11


Glitzernder Chrom. Ein stählerner Raum. Augen, die ihn anstarrten. Ein Finger aus kaltem, hartem Hörn, der sein Augenlid anhob. Ein grelles Licht, das grausam in seine Augen schien und ihm Schmerz zufügte. Und dünne Nadeln, die sich wie die Giftzähne metallener Schlangen in sein Fleisch bohrten und ihm noch mehr Schmerz zufügten.

Stone versuchte sich zu bewegen, aber er konnte es nicht.

Er lag nackt auf einem Tisch aus kaltem Chromstahl, und obwohl sein Körper vollkommen betäubt und jeder einzelne Nerv abgeschaltet worden war, spürte er doch, daß er an Händen und Füßen gefesselt war.

»Seid Ihr wach, Herr?«

Stone bewegte die Augen - den einzigen Teil seines Körpers, den er noch kontrollieren konnte - und sah Luzifer an. Die riesige Ameise stand neben dem Kopfende der Metalliege und starrte auf ihn herab. Wieder bildete sich Stone ein, ein schadenfrohes, böses Glitzern in ihren ausdruckslosen Kristalläugen zu erkennen. Er deutete mit den Augen ein Nicken an.

»Verstehen Sie, was ich sage?«

Ein erneutes Nicken.

»Wir sind zurück«, sagte Luzifer. »Sie brauchen keine Angst mehr zu haben. Sie sind nicht mehr in Gefahr.«

Für einen Moment war Stone beinahe froh, vollständig gelähmt und hilflos zu sein. Wäre es anders gewesen, hätte er schrill und wahnsinnig aufgelacht.

»Alle notwendigen Vorkehrungen sind getroffen«, fuhr Luzifer fort. »Die Techniker haben einige Rückenmarksproben entnommen, um einen neuen Körper zu züchten. Aber der Reifeprozeß wird eine Zeit in Anspruch nehmen. Ich habe Befehl gegeben, Sie in einen Heilschlaf zu versetzen.«

Stone bewegte hektisch die Augen von rechts nach links und wieder zurück, um ein Kopf schütteln zu verdeutlichen.

»Sie wünschen das nicht?« fragte Luzifer.

Nein, signalisierte ihm Stone.

»Es kann lange dauern«, gab Luzifer zu bedenken. »Unter Umständen Wochen Eurer Zeitrechnung, Herr. Und es wird sehr unangenehm sein. Sie werden große Schmerzen ertragen müssen.«

Nein, signalisierte ihm Stone. Er durfte nicht schlafen. Er durfte nicht das Bewußtsein verlieren, nicht zu einem hilflosen Stück Fleisch werden, mit dem sie machen konnten, was sie wollten.

»Wenn es Ihr Wunsch ist, so werde ich dafür sorgen, daß Sie wach bleiben«, sagte Luzifer. »Aber es besteht kein Grund dazu.«

Nein, sagten Stones Augen, und Luzifer widersprach nicht mehr. Er mußte wach bleiben. Vielleicht würde er einen Ausweg finden, vielleicht würde ein Wunder geschehen, sein Körper würde sich so weit erholen, daß es nicht nötig war, die Bewußtseinsübertragung vorzunehmen.

Denn wenn das geschah, dann war er so gut wie tot.


*


Sie fanden Hartmann und seine beiden Begleiter am Fluß. Felss hatte sich in den Sand gesetzt und starrte auf die Wellen hinaus, während Hartmann und Lehmann leise miteinander redeten.

Als Charity, Kyle und Skudder näher kamen, unterbrachen sie ihr Gespräch, und Hartmann drehte sich demonstrativ herum. Lehmann starrte Kyle voller unverhohlenem Haß an, sagte aber nichts.

Charity ging an ihm vorüber und blieb neben Felss stehen. »Alles in Ordnung?« fragte sie, als der junge Soldat mit kalkweißem Gesicht zu ihr aufblickte. Felss zögerte einen Moment, dann nickte er, und Charity wandte sich nach einem flüchtigen Lächeln um und ging die wenigen Schritte zu Hartmann hinüber. Der Leutnant blickte sie einen Moment lang durchdringend an, dann machte er einige Schritte und blieb erst stehen, als er fast bis zu den Knöcheln im Wasser des Flusses stand. Mit einer ruckhaften Bewegung zog er eine Zigarettenschachtel aus der Tasche, ließ sein Feuerzeug aufschnappen und zündete sich eine Zigarette an.

