektrowagen hin und her, wie summende kleine Insekten, die geschäftig ihrer Wege gingen.

»Beeindruckend, nicht wahr?« fragte Hartmann stolz.

Charity nickte widerwillig. Die unterirdische Station war nicht halb so groß wie SS01, aber während die amerikanische Anlage ein unterirdisches System von Kammern und endlosen Gängen und Treppen gewesen war, in denen man tagelang herumirren konnte, war diese Basis eine wirkliche Stadt, die man eine Meile weit unter die Erde gebaut hatte.

»Wie viele Männer haben Sie hier?« fragte Charity.

»Ich fürchte, zu viele«, sagte Hartmann.

»Wie meinen Sie das?«

»Sie werden es bald verstehen«, antwortete Hartmann ausweichend. Er machte eine einladende Handbewegung auf einen offenen Lastenaufzug, der zum Boden der Höhlenstadt herabführte. »Kommen Sie. Ich stelle Sie Generalmajor Krämer vor, unserem Kommandanten. Er erwartet Sie bereits.«


*


Der Laserstrahl hatte ihn getroffen und zu Boden geschleudert, und er hatte - ungewöhnlich genug - für Minuten das Bewußtsein verloren. Zwar brachte Kyle es fertig, den Schmerz abzuschalten und die Blutung zu stillen, doch war es ihm nicht mit gewohnter Schnelligkeit gelungen, die Wunde in seiner Schulter zu schließen. Seine Zellen regenerierten sich längst nicht so schnell, wie es notwendig gewesen wäre. Er hatte zehn Minuten gebraucht, bis er wieder soweit bei Kräften war, daß er aufstehen konnte.

Vielleicht verlor er seine schier übermenschlichen Fähigkeiten allmählich, dachte er. Vielleicht hatten sie während seiner Gefangenschaft in Paris irgend etwas mit ihm getan, das ihn vom Übermenschen wieder zu einem ganz normalen Mann werden ließ. Voller plötzlichem Schrecken begriff Kyle, daß er kaum mehr in der Lage sein würde, einen Kampf mit einem anderen Megamann zu bestehen.

Eine Bewegung bei den gelandeten Gleitern riß ihn aus seinen Gedanken. Kyle erhob sich vorsichtig hinter seiner Deckung und spähte zu den silbernen Flugscheiben hinüber. Es waren fünf, drei kleinere Jagdschiffe, wie sie sie aus Paris her kannten, und zwei größere, mattgraue Kriegsschiffe. Es war das erste Mal, daß Kyle einen dieser Zerstörer aus der Nähe sah. Aber während seiner Ausbildung zum Megakrieger hatte er genug über sie gelernt, um zu wissen, daß ein einziges Kriegsschiff in der Lage war, eine Stadt in Schutt und Asche zu legen.

Kyles Blick löste sich von den gelandeten Schiffen und wanderte zum Dom hinüber. Nachdem die Flammen erloschen waren und sich der Rauch verzogen hatten, konnte man sehen, daß das riesige Gebäude weniger schwer beschädigt worden war, als es im ersten Moment den Anschein gehabt hatte. Ein Teil des Daches war eingestürzt, und einer der beiden großen Türme hatte einen Riß bekommen, ansonsten hatte der Titan aus Stein den Explosionen getrotzt. Hunderte von Jared und eine Unzahl von Ameisen bewegten sich zwischen den Trümmern hin und her. Während die Jared damit beschäftigt waren, ihre verwundeten Kameraden zu versorgen, bildeten die Ameisen eine Kette zwischen dem zerborstenen Tor und den Gleitern. Schnell und mit der Präzision von Maschinen reichten sie die Eierkokons weiter, die den Raketenangriff des Helikopters überstanden hatten.

