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Mehr als drei Jahre waren vergangen, seit Stone dieses Zimmer das erste Mal betreten hatte, aber der Anblick hatte in all dieser Zeit nichts von seiner Faszination verloren. Stone war immer noch nicht sicher, ob ihn das Bild, das die Stadt unter den Fenstern bot, mehr faszinierte oder erschreckte, oder ob es eine Mischung aus beidem war, die ihn immer wieder hierherkommen und Stunde um Stunde aus dem Fenster blicken ließ. Was einmal Manhattan gewesen war, das war jetzt...

Er wußte nicht, was es war. Er war der Herr dieser Stadt, ihr unumschränkter Befehlshaber, zumindest die meiste Zeit, und trotzdem wußte er nicht, was sie mit dieser Stadt taten. Es war noch immer eine Stadt voller brodelndem Leben, aber es war auch ein Dschungel, ein verwirrendes Gebilde aus unverständlicher Hypertechnik und sonderbar organischen Formen, und manchmal kam es ihm vor wie eine gigantische, lebende Einheit, die aus zahllosen einzelnen Individuen bestand und viele Millionen Zellen zusammensetzte; Zellen, von denen vielleicht auch er schon eine war, ohne es zu wissen.

Sein Blick wanderte nach Osten, wo das Wasser der Hudson-Bay in grauen Nebelschwaden verschwand. Manchmal kam Wind auf, der diese flimmernde graue Wand zerriß, und dann konnte er die Eisbarriere erkennen: eine zweihundert Meter hohe, massive Wand aus Eis, die innere Grenze des Kälteschirmes, der New York umgab.

Das aufdringliche Summen des Intercom-Gerätes riß ihn in die Wirklichkeit zurück.

Zum ersten Mal seit Jahren wieder verspurte Stone Angst, die Hand auszustrecken und das Gerät einzuschalten, auf dessen Bildschirm jetzt das ziselierte Flammen-›M‹ Morons flackerte. Er selbst hatte dieses Symbol entworfen, und damals war es ihm passend erschienen. Etwas, das die Macht und Unbesiegbarkeit Morons deutlicher symbolisierte als alles andere. Und das seine eigene, kleine Rache an den Invasoren darstellte, denn für ihn bedeutete dieses ›M‹ nicht nur Moron, es stand auch für Monster, für die Ungeheuer von den Sternen, die sein Volk vernichtet und ihm seine Welt gestohlen hatten.

Jetzt begann er es zu fürchten. Was er in Paris erlebt hatte, hatte ihm gezeigt, wie hilflos er in Wahrheit war. Er war ein mächtiger Mann, vielleicht der mächtigste Mann dieses Planeten - und trotzdem war er ein Nichts. Seine Macht währte, solange sie es wollten. Keine Sekunde länger.

Und vielleicht war die Gnadenfrist, die sie ihm gewährt hatten, schon abgelaufen.

Innerlich angespannt, schaltete Stone das Gerät ein. Das flackernde, rote ›M‹ auf dem Bildschirm erlosch und machte der ausdruckslosen Chitin-Maske Luzifers Platz, seines persönlichen Adjutanten. Vor drei Jahren, als man ihm dieses riesige, ameisenähnliche Geschöpf zugeteilt hatte, hatte Stone diesen Namen witzig gefunden; mittlerweile war er nicht mehr sicher, ob er sich nicht wirklich auf einen Pakt mit dem Teufel eingelassen hatte.

»Ja?« begann er. »Irgend etwas Neues aus Paris?«

»Das Bombardement wurde eingestellt«, antwortete Luzifer.

»Warum?«

»Die Flüchtlinge sind mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit tot«, antwortete Luzifer.

»Was heißt ›mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit?‹ « brüllte Stone. »Sind sie tot oder nicht?«

»Das wissen wir nicht, Herr«, antwortete Luzifer. »Der abgestürzte Gleiter wurde aufgespürt und vernichtet. Eine Fortsetzung der Bombardierungen würde die Strahlenwerte unzulässig erhöhen. Es gibt eine Königin im Gebiet dieser Stadt.«

»Das weiß ich«, antwortete Stone gereizt. »Aber ich dachte, ihr seid resistent gegen radioaktive Strahlung?«

»Das trifft zu, soweit es die Arbeiter und Soldaten angeht«, bestätigte Luzifer. »Aber die unausgeschlüpften Eier könnten geschädigt werden. Die Sicherheit der Brut hat Vorrang gegenüber der Vernichtung der Entflohenen.«