»Geben Sie mir auch eine?« fragte Charity, als er die Packung wieder einstecken wollte.

Hartmann zögerte, hielt ihr aber dann die fast leere Schachtel hin und gab ihr Feuer.

»Ich wußte gar nicht, daß Sie rauchen«, sagte er, als sie den ersten Zug genommen hatte und sich an seine Seite stellte.

Charity unterdrückte ein Husten und antwortete: »Es ist gute fünfzig Jahre her, daß ich damit aufgehört habe.«

Hartmann lächelte flüchtig. »Manche Laster wird man nie los.«

Eine Zeitlang standen sie einfach nebeneinander da, blickten auf den Fluß hinaus und rauchten. Charity spürte, wie die Spannung allmählich aus Hartmann wich. Sie konnte durchaus verstehen, daß er die Beherrschung verloren hatte. Auch sie selbst war für Augenblicke vor Entsetzen wie gelähmt gewesen. »Es war schlimm, nicht?« fragte sie leise. Hartmann sog an seiner Zigarette, blies den Rauch durch die Nase aus und nickte, ohne sie anzusehen.

»Ja. Es ... tut mir leid.«

»Was?«

»Daß ich mich so habe gehenlassen«, antwortete Hartmann. »Das hätte nicht geschehen dürfen.«

»Wir sind alle nur Menschen.« Charity versuchte zu lächeln, aber sie spürte selbst, wie wenig überzeugend es aussah. »Ich war selbst nahe daran, hysterisch loszubrüllen«, gestand sie schließlich.

Hartmann blickte sie zweifelnd an. »Es tut mir leid«, sagte er noch einmal. »Aber es war einfach zuviel. Ich ... ich dachte, sie würden sie umbringen.«

»Wen?«

Hartmann machte eine Kopfbewegung auf die Kathedrale. »Unsere Männer, die sie verschleppt haben.«

»Dann hatte Felss recht«, sagte Charity. »Er hat den Mann wirklich erkannt?«

Hartmann nickte. »Ja. Und ich glaube, ich habe noch einen oder zwei andere erkannt. Es war einfach zuviel. Ich ... dachte, sie wären tot.«

»Finden Sie es schlimmer, daß sie leben?«

Hartmann nickte. »Sehen Sie, Captain Laird, Sie sind ein Soldat wie ich. Aber es gibt einen Unterschied.«

»So?« fragte Charity. »Welchen?«

»Ich bin vielleicht nur ein einfacher Leutnant«, antwortete Hartmann. »Ich habe nicht gelernt, ein Raumschiff zu fliegen. Ich habe vielleicht nicht einmal Ahnung von moderner Computerstrategie, aber ich habe kämpfen gelernt, seit dieser ganze Wahnsinn begonnen hat. Ich habe Männer sterben sehen und selbst welche getötet. Der Tod ist schlimm, aber er gehört nun einmal zum Leben eines Soldaten. Man akzeptiert ihn, oder man ist kein Soldat.« Er deutete abermals auf den Dom. »Ich ertrage den Gedanken, eines Tages sterben zu müssen. Aber das da drinnen ist ... grauenhaft. Diese Männer dort waren einmal meine Kameraden. Jetzt sind sie keine Menschen mehr. Sie sind...« Er sprach nicht weiter.

»Ich verstehe, was Sie meinen«, sagte Charity leise. »Aber ich bin nicht sicher, daß sie recht haben.«

»So?« Hartmann lachte humorlos und sehr bitter.

»Nein«, antwortete Charity. »Ich glaube, daß ... hier irgend etwas Gewaltiges vorgeht.« Sie spürte selbst, wie falsch ihre Worte klangen. Aber sie fand keine anderen. Es war ihr unmöglich, wirklich auszudrücken, was sie fühlte.