Kyle war sehr sicher, daß diese Eier der einzige Grund waren, aus dem er und alle anderen hier überhaupt noch lebten. Hätte es die ungeschlüpfte Brut nicht gegeben, deren Schutz absoluten Vorrang hatte, dann hätten die Piloten der beiden Kampfschiffe keine Sekunde gezögert, den Angriff auf den Gleiter mit gnadenloser Härte zu bestrafen. Es gehörte zur Taktik Morons, jeden Widerstand im Keim zu ersticken.

Kyle lauschte einen Moment in sich hinein und stellte fest, daß sich sein Körper weiter von den erlittenen Verletzungen erholt hatte. Behutsam veränderte er sein Aussehen und paßte auch Farbe und Aussehen des Chamäleon-Anzugs der zerfetzten Lumpenkleidung der Jared an, bis ihn äußerlich nichts mehr von einem der Barbaren unterschied. Es fiel ihm noch immer schwer, sich zu bewegen, als er hinter seiner Deckung hervortrat, aber das war im Moment eher von Vorteil. Viele der Jared, die den Platz vor dem Dom bevölkerten, waren verwundet, so daß ein weiterer, humpelnder Mann zwischen ihnen kaum mehr auffallen konnte.

Trotzdem hatte er das Gefühl, aus Hunderten von kalten Insektenaugen mißtrauisch angestarrt zu werden, als er sich mit schlurfenden Schritten dem Tor näherte. Auf dem Weg dorthin passierte er eines der Kriegsschiffe. Er sah, daß der Kommandant des Schiffes ausgestiegen war, es war nicht irgendeine Ameise, sondern ein Inspektor, eine zweieinhalb Meter große, vierarmige Kreatur, deren Chitin-Panzer von strahlend weißer Farbe war.

Der Anblick des Insektengeschöpfes erschreckte Kyle erneut. Was um alles in der Welt hatte Charity Laird in jenem Bunker in Paris gefunden, daß die Herren der Schwarzen Festung selbst ihr Domizil am Nordpol verließen, um sie zu jagen?

Gebeugten Hauptes schlurfte Kyle an dem Schiff vorbei. Der Inspektor redete mit schriller Stimme und heftig gestikulierend auf einen Jared ein, den Kyle nach einigen Augenblicken als Gyell erkannt. Ohne daß er selbst sagen konnte warum, erfüllte ihn der Anblick des Jared mit Erleichterung. Er war sehr froh, daß Gyell den heimtückischen Angriff überlebt hatte.

Kyle ging weiter, schlug einen respektvollen Bogen um die Ameise, die ihm mit Kokons beladen entgegenkamen, und betrat schließlich den Dom. Der Anblick der Zerstörung, der sich ihm bot, war erschreckend. Die beiden Raketen, die der Helikopter in das Gebäude gefeuert hatte, waren an der rückseitigen Wand explodiert und hatten sie vollständig zerstört. Das Nest unter der Decke war zerfetzt, und die Königin selbst lag unter einem ganzen Berg von Trümmern und geschwärzten Balken begraben. Dutzende von Ameisen bemühten sich hektisch um das riesige Geschöpf, das leise, wimmernde Schreie ausstieß.

Kyle glaubte nicht, daß sie es überleben würde. Er wußte, wie unglaublich zäh diese gigantischen Gebärmaschinen waren, aber das Geschöpf hatte furchtbare Verletzungen davongetragen. Zwei seiner sechs Beine waren abgerissen, und die Strümpfe bluteten heftig.

Kyle senkte hastig den Kopf, als ein Auge der Königin sich für einen Moment auf ihn richtete. Plötzlich hatte er das Gefühl, daß die Kreatur ihn erkannte; daß sie ganz genau wußte, wer er wirklich war und was er hier tat.

Dann hörte er den Schrei.

Er war sehr leise. Keiner der anderen Jared und auch keine der anwesenden Ameisen nahmen ihn wahr; aber Kyles überscharfes Gehör registrierte ihn deutlich - und er erkannte auch die Stimme.