Obwohl seine Stimme so kalt und ausdruckslos wie gewöhnlich klang, spürte Stone, wie wenig Sinn es hatte, Luzifer in diesem Punkt zu widersprechen. Das Insektengeschöpf war sein persönlicher Adjutant; sein Diener und Sklave, über den er nach Belieben befehlen konnte. Er zweifelte nicht daran, daß Luzifer ohne eine Sekunde zu zögern sein Leben geopfert hätte, hätte er es von ihm verlangt. Und doch würde er ihm in diesem Punkt nicht gehorchen. Manchmal fragte sich Stone, ob er vielleicht in Luzifers Augen ein ebenso minderwertiges Geschöpf war wie umgekehrt die Ameise in seinen. Es war eine verwirrende Situation - sie waren beide Sklaven, und bis zum heutigen Tag hatte Stone niemals geklärt, wer nun wessen Sklave war.

»Also gut«, sagte er nach kurzem Überlegen. »Dann laß ein Schiff und eine Begleitmannschaft startbereit machen. Ich will mich mit eigenen Augen davon überzeugen, daß Captain Laird und ihre Begleiter tot sind.« Und vor allem dieser Megamann, fügte er in Gedanken hinzu. Wenn Kyle noch lebte, und wenn er aus irgendeinem Grund gefangengenommen und verhört wurde, dann war es um ihn geschehen. Es hatte Stone ohnehin überrascht, daß er mit der Behauptung, der flüchtende Megakrieger hätte die beiden Inspektoren getötet, so ohne weiteres durchgekommen war.

Doch so mißtrauisch und unbarmherzig die Insektengeschöpfe von Moron waren, so leicht war es, sie zu belügen. Vielleicht lag es daran, überlegte er, daß es Insekten waren. Ein Volk, zu dessen Wortschatz Begriffe wie Mitleid, Gnade oder Gewissen nicht gehörten, ließ sich schwer mit der Vorstellung absoluter Ehrlichkeit assoziieren. Aber nach allem, was Stone in den vergangenen drei Jahren erlebt hatte, wußten die Moroni wirklich nicht, was der Begriff Lüge bedeutete.

Luzifer antwortete nicht auf seinen Befehl, aber er unterbrach auch die Bildverbindung nicht, sondern starrte ihn über den Monitor hinweg aus seinen kalten, glitzernden Facettenaugen heraus an, und nach einer Weile fragte Stone in leicht gereiztem Tonfall:

»Was gibt es denn noch?«

»Es erscheint mir nicht sehr ratsam, daß Sie sich selbst dorthin begeben, Herr«, antwortete Luzifer. »Die Strahlenwerte sind im Moment sehr hoch. Und das Gebiet wird von primitiven Eingeborenen bewohnt. Sie könnten in Gefahr geraten.«

»Dann besorg mir einen vernünftigen Schutzanzug!« sagte Stone zornig. »Und eine gut bewaffnete Begleitmannschaft. Und verbinde mich mit dem Kommandanten der dortigen Garnison.«

Luzifer widersprach nicht mehr. Sein ausdrucksloses Insektengesicht senkte sich in einer Geste des Gehorsams, dann wurde der Monitor dunkel, und Stone wandte sich mit einem lautlosen Aufatmen von dem Gerät ab. Langsam trat er wieder ans Fenster und blickte auf die Stadt hinab. Sein Herz schlug schnell und sehr hart, und er fühlte, wie seine Handflächen feucht wurden. Er hatte das Gefühl, langsam, ganz allmählich, aber auch unaufhaltsam den Boden unter den Füßen zu verlieren. Vielleicht war es Einbildung, dachte er.

Gleichzeitig spürte er, daß dieser Gedanke nichts als ein weiterer, unzulänglicher Versuch war, sich selbst zu beruhigen. Nein - es war keine Einbildung.

Irgend etwas ... geschah.

Ein Pakt mit dem Teufel...

Vielleicht war es das, dachte er. Vielleicht war jetzt der Moment gekommen, in dem er die Rechnung präsentiert bekam.


*


Der Angriff kam völlig überraschend: Nicht einmal Kyles überscharfe Sinne nahmen ein Geräusch wahr oder eine verdächtige Bewegung; aber plötzlich waren sie da - Hunderte gewaltiger, spinnenbeiniger, zottiger Körper, die sich mit irrsinniger Geschwindigkeit und nahezu lautlos an der Decke und den Wänden entlangbewegten.