»Sie glauben all diesen Unsinn wirklich, den Ihnen Gyell erzählt hat, nicht wahr?« fragte Hartmann. »All dieses Zeug von Sehenden und Blinden.«

»Sie nicht?« gab Charity zurück. Hartmann wollte antworten, aber sie hob rasch die Hand und fuhr fort. »Seien Sie ehrlich, Hartmann - im Grunde haben Sie längst begriffen, daß Sie sich geirrt haben. Diese Menschen sind nicht Ihre Feinde.«

»Sie sind keine Menschen mehr«, widersprach Hartmann erregt.

»Das kann sein«, gestand Charity. »Aber sie sind auch nicht das, wofür Sie sie halten.«

»Und was sind sie dann?« fragte Hartmann.

Charity zuckte mit den Achseln. »Ich weiß es nicht«, gestand sie. »Vielleicht eine neue Lebensform, etwas, wofür wir noch keine Worte haben.« Hartmanns Lippen wurden zu einem schmalen, blutleeren Strich. Plötzlich loderte der Zorn in seinen Augen wieder auf. Aber ehe er antworten konnte, stieß Lehmann plötzlich einen überraschten Ruf aus und deutete mit dem Arm über den Fluß.

Charitys Blick folgte der Geste, und einen Moment später sah auch sie, was den jungen Soldaten so erschreckt hatte: Von der anderen Seite des Flusses raste ein silberner Funke heran. Und in das leise Plätschern der Wellen mischte sich ein schrilles Heulen, das Charity wie kaum etwas anderes zu fürchten gelernt hatte.

»Ein Gleiter!« sagte Hartmann. Zornig schleuderte er seine Zigarette ins Wasser und starrte sie an. »Ich glaube, das reicht als Antwort auf die Frage, ob sie unsere Feinde sind oder nicht!«

Charity wollte antworten, aber Hartmann fuhr plötzlich herum, deutete mit einer herrischen Geste auf Felss und Lehmann und sprang mit einem einzigen Satz in die Deckung eines Gebüschs. Die beiden Soldaten folgten ihm einen Moment später, wobei sie ihre Waffen von den Schultern rissen und entsicherten.

Charity zögerte noch einen Moment. Der Gleiter kam rasend schnell näher, aber irgend etwas in ihr weigerte sich einfach, zu glauben, daß Hartmann recht hatte. Trotzdem verschwand auch sie mit einem Satz im nächsten Gebüsch, in dem auch Hartmann und seine beiden Begleiter verschwunden waren. Rechts und links von ihr duckten sich auch Kyle und Skudder unter die überhängenden Zweige.

Als sie sich neben Hartmann auf die Knie sinken ließ, steckte der Leutnant hastig etwas in die Tasche seiner Uniformjacke. Charity konnte nicht genau erkennen, aber für einen winzigen Moment sah Hartmann sie beinahe schuldbewußt an. Ehe sie jedoch den Gedanken weiterverfolgen konnte, war der Gleiter über ihnen.

Das Schiff schoß mit irrsinniger Geschwindigkeit heran, daß sie fast glaubte, es wollte sich geradeweg auf die Kathedrale stürzen. Im letzten Moment bremste es ab, und begann, lautlos zu Boden zu sinken. Neben ihr hob Hartmann das Gewehr und visierte den Gleiter durch das Zielfernrohr an. Charity wußte, daß er nicht schießen würde. Mit einer Maschinenpistole auf einen Moroni-Gleiter zu feuern war reiner Selbstmord.

Der Gleiter befand sich keine zwanzig Meter von ihrem Versteck entfernt. Auf seiner Unterseite öffnete sich eine Luke, und eine glitzernde Metallzunge schob sich heraus. Eine Abordnung stelzbeiniger Ameisen marschierte aus dem Schiff und steuerte auf die Kathedrale zu.

»Nicht schießen!« flüsterte Hartmann gepreßt. »Ihr feuert erst auf mein Kommando.«

Die Worte galten offensichtlich Felss und Lehmann, aber Charity hob hastig die Hand und drückte das Gewehr in Hartmanns Armen mit sanfter Gewalt herunter.