Der Kopf der Königin ruckte im gleichen Moment herum. Der Blick ihres riesigen Facettenauges richtete sich auf eine schmale Tür in der zerstörten Rückwand des Domes. Dann erscholl der Schrei erneut, und Kyle hörte andere, schrille Schreie, nicht die von Menschen, sondern das wütende Pfeifen von Tieren, gefolgt von den unverkennbaren Lauten eines heftigen Kampfes.

Ohne auch nur einen weiteren Gedanken an seine Sicherheit zu verschwenden, rannte er los. Zwei, drei Ameisen blickten mißtrauisch auf, wandten ihre Aufmerksamkeit dann aber wieder der verletzten Königin zu, die im gleichen Moment heftig zu zittern begonnen hatte. Ein Teil des Trümmerberges, unter dem sie eingeklemmt war, geriet ins Rutschen, als sie sich aufbäumte.

Kyle erreichte die Tür und stürmte hindurch. Der Lärm des Kampfes verstärkte sich. Kyle blieb eine halbe Sekunde stehen, um sich zu orientieren, und lief dann auf eine Tür zu, hinter der sich eine steinerne Treppe in engen Windungen in die Tiefe schraubte.

An ihrem Ende befand sich eine Holztür, hinter der er ein flackerndes, rotes Licht und hektische Bewegungen ausmachte. Kyle sprengte die Tür mit einem Fußtritt auf und stürmte hindurch.

In dem Kellergewölbe tobte ein erbitterter Kampf. Ein halbes Dutzend Jared wehrte sich verzweifelt mit Stöcken oder Steinen gegen eine Übermacht riesiger, graubrauner Ratten, die mit wütenden Pfiffen auf sie eindrangen und mit Zähnen und Klauen nach ihnen schnappten. Die Barbaren kämpften mit einer Erbitterung und einem Mut, der selbst Kyle überraschte; trotzdem sah er auf den ersten Blick, daß es am Ausgang des Kampfes keinen Zweifel gab, denn aus einem Loch an der gegenüberliegenden Wand strömten immer mehr Ratten nach.

Kyle sah sich suchend um und entdeckte schließlich Gurk, der breitbeinig über einer reglosen Gestalt stand, ein rostiges Eisenstück schwang und sich mit überraschendem Erfolg gegen die Ratten zur Wehr setzte. Dann sah Kyle, um wen es sich bei der reglosen Gestalt handelte, und sprang mit einem Schreckensruf los.

Er kam nur einen Schritt weit. Ein Nager sprang ihn an und verbiß sich in seiner Schulter. Mit einer einzigen, wütenden Bewegung schüttelte er die Ratte ab, riß sie in die Höhe und warf sie mit aller Kraft gegen die Wand. Er stürmte weiter, aber sofort griffen ihn weitere Tiere an. Kyle trat zornig um sich, nahm zwei, drei weitere schmerzhafte Bisse in Hände und Oberschenkel hin und zog seine Waffe. Er wagte es nicht zu schießen, aber der Kolben der kleinen Pistole gab eine passable Keule ab. Mit zwei, drei weiteren wuchtigen Hieben verschaffte er sich Luft, kämpfte sich auf den Eingang des Tunnels zu, aus dem die Ratten herausquollen, und feuerte. Die lautlose Lichtflut aus der Mündung der kleinen Pistole verwandelte ein halbes Dutzend der riesigen Bestien in Staubwolken. Kyle konzentrierte den Strahl auf den Eingang des Tunnels und hielt den Finger fast eine halbe Minute auf dem Auslöser, bis er sicher war, daß in dem Loch nichts mehr lebte. Dann fuhr er herum, steckte die Waffe wieder ein und stürzte sich mit bloßen Händen wieder in den Kampf.