Charity fand nicht einmal Zeit, einen warnenden Ruf auszustoßen. Ein riesiger schwarzer Schatten glitt mit grotesken Bewegungen an der Decke über ihr heran und ließ sich auf sie herabfallen. Sie hörte Net hinter sich aufschreien und sah einen grell weißen Blitz aus den Augenwinkeln, als Skudder instinktiv seine Waffe abfeuerte, ohne mehr zu treffen als den jahrzehntealten Staub auf dem Boden, und im selben Moment fühlte sie sich zu Boden gerissen. Kleine, spitze Zähne gruben sich mit erbarmungsloser Kraft in die Schulter ihrer Uniformjacke und versuchten vergeblich, den zähen Stoff zu durchdringen. Charity warf sich instinktiv herum und versuchte, den Angreifer über die Schulter zu schleudern, aber die Spinnenkreatur hatte einfach zu viele Gliedmaßen - sie schüttelte vier, fünf der dürren, biegsamen Beine ab, aber mindestens ebenso viele klammerten sich an ihren Nacken und ihre Arme, und die Zähne, die den Stoff ihrer Uniformjacke nicht durchdringen konnten, aber mit grausamer Kraft zubissen, tasteten nach einer verwundbaren Stelle und näherten sich ihrem Hals.

Sie wäre wahrscheinlich nicht einmal mit diesem ersten Angreifer fertig geworden, wäre nicht plötzlich Kyle aufgetaucht, der das Monster einfach von ihr herunterriß. Das Wesen stieß einen zischelnden, zornigen Laut aus, als Kyle es kurzerhand gegen die Wand warf.

Aber damit hatte er ihnen nicht einmal eine Atempause verschafft. Charity plagte sich auf und versuchte, ihre Waffe von der Schulter zu bekommen. Sie sah, daß die gesamte Decke des Stollens zum Leben erwacht war! Es mußten Dutzende der riesigen, bizarren Kreaturen sein. Nicht eine von ihnen berührte den Boden, aber sie flitzten geschickt an der Decke und den Wänden entlang - und sie waren gefährlich.

Charity sprang vollends auf die Füße und riß ihr Gewehr von der Schulter, als Net hinter ihr abermals aufschrie. Mit einem Satz war sie bei der Wasteländerin, schleuderte das Spinnentier, das auf ihrer Brust hockte, mit einem Kolbenhieb beiseite und wollte die Hand ausstrecken, um Net auf die Füße zu helfen. Doch im selben Moment wurde sie schon wieder angegriffen; diesmal von drei schwarzen Spinnen, die wie pelzige Bälle von der Decke fielen.

Sie wehrte das erste der Ungeheuer mit dem Gewehrlauf ab, duckte sich unter dem zweiten Angreifer hindurch und zerquetschte den dritten mit ihrem bloßen Körpergewicht, als er sie zu Boden riß und sie sich noch im Sturz drehte, so daß sie ihn unter sich begrub. Hinter ihr blitzte wieder Skudders Lasergewehr auf, und sie hörte jetzt auch Helen und Gurk schreien. Mit einer schnellen Bewegung rollte sie herum, brannte eine Feuerspur in die lebende Masse unter der Decke über sich und riß die Arme über das Gesicht, als geschmolzener Stein und brennendes Chitin wie tödlicher Regen auf sie herabfielen.

Mit verzweifelter Kraft stemmte sie sich auf die Füße, feuerte erneut und wich langsam vor der brodelnden Flut zuckender Gliedmaßen zurück, die sich immer weiter über die Decke und die Wände ausbreitete.

Einen Augenblick später glühte neben ihr ein flimmerndes, düsterrotes Licht auf, und als Charity überrascht herumfuhr, sah sie, daß Kyle wieder seine kleine Waffe gezogen hatte. So harmlos die winzige Pistole aussah, so verheerend war ihre Wirkung. Der fächerförmige Lichtstrahl verwandelte einen großen Teil der Decke samt der Spinnen darauf in pulverfeinen, grauen Staub, der in trägen Wolken zu Boden fiel. Kyle schwenkte den Strahl zur Seite, vernichtete auch die zweite Hälfte der Spinnenarmee auf der linken Seite der Gangdecke und schaltete von Dauer- auf Einzelfeuer um, um auch die wenigen überlebenden Angreifer zu erledigen, die sich mit wirbelnden Beinen die Wände herabgeflüchtet hatten.