»Sind Sie wahnsinnig?« flüsterte sie erschrocken.

Hartmann riß mit einer trotzigen Bewegung sein Gewehr wieder an sich und funkelte sie an. »Warum?« zischte er. »Weil ich es vorziehe, mich zu wehren, statt mich abschlachten zu lassen?«

Charity deutete zornig auf den gelandeten Gleiter. »Sind Sie blind, oder einfach nur dumm?!« erwiderte sie aufgebracht. »Sie sind nicht unseretwegen hier, begreifen Sie das nicht?«

Das wütende Funkeln in Hartmanns Augen verschwand nicht, aber er schwieg zumindest und konzentrierte sich wieder auf den Gleiter.

Tatsächlich machten die Ameisen keine Anstalten, sich auf ihr Versteck zuzubewegen, sondern schritten in den Dom hinein. Zwei weitere Insektengeschöpfe waren aus dem Gleiter getreten, die aber reglos neben dem gelandeten Fahrzeug stehenblieben. Die Jared schienen überhaupt keine Notiz von dem Gleiter zu nehmen. Einige von ihnen hatten sich von ihren Plätzen erhoben, um dem landenden Fahrzeug auszuweichen, die anderen jedoch beschäftigten sich weiter mit den Dingen, die sie vor seiner Ankunft getan hatten. Kaum einer von ihnen machte sich auch nur die Mühe, dem Gleiter einen Blick zuzuwerfen.

»Ihr sauberer Freund hat uns verraten!« sagte Hartmann gepreßt. »Sie werden es sehen. In spätestens fünf Minuten kommen sie zurück. Aber ich werde meine Haut so teuer wie möglich verkaufen.«

Charity verzichtete darauf, überhaupt zu antworten. Sie war fast sicher, daß Hartmann sich täuschte.

»Wo sind Ihre Freunde?« fragte Hartmann plötzlich. Eine Sekunde lang sah er Charity an, dann blickte er sich erschrocken um, als fiele ihm erst jetzt auf, daß Net, Helen und Abn El Gurk nicht bei ihr gewesen waren, als Charity aus dem Dom trat.

»Sie sind im Inneren geblieben«, antwortete Charity. »Helen und Gurk wollten sich um Ihren Mann kümmern, und Net...« Sie verstummte erschrocken. Net würde das Geräusch des landenden Gleiters mit Sicherheit gehört haben! dachte sie entsetzt. Und wenn sie einen Fehler beging oder gar herauskam, um nachzusehen, was geschah, dann würden die Ameisen sie erblicken - und dann war alles aus.

Und als wäre dieser Gedanke ein Stichwort gewesen, tauchte Net im Eingang zur Kathedrale auf.

Charitys Hertz machte einen schmerzhaften Sprung, als sie sah, daß die Ameisen die oberste Stufe der Treppe erreicht hatten. Auch Net fuhr erschrocken zusammen. Mit einer hastigen Bewegung prallte sie zurück, zog ihre Waffe - und erstarrte zur Reglosigkeit, als die Ameisen ungerührt kaum eine Armeslänge an ihr vorbeimarschierten!

Die Insektenkrieger mußten Net zweifelsfrei erkannt haben, denn in ihrem gefleckten Tarnanzug und mit der schweren Laserwaffe im Arm fiel sie inmitten der zerlumpten Jared so sehr auf, wie es nur möglich war. Aber sie schienen sich überhaupt nicht für sie zu interessieren. Nicht eines der riesigen Geschöpfe wandte auch nur den Kopf, um sie anzusehen.

»Was ... geht da vor?« flüsterte Hartmann ungläubig.

Ich wollte, ich wüßte es, dachte Charity. Laut, aber mit stockender Stimme sagte sie: »Ich habe Ihnen doch gesagt, Hartmann, sie sind nicht unseretwegen hier.«

»Aber weswegen dann?« murmelte Hartmann.

Ein Geräusch in der Nähe ließ Charity aufsehen. Kyle kam auf Händen und Knien durch das Gebüsch zu ihnen herangekrochen. Ein Ausdruck von Schrecken glitt über sein Gesicht, als er das Gewehr in Hartmanns Händen sah, aber Charity schüttelte rasch und beruhigend den Kopf.