Sein Eingreifen hatte die Situation schlagartig geändert. Die Ratten waren den Jared noch immer überlegen, aber jetzt, wo sie keinen Nachschub mehr erhielten, wurden die Barbaren leichter mit ihnen fertig. Immer mehr und mehr der Riesennager fielen tot oder schwer verwundet zu Boden, und schließlich waren es nur noch drei oder vier, die angstvoll zurückwichen und sich in einer Ecke des Raumes zusammendrängten.

Kyle zog seine Pistole und legte auf sie an, doch in diesem Moment fiel ihm einer der Jared, der zuvor noch mit einem Stein auf die Ratten eingedroschen hatte, in den Arm und schüttelte den Kopf. Kyle stieß ihn zur Seite, aber der Jared vertrat ihm blitzschnell wieder den Weg.

Verblüfft ließ Kyle die Waffe sinken und blickte abwechselnd auf die Jared und die Ratten, die sich in der Ecke zusammendrängten.

Der Jared wandte sich zu den Tieren um, hob langsam die Hand, deutete erst auf sie und dann in einer übertriebenen Geste auf den Tunnel, aus dem die Ungeheuer gekommen waren. Ungläubig und vollkommen verwirrt beobachtete Kyle, wie sich die Ratten langsam umwandten und eine nach der anderen wieder in der Öffnung verschwanden.

Ein leises Wimmern ließ den Megamann herumfahren. Gurk war auf die Knie herabgefallen und preßte stöhnend die Hände gegen den Oberkörper. Er blutete aus einem Dutzend tiefer Wunden, und sein Gesicht war schmerzverzerrt. Aber Kyle schenkte ihm nur einen flüchtigen Blick, dann ließ er sich neben Helen auf die Knie sinken und drehte sie vorsichtig herum.

Er erschrak zutiefst, als er sie ansah. Ihre Augen waren starr. Eine Ratte hatte ihr die Kehle durchgebissen.

»Nein!« flüsterte er entsetzt.

»Kannst du ihr helfen?« fragte Gurk.

Mühsam schüttelte Kyle den Kopf. Helen war tot. Er konnte eine Menge tun, aber er konnte keine Toten zum Leben erwecken.

»Was ist passiert?« flüsterte Kyle. Plötzlich packte er den Zwerg und schüttelte ihn wild. »Warum hast du sie nicht beschützt?!«

Gurk befreite sich aus seinem Griff und schob seine Hände fast behutsam zur Seite. »Sie hatte keine Chance«, sagte er leise. »Sie war die erste, über die sie herfielen. Ich konnte nichts tun.«

Kyle traten Tränen in die Augen. Zärtlich nahm er Helen in die Arme, berührte ihr Gesicht und schloß ihre Augen. Die Wunde in Helens Kehle sah winzig aus, fast lächerlich gegen die tiefen Biß- und Rißwunden, die Gurk und die Jared davongetragen hatten. Und es kam Kyle so ungerecht vor, so grausam - von ihnen allen hatte dieses Mädchen am wenigsten mit ihrem Krieg gegen Stone und seine Heerscharen zu tun. Warum mußte sie sterben?

Als er den Blick nach einer Weile wieder hob, bemerkte er, daß Gyell und andere Jared das Gewölbe betreten hatten und begannen die Körper ihrer toten oder verletzten Kameraden herauszutragen. Ihre Bewegungen waren dabei so präzise und zugleich teilnahmslos, daß sie fast an Maschinen erinnerten.

Gyells Blick glitt über Helens reglose Gestalt. Dann sah er den Megamann an. »Willst du, daß sie lebt?«

Kyle hörte, wie Gurk neben ihm scharf die Luft einsog. Einen Herzschlag lang starrte er den Jared mit einer Mischung aus Unglaube und Schrecken an, dann sah er auf den verletzten Techniker herab. So entsetzlich der Anblick war, der Mann lebte, auf eine andere, völlig unbegreifliche Art zwar, aber er lebte.

Ohne ein Wort hob Kyle Helen auf, und Gyell interpretierte sein Schweigen als die Zustimmung, die es darstellte.

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