»Vorsicht! Hinter dir!«

Es dauerte eine halbe Sekunde, bis Charity begriff, daß Skudders Schrei nicht ihr galt. Erschrocken fuhr sie herum und sah, daß sich drei oder vier der haarigen schwarzen Beinbälle Kyle von hinten näherten. Sie hob ihre Waffe, zielte kurz und tötete zwei von ihnen mit einem grellen Lichtblitz. Den dritten erlegte Skudder mit einem kurzen, genau gezielten Laserschuß, aber das vierte und letzte Ungeheuer war bereits zu nahe heran, als daß sie es wagten, darauf zu schießen. Mit einer wirbelnden Bewegung erreichte es die Decke über Kyle und ließ sich lautlos auf ihn herabfallen. Ein halbes Dutzend seiner langen, gelenkigen Beine krallten sich in Kyles Schulter, während seine Zähne begannen, lange, blutige Kratzer in seinen Nacken und seine Wange zu reißen. Kyle schien den Angriff nicht einmal zu spüren; zumindest beachtete er ihn nicht. Beinahe ungerührt stand er mit leicht gespreizten Beinen da, hielt seine Waffe mit ausgestreckten Armen und zielte sorgfältig auf die wenigen, vereinzelten Monster, die dem roten Licht bisher entkommen waren.

Mit einem Fluch war Skudder bei ihm, packte das Ungeheuer mit bloßen Händen und schleuderte es gegen die Wand. Hilflos glitt es daran herunter, blieb eine Sekunde lang reglos liegen - und sprang dann hoch, um auf wirbelnden Beinen davonzurasen. Skudder setzte ihm mit einem Fluch nach und zertrat es.

Die Tunneldecke bot ein Bild der Verwüstung. Die Laserspuren glühten noch immer dunkelrot, und hier und da waren gewaltige, gezackte Löcher in der Decke entstanden; an einigen Stellen züngelten Flammen, und die meisten der roten Lichter waren erloschen. Ein paar brennende Kadaver waren alles, was von der lautlosen Armee übriggeblieben war.

Charity drehte sich zu Kyle herum und musterte ihn einen Moment lang besorgt. Gesicht, Nacken und Schultern des jungen Megamannes bluteten, auch seine Jacke hing in Fetzen. Aber seine Wunden schlossen sich bereits wieder. Charity wußte, daß er in wenigen Minuten seine Verwundung vollkommen geheilt hatte.

Kyle blickte mit großer Konzentration in die Richtung, aus der die lautlose Armee aufgetaucht war. »Wir müssen weg hier. Das war nur die Vorhut der Beutejäger.«

»Wir können nicht zurück«, sagte Charity. »Dort lauern die Ratten auf uns.«

»Vielleicht finden wir eine Abzweigung«, antwortete Kyle. »Oder wir schaffen es bis zur Treppe. Sie werden wiederkommen. Und nicht nur sie, glaub mir.«

Der Ernst, mit dem er diese Worte aussprach, beseitigte Charitys letzte Zweifel. Ohne ein weiteres Wort ergriff sie Helens Arm, legte ihn sich über die Schulter und lief los.

Sie schafften es nicht.

Sie hatten nicht einmal die halbe Strecke bis zur kleinen Schleusenkammer zurückgelegt, als Kyle plötzlich einen warnenden Ruf ausstieß und stehenblieb. Charity sah sich im Laufen um. Kyle hatte seine Waffe wieder gezogen und gestikulierte ihr mit der anderen Hand zu, weiterzurennen. »Nicht stehenbleiben!« schrie er. »Ich versuche, sie aufzuhalten.«

Charity versuchte, in der dunkelroten Dämmerung hinter dem Megamann irgend etwas zu erkennen, sah aber nichts.

Dann schien auf einmal der gesamte Gang hinter Kyle zu brodelndem schwarzem Leben zu erwachen.

Im ersten Moment dachte Charity, es wäre eine neue Armee der Spinnenwesen, die herangerast kam, aber es waren nur sehr wenige Kreaturen, die sich näherten. Offensichtlich hatte Kyle die meisten vernichtet. Nein, eine riesige schemenhafte Gestalt schob sich heran, eine einzige, gewaltige Masse, die wabernd näher kam, wie eine Lawine aus schwarzem, nassen Fleisch, die ihre Gestalt in jeder Sekunde veränderte und immer wieder auseinanderzufließen schien.