»Die Waffen weg!« flüsterte er. »Sie sind wegen der Königin hier, nicht unseretwegen.«

Hartmann sah den Megamann durchdringend an, senkte das Gewehr aber keinen Millimeter. »Weshalb?«

Kyle deutete mit einer Handbewegung auf den Dom. »Sie wollen zum Nest. Wahrscheinlich wissen sie nicht einmal, daß wir hier sind. Aber wenn wir einen Fehler machen, dann werden sie es sehr schnell herausbekommen.«

»Net ist dort drüben«, sagte Charity, ehe Hartmann Gelegenheit zur Antwort fand. »Kannst du sie holen, ohne daß sie uns bemerken?«

Kyle nickte. Fast lautlos erhob er sich, bog die Zweige vor ihrem Versteck auseinander und richtete sich auf.

»Was haben Sie vor?« fragte Hartmann.

Kyle antwortete nicht, sondern richtete sich weiter auf; er sah sich unauffällig nach allen Seiten um und begann dann langsam auf den gelandeten Gleiter zu zu gehen. Eine gespenstische Veränderung ging mit ihm vor: Sein Haar färbte sich heller, verlor seine glänzende, schwarze Farbe und nahm einen stumpfgrauen, schmutzigen Ton an. Gleichzeitig schien es länger zu werden. Eine zuckende Wellenbewegung lief über seinen schwarzen Anzug. Das Material zog sich zusammen, wurde heller und poröser - und war plötzlich keine hautenge, schwarze Montur mehr, sondern ein zerfetztes Etwas, das sich in nichts von den Lumpen unterschied, die die Jared trugen. Auch Kyles Art zu gehen veränderte sich. Er bewegte sich plötzlich schlurfend und mühsam.

Hartmanns Augen quollen vor Unglaube fast aus den Höhlen, als er sah, was mit Kyle geschah. »Oh, mein Gott!« flüsterte er. »Wie ... wie hat er das gemacht?«

»Das erkläre ich Ihnen später«, antwortete Charity ausweichend. »Jetzt seien Sie bitte still. Er wird versuchen, Net zu warnen und hierher zu bringen.«

»Aber das ... das ist doch nicht möglich«, stammelte Hartmann. Er schien ihre Worte gar nicht gehört zu haben. »Das ist Zauberei!«

»Nicht ganz«, sagte Charity.

Gebannt und mit klopfendem Herzen sah sie zu, wie sich Kyle der Flugscheibe näherte und in weniger als fünf Metern Abstand daran vorbeiging. Die Blicke einer der beiden Ameisen, die neben dem Gleiter Aufstellung genommen hatten, folgten ihm, aber Kyles Verkleidung täuschte auch diese Geschöpfe. Unbehelligt überquerte er den großen Platz, ging die Treppe zur Kathedrale hinauf und trat auf Net zu. Charity konnte nicht genau erkennen, ob er mit ihr redete oder ihr auf andere Weise zu verstehen gab, was er von ihr wollte, aber nach einer Weile drehten sich beide wieder herum und kamen mit langsamen, fast gemächlichen Schritten die Treppe herab.

Leutnant Hartmann starrte sie durchdringend an. »Ich glaube, wenn das alles hier vorbei ist«, sagte er, »sind Sie mir eine Menge Erklärungen schuldig, Captain Laird.«

»Ja«, entgegnete Charity kalt. »Wenn das alles vorbei ist.«

Ohne weiter auf Hartmanns zornige Blicke zu achten, verfolgte sie gebannt, wie Net und Kyle sich ihrem Versteck näherten. Wie von dem gelandeten Gleiter nahmen die Jared auch von ihnen keinerlei Notiz, und auch diesmal passierten Kyle und die Wasteländerin die Flugscheibe in wenigen Metern Abstand, ohne daß die beiden Ameisen ihnen mehr als einen flüchtigen Blick zuwarfen. Sie schlugen einen weiten Bogen zum Fluß hin, bis sie einige Bäume zwischen sich und den Gleiter gebracht hatten und nicht mehr direkt gesehen werden konnten. Die letzten Meter überwanden sie geduckt und in schnellem Tempo. Nets Atem ging schnell, als sie sich neben Charity und Hartmann auf die Knie fallen ließ, während Kyle - der jetzt wieder Kyle war und kein Jared - nicht die geringste Spur von Anstrengung zeigte.

Hartmann musterte den Megamann aus ungläubig geweiteten Augen, ehe er sich wieder an Net wandte. »Wo sind die anderen?«

»Sie sind bei Stern. In einem Raum unter dem Dom. Ich glaube nicht, daß die Ameisen sie sehen.«

»Was tun sie dort drinnen?«

Net schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht«, antwortete sie. »Sie tun irgend etwas ... mit den Eiern. Ich konnte nicht erkennen, was.«

»Und Sie?!« Das Mißtrauen in Hartmanns Stimme war unüberhörbar. »Wieso haben sie Sie in Ruhe gelassen?«

»Woher soll ich das wissen?« antwortete Net gereizt. »Verdammt, ich bin froh, daß ich noch lebe.«

»Wo ist Gyell?« fragte Charity.

Net machte eine Kopfbewegung auf den Turm. »Bei den Ameisen.«

»Konntest du erkennen, was sie tun?«

»Wahrscheinlich ist er gerade dabei, ihnen zu verraten, wo sie uns finden«, sagte Hartmann.

»Ich glaube nicht, daß sie das interessiert«, sagte Net.

»Wieso?«

Net zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Aber ich ... hatte das Gefühl, daß sie sich nicht besonders für uns interessieren. Sie sind kaum einen Meter an mir vorbeigegangen. Sie hätten mich nur zu packen brauchen.«

»Vielleicht wollen sie uns alle zusammen haben«, knurrte Hartmann.

»Kaum«, antwortete Charity, »es sei denn...«

Sie verstummte mitten im Wort, als Kyle die Hand hob und überrascht auf den Gleiter deutete. Die beiden Ameisen, die bisher reglos neben dem gelandeten Fahrzeug gestanden hatten, fuhren plötzlich herum und rannten auf wirbelnden Beinen die Rampe hinauf. Die Tür begann sich zu schließen, und plötzlich drang ein hohes Pfeifen aus dem Rumpf des Fahrzeuges.

»Was geht da vor?« fragte Charity erschrocken.

Sie bekam die Antwort auf diese Frage schneller, als ihr lieb war. Aus dem hellen Pfeifen des Gleiters wurde ein schrilles, in den Ohren schmerzendes Heulen, und plötzlich kam auch in die Ameisen, die mit Eiern beladen aus dem Dom kamen, hektische Bewegung. Der Gleiter sprang mit einem Satz in die Höhe, während die Jared und die Ameisen in allen Richtungen davonstürzten.

»In Deckung!« brüllte Hartmann. Gleichzeitig ließ er sich nach vorn fallen und schlug schützend die Hände über den Kopf. Irgendwo am Himmel hinter ihnen blitzte es rot und unerträglich grell auf, und Charity sah eine dünne Spur aus blutrotem Licht, die einen Riß in den Himmel zu brennen schien, dann warf sich Kyle mit weit ausgebreiteten Armen gleichzeitig auf Net und sie und riß sie beide zu Boden. Im selben Moment traf irgend etwas den Gleiter, warf ihn herum und explodierte. Das Fahrzeug überschlug sich, fand aber wie durch ein Wunder noch einmal auf seinen Kurs zurück und versuchte mit schrill aufheulenden Motoren, erneut an Höhe zu gewinnen. Eine Sekunde lang sah es fast so aus, als würde es dem Piloten tatsächlich gelingen, den Gleiter wieder unter Kontrolle zu bringen, dann gab es eine zweite Explosion, und das Fluggerät stürzte auf die Kathedrale.