Charity hob ihre Waffe, gab einen einzelnen Schuß ab und registrierte verblüfft, daß der grelle Lichtblitz wie von einem gewaltigen Schwamm aufgesogen wurde. Nur eine winzige, rauchende Stelle blieb zurück; und auch sie verschwand fast sofort, als sich jetzt das Fleisch an dieser Stelle bewegte und eine neue, unversehrte Schicht über dem verbrannten heranwachsen ließ.

»Lauft!« brüllte Kyle. »Das hat keinen Sinn! Es ist immun gegen Strahlen!«

Trotz dieser Worte hob er seine eigene Waffe und gab einen Schuß auf den wandelnden Fleischberg ab. Das rote Licht ließ einen fast mannsgroßen Bereich der widerwärtigen Masse in grauem Staub explodieren, aber sein Vormarsch wurde dadurch nicht aufgehalten.

»Lauft!« schrie Kyle noch einmal. »Ich versuche, es aufzuhalten!«

Charity begriff, daß es Kyles sicherer Tod war, wenn er versuchte, sich dem Ungeheuer in den Weg zu stellen. Und doch blieb ihnen keine andere Wahl. Mit einer entschlossenen Bewegung drehte sie sich herum - und erstarrte erneut mitten im Schritt.

Keine zehn Schritte von ihr entfernt, funkelten sie im trüben Licht eine Unzahl gieriger, roter Augen an.

Die Ratten!

Neben ihr schrie Helen gellend auf. Charity preßte das Mädchen instinktiv fester gegen sich und hob ihre Waffe, entschlossen, ihrer beider Leben so teuer wie möglich zu verkaufen, als die Armee gewaltiger Ratten wie auf ein gemeinsames Kommando hin loszustürmen begannen. Sie wußte, daß sie keine Chance hatten. Es mußten Tausende der gierigen Bestien sein, die aus der Tiefe des unterirdischen Ganges kamen!

Eine halbe Sekunde, bevor die Rattenarmee sie erreichen und von den Füßen reißen konnte, teilte sich die braungraue Flut. Eine schmale Gasse entstand, als die Tiere zur Seite wichen, und Charity sah fassungslos zu, wie sich die Front der Ungeheuer auch vor Skudder, Net und dem Gnom teilte, die sich wenige Schritte neben ihr schützend aneinandergepreßt hatten!

»Um Gottes willen - nicht schießen!« schrie sie. »Schießt nicht!«

Mit einer Mischung aus Entsetzen und Staunen beobachtete sie, wie die pfeifende, quiekende Flut sich Kyle näherte, sich vor ihm abermals teilte - und sich mit verbissener Wut auf das schwarze Monster stürzte, das aus der anderen Richtung herangestürmt kam!

Im ersten Moment schien es, als könnten nicht einmal die Ratten es aufhalten. Die ersten fünf, sechs Reihen der angreifenden Nager verschwanden unter dem formlosen Körper des Monstrums, ohne daß es ins Straucheln geriet. Doch immer mehr Ratten drängten nach - und stürzten sich mit einer Wut auf das Ungeheuer, die Charity schaudern ließ. Fingerlange Zähne rissen und zerrten an dem schwarzen Fleisch; immer mehr Tiere sprangen mit schrillen Pfiffen das sich windende Monster an, ehe sie selbst verschlungen wurden.

Doch schließlich wurden die Bewegungen des Kolosses langsamer. Er kroch und waberte noch immer auf sie zu, aber nicht mehr so schnell und fließend, sondern mit ruckhaften, zuckenden Bewegungen, kein lautloses, rasches Gleiten mehr, sondern eher ein Aufbäumen - das schließlich zu einem Rückzug wurde!

Selbst seinen schier unerschöpflichen Regenerationskräfte waren Grenzen gesetzt. Die Ratten rissen immer größere Stücke aus seinem formlosen Leib heraus, die sie auf der Stelle aufzufressen begannen, Wunden schlossen sich jetzt nicht mehr, sondern blieben große, zuckende Löcher mit pulsierenden Rändern. Das Unwesen tötete die teuflischen Nager noch immer, aber für jede Ratte, die es verschlang, schienen zehn neue aufzutauchen, die sich mit einer bestialischen Wut auf ihren Gegner stürzten.

Langsam begann sich das gewaltige, formlose Ungeheuer zurückzuziehen. Sein Gleiten wurde wieder schneller, und obwohl Charity inmitten der wimmelnden, braungrauen Masse aus riesigen Körpern kaum noch etwas von ihm erkennen konnte, hatte sie doch das Gefühl, daß sich seine Haut veränderte - es schien den Ratten jetzt sehr viel schwerer zu fallen, sie mit den Zähnen zu verletzen.