Charity schloß geblendet die Augen, als das Fahrzeug explodierte. Trotzdem war der Feuerball so grell, daß sie vor Schmerz aufstöhnte. Der Boden zitterte. Mit einem ungeheueren Donnern und Krachen brach die südliche Wand des Domes zusammen. Charity wälzte sich stöhnend herum, preßte die Hand gegen die Augen und arbeitete sich auf Hände und Knie hoch. In ihren Ohren schien das Donnern der Explosion kein Ende zu nehmen. Erst nach einer Sekunde begriff sie, daß das Krachen und Bersten der Explosion tatsächlich noch anhielt. Überall auf dem weiten Platz vor ihnen flammten grelle, weiße Feuerbälle auf, stießen rote und grüne Laserblitze vom Himmel und rissen die Staubspuren von MG-Salven den Boden auf.

Verzweifelt versuchten die Jared, dem Beschuß auszuweichen, aber Charity sah, wie Dutzende von ihnen getroffen wurden und zu Boden gingen. Und auch unter den Ameisen wütete das Laserfeuer.

Entsetzt hob Charity den Blick und starrte die drei Helikopter an, die über der Lichtung kreisten. Es waren schlanke, grün und erdbraun gefleckte Maschinen, deren Rümpfe die Form stählerner Haifische hatten und aus deren Heckturbinen grelle Flammenzungen schossen, während sie mit ruckhaften, unglaublich schnellen Bewegungen über die Lichtung rasten.

»Hartmann!« schrie sie. »Was bedeutet das?!«

Aber Hartmann antwortete nicht, und als Charity sich zu ihm umwenden wollte, stellte sie fest, daß er zusammen mit seinen beiden Begleitern auf die Lichtung gelaufen war, obwohl das Feuer der drei Hubschrauber so wütend und ungezielt war, daß sie sich damit auch selbst in Gefahr brachten.

»Dieser Idiot!« schrie Skudder. »Das war alles geplant! Er hat uns hereingelegt!«

Eine Granate schlug in unmittelbarer Nähe ihres Verstecks ein. Charity duckte sich hastig und riß die Arme über den Kopf, als ein Regen aus Erdreich und brennendem Holz auf sie herunterprasselte. Dann fuhr sie herum und stürmte hinter Hartmann her, wobei sie beide Hände hoch über den Kopf riß und heftig winkte. Überall rings um sie herum explodierten MG-Salven und grelle Laserblitze, und sie betete, daß die Piloten in den Helikoptern ihre blaue Space-Force-Uniform erkannten.

»Hartmann!« schrie sie, so laut sie konnte. »Aufhören! Sie sollen aufhören! Das ist Wahnsinn!«

Der Leutnant hatte die Mitte der Lichtung erreicht und war stehengeblieben. Charity beobachtete, daß er ein kleines Gerät in der Hand hielt, in das er hastig hineinsprach - und plötzlich erinnerte sie sich wieder daran, daß er etwas versteckt hatte, als sie ihn in dem Gebüsch erreicht hatte. Und jetzt wußte sie auch, was es gewesen war. Sie hatte sich Hartmann bis auf zwanzig Schritte genähert, als eine ganze Salve grellroter Laserblitze den Boden vor ihr aufriß und in einen See aus kochender, rotglühender Lava verwandelte. Mit einer verzweifelten Bewegung warf sie sich zur Seite. Ein betäubender Schmerz schoß durch ihr rechtes Bein und ihre Schulter, und einen Moment lang war sie benommen und hatte kaum die Kraft, sich herumzudrehen, um zu Hartmann zu blicken.

Zwei der drei Helikopter machten noch immer Jagd auf die Jared und die wenigen überlebenden Ameisen, während sich der dritte dem Dom näherte. Charity schrie entsetzt auf, als sie begriff, was der Pilot vorhatte.

Der Helikopter näherte sich mit heulenden Rotoren dem gewaltigen Tor des Domes. Eine Sekunde hing er reglos in der Luft. Dann zuckte es unter seinen Rotoren grell auf. Während der Pilot die Maschine blitzschnell zur Seite riß, zerriß eine ungeheuerliche Explosion das Innere des Domes. Sämtliche Fenster zerbarsten, die riesigen Torflügel wurden aus den Angeln gerissen, und ein weiteres Stück des ohnehin beschädigten Daches sank krachend herab.