Vorsichtig wandte Charity den Kopf und sah den Gang hinab. Der Strom gigantischer Ratten ließ allmählich nach. Sie hob vorsichtig die Hand und gab den anderen ein Zeichen. Skudder erhob sich behutsam und begann, sich Schritt für Schritt zurückzuziehen, wobei er versuchte, Net und den Gnom hinter sich zu halten. Auch Charity und Kyle bewegten sich vorsichtig.

Ihr Fuß streifte eine Ratte. Das Tier fuhr mit einem ärgerlichen Zischen herum, bleckte ein ehrfurchtgebietendes Haifischgebiß und starrte sie aus seinen dunklen Augen haßerfüllt an.

Sie erstarrte.

Für einen Moment trafen sich ihre Blicke, wieder glaubte Charity eine beunruhigende, fast menschliche Intelligenz in den nachtschwarzen Augen der Ratte zu erkennen.

»Geht weiter!« flüsterte sie. Ihre Stimme zitterte. Obwohl sie sich bemühte, leise zu sprechen, schienen die Worte überlaut durch den Korridor zu hallen und als verzerrte Echos wiederzukehren, vermischt mit den schrillen Pfeif- und Zischlauten der Rattenarmee, die noch immer gegen das gewaltige Amöbenwesen kämpfte. Aber nicht alle Ratten hatten sich an der ungleichen Schlacht beteiligt. Hier und da hockten kleine Gruppen der struppigen Bestien beisammen, in einer sonderbar verwirrten, hilflosen Art, die in Charity das absurde Gefühl auslöste, sie würden sich beraten.

Net stieß einen spitzen Schrei aus, als sich eine der Ratten ihr näherte und ihr Bein beschnüffelte; wie ein großer, mißgestalteter Hund. Ihre empfindlichen Barthaare zuckten nervös, und in ihren Augen stand der gleiche, vielleicht noch unentschlossene, aber vorhandene Zorn, den Charity auch in denen der anderen Tiere gelesen hatte. Sie sah, wie Skudder seine Waffe senkte, und hob erschrocken die Hand. »Nicht!« sagte sie. »Nicht schießen!«

Skudder begriff. Statt zu schießen, richtete er den Lauf des Lasers nur demonstrativ auf das schäferhundgroße Nagetier - und es konnte kein Zufall mehr sein, daß die Ratte in diesem Moment den Blick hob, ihn einen Moment lang anstarrte, und sich dann langsam und rückwärts kriechend davonmachte.

»Bewegt euch ganz vorsichtig!« befahl Charity im Flüsterton. »Und behaltet die Nerven. Ein einziger Schuß - und wir sind alle tot!«

Charity schickte ein Stoßgebet zum Himmel, auf daß sie sich nicht täuschte. Aus einem Grund, den sie nicht einmal zu ahnen vermochte, schienen diese mutierten Ratten Menschen nicht als ihre Feinde zu betrachten. Aber was, dachte sie schaudernd, wenn der Kampf gegen die Riesenamöbe ihren Blutdurst einmal geweckt hatte und sie vielleicht das Erbe ihrer primitiveren, räuberischen Vorfahren spürten? Oder wenn sie einfach hungrig waren?

Langsam, Schritt für Schritt, zogen sie sich zurück. Charitys Nerven waren bis zum Zerreißen angespannt, und die Gesichter Skudders und der drei anderen glänzten vor Schweiß. Früher oder später, dachte sie, würde einer von ihnen einen Fehler machen. Eine unbedachte Bewegung, ein Stolpern, vielleicht auch nur ein erschrockener Laut - und die Ratten würden sich auf sie stürzen und sie zerreißen, wie sie es mit dem riesigen Monstrum getan hatten.

Das mühsame Knirschen uralter Scharniere ließ sie überrascht aufblicken. Plötzlich standen sie vor einer rechteckigen Tür, die von gelbem Licht und zwei gewaltigen, monströsen Gestalten erfüllt war. Sie waren mehr als zwei Meter groß mit silber glänzender Haut, eckigen Köpfen und einem einzigen, goldenen Auge.

Charity hatte nicht einmal mehr Zeit, einen erschrockenen Ruf auszustoßen. Einer der Riesen hob den Arm, und das letzte, was Charity bewußt wahrnahm, war ein hellgrüner Blitz und ein unerträglicher Schmerz, der ihr Bewußtsein auslöschte.

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