Der Anblick erfüllte Charity mit einem solchen Zorn, daß sie ihre Benommenheit auf der Stelle vergaß und aufsprang, um auf Hartmann zu zu rennen. »Nein!« schrie sie, obwohl sie wußte, daß es längst zu spät war. »Nein! Nicht! Helen und Gurk sind noch dort drinnen!«

Beim Klang ihrer Stimme wandte sich Hartmann um und sah ihr kalt entgegen. Er hörte auf, in sein Funksprechgerät zu reden und machte statt dessen eine befehlende Geste mit der linken Hand. Lehmann hob sein Gewehr und zielte auf sie, aber Charity rannte weiter auf ihn zu. Mit wenigen Schritten erreichte sie Hartmann, packte ihn bei den Schultern und schüttelte ihn so heftig, daß er vor Überraschung sein Sprechgerät fallen ließ und einen Schritt zurücktaumelte. »Sind Sie wahnsinnig?« schrie sie.

Hartmann versuchte vergeblich, sich aus ihrem Griff zu befreien, Charity schüttelte ihn immer heftiger, bis Lehmann hinter sie trat und sie gewaltsam von ihm fort zerrte.

Währenddessen fuhren die beiden Helikopter fort, Jagd auf die Jared zu machen. Auf der Lichtung brannten zahllose Feuer, und dazwischen lagen Dutzende regloser Körper. Viele Jared aber versuchten noch immer vor den heulenden Ungeheuern aus Stahl, die über der Lichtung kreisten, zu fliehen. Plötzlich schwirrte ein schwerer Gegenstand durch die Luft und bohrte sich kaum einen Meter neben Hartmann in den Boden, und dann taumelte einer der Helikopter und trieb hilflos zwanzig, dreißig Meter weit durch die Luft, ehe der Pilot die Kontrolle über die Maschine zurückfand. Aus seiner linken Flanke sprühten Funken.

»Hören Sie endlich auf!« schrie Hartmann. »Wir müssen weg hier, ehe sie uns alle umbringen!«

Charitys Antwort ging im Lärm des dritten Helikopters unter, der keine zehn Schritte neben ihnen zur Landung ansetzte. Hartmann duckte sich, drehte das Gesicht aus dem Wind und hob schützend den linken Arm über den Kopf, während er mit der anderen Hand nach ihr zu greifen versuchte.

Charity wich seinem Griff aus, aber Lehmann, der immer noch hinter ihr stand, versetzte ihr einen Stoß, der sie auf Hartmann und den Helikopter zutaumeln ließ. Sie sah aus den Augenwinkeln, wie sich Skudder drohend zu dem Soldaten umwandte, aber er konnte die Bewegung nicht zu Ende führen, denn im selben Moment hob Felss seine Schockwaffe und streckte ihn mit einem gezielten Schuß nieder.

»Kommen Sie!« schrie Hartmann. »Wir müssen weg!«

Lehmann wollte ihr einen weiteren Stoß in den Rücken versetzen, doch mit einer raschen Drehung wich Charity dem Gewehrlauf aus, packte sein Handgelenk und brachte ihn mit einem harten Ruck aus dem Gleichgewicht. Der Soldat stolperte, fiel hilflos auf die Knie und verlor vollends die Balance, als Charity ihm einen gezielten Hieb verpaßte. Blitzschnell drehte sie sich herum und versuchte die anderen in dem Chaos um sie herum zu entdecken. Net kniete neben dem offenbar bewußtlosen Skudder, verzweifelt darum bemüht, ihn herumzudrehen, damit er nicht erstickte, denn sein Gesicht lag in einer morastigen Pfütze. Ein knappes Dutzend Schritte entfernt kam Kyle herangestürmt, aber plötzlich stemmte sich Lehmann auf, schwenkte seine Waffe herum und drückte ab. Ein greller Laserblitz traf den Megamann in die Schulter, wirbelte ihn herum und ließ ihn hilflos zu Boden taumeln.

Als Charity mit einem Schrei herumfuhr, um sich auf den Soldaten zu stürzen, trat Hartmann hinter sie und versetzte ihr einen Schlag in den Nacken, der sie bewußtlos zusammenbrechen ließ.

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