Während der vierzehn Stunden, die Conway schlief, verringerte sich der Eingang von Verwundeten beträchtlich, und dann kam die Nachricht, daß der Krieg vorüber sei. Monitoringenieure und Pioniere räumten die Wrackteile weg und reparierten die beschädigte Außenhülle. Als wieder normaler Luftdruck hergestellt war, gingen die Reparaturarbeiten im Innern der Station schnell vonstatten, und so sah Conway, als er erwachte und nach Dr. Mannon suchte, in einigen Abteilungen, die vor Stunden ein finsteres luftloses Durcheinander von Wrackteilen gewesen waren, bereits wieder Patienten.
Er fand seinen Vorgesetzten in einem Seitenzimmer, das an die FGLI-Unfallstation anschloß. Mannon arbeitete an einem gefährlich verbrannten DBLF, dessen raupenartiger Körper auf einem Operationstisch, der für die wesentlich massiveren tralthanischen FGLIs bestimmt war, zwergenhaft wirkte. Zwei weitere DBLFs unter Narkose waren als kleine weiße Erhebungen auf einem ähnlich übergroßen Bett an der Wand zu sehen, und ein vierter lag zuckend auf einer Tragbahre bei der Tür.
„Wo, zum Teufel, haben Sie gesteckt?“ sagte Mannon mit einer Stimme, die zu müde war, um noch ärgerlich zu klingen. Ehe Conway antworten konnte, fuhr er ungeduldig fort: „Ach was, sagen Sie mir’s erst gar nicht. Jeder nimmt hier dem anderen die Leute weg, und junge Internisten müssen tun, was man ihnen aufträgt…“
Conway spürte, wie sein Gesicht sich rötete. Plötzlich schämte er sich der vierzehn Stunden Schlaf, war aber zu feige, um Mannons Irrtum zu korrigieren. So sagte er nur: „Kann ich Ihnen helfen, Sir?“
„Ja“, sagte Mannon und deutete auf seine Patienten. „Aber das wird ziemlich schwierig werden. Eine ganze Menge Punktierungen und Läsionen, und zwar ziemlich tief. Metallfragmente im Körper, Abdominalschäden und starke innere Blutungen. Sie werden wohl ein Band brauchen. Holen Sie’s. Und dann kommen Sie sofort wieder!“
Ein paar Minuten darauf fand er sich in O’Maras Büro und nahm das DBLF-Physiologieband in sich auf. Diesmal zuckte er nicht, als die Hände des Majors ihn berührten. Als ihm das Kopfband abgenommen wurde, fragte er: „Wie geht’s Williamson?“
„Er kommt schon durch“, antwortete O’Mara trocken. „Ein Diagnostiker hat ihm die Knochenbrüche eingerichtet. Williamson wird es nicht wagen, zu sterben…“
Conway begab sich so schnell wie möglich wieder zu Mannon. Er empfand wieder jene charakteristische geistige Doppelsicht und mußte dem Drang widerstehen, auf dem Bauche zu kriechen. Das DBLF-Band zeigte also bereits die erste Reaktion. Die raupenähnlichen Bewohner von Kelgia waren in ihrem Metabolismus und Temperament den Erdmenschen sehr ähnlich. Er empfand also wesentlich weniger Verwirrung als mit dem Telfiband von früher.
Die Begriffe „Pistole“, „Kugel“ und „Ziel“ waren ganz einfach — man brauchte nur zu zielen, den Abzug zu betätigen, und das Ziel war tot oder verletzt. Die Kugel dachte überhaupt nicht. Das Wesen, das die Waffe bediente, nicht genug, und das Ziel — litt.
Conway hatte in letzter Zeit zu viele verletzte Wesen gesehen und Metallstücke, die sich in sie gebohrt und Wunden gerissen hatten. Und hinzu kam noch der lange schmerzhafte Prozeß der Entfernung. Jedermann, der einem denkenden, fühlenden Wesen solchen Schaden zufügte, verdiente eine viel schmerzhaftere Strafe als die psychiatrische Korrektur des Monitordienstes.
Noch vor ein paar Tagen hätte Conway sich solcher Gedanken geschämt. Das tat er auch jetzt in geringem Maße. Er fragte sich, ob die Ereignisse der letzten Tage in ihm einen Prozeß moralischer Degenerierung ausgelöst hatten oder ob er einfach anfing, erwachsen zu werden?
Nach fünf Stunden waren sie fertig. Mannon gab der Schwester Anweisung, die vier Patienten nicht aus dem Auge zu lassen, befahl ihr jedoch, vorher etwas zum Essen zu holen. Nach wenigen Minuten war sie mit einem großen Paket Sandwiches zurück und berichtete, daß ihre Kantine von einem tralthanischen Arzt zu einem Not-OP-Saal erklärt worden sei. Kurz darauf schlief Dr. Mannon über einem zweiten Sandwich ein. Conway lud den Mann auf eine Bahre und brachte ihn in sein Zimmer. Unterwegs wurde er von einem tralthanischen Diagnostiker angehalten, der ihm befahl, sich sofort in eine DBGD-Unfallstation zu begeben.
Diesmal arbeitete Conway an Angehörigen seiner eigenen Spezies, und sein Reifeprozeß — oder Degenerationsprozeß — nahm zu. Mit der Zeit kam er zu der Ansicht, daß das Monitor-Korps mit manchen Leuten viel zu sanft umging.
Drei Wochen darauf herrschten auf Sektor 12 wieder normale Zustände. Sämtliche Patienten, mit Ausnahme der Schwerverwundeten, waren in planetarische Krankenhäuser überwiesen worden. Der bei dem Zusammenstoß mit dem Raumschiff verursachte Schaden war repariert, und der tralthanische Arzt hatte die Kantine geräumt, so daß Conway nicht mehr im Stehen oder auf Tragbahren sitzend zu essen brauchte. Aber wenn auch für das Hospital, als Ganzes gesehen, wieder normale Zustände herrschten, so konnte Conway das von sich persönlich nicht behaupten.
Er wurde völlig vom Stationsdienst befreit und einer gemischten Gruppe von Erdmenschen und ETs zugewiesen — die meist älter als er selbst waren — um einen Kurs in Schiffsrettung mitzumachen. Einige der Schwierigkeiten, die auftraten, zum Beispiel Überlebende aus Schiffswracks zu bergen — besonders aus solchen, die noch funktionierende Kraftquellen besaßen — öffneten Conway die Augen. Der Kurs endete mit einer interessanten, wenn auch anstrengenden Übung, die er bestand, worauf sich ein mehr theoretischer Kurs in vergleichender ET-Philosophie anschloß. Gleichzeitig nahm er an einem Kurs über Verseuchungsprobleme teil; was war zu tun, wenn die Methanabteilung ein Leck bekam und die Temperatur über einhundertvierzig Grad F anzusteigen drohte — was war zu tun, wenn ein Chloratmer Sauerstoff ausgesetzt wurde oder ein Wasseratmer in Luft erstickte oder umgekehrt. Conway schauderte bei dem bloßen Gedanken, daß einer seiner Mitschüler ihm künstliche Atmung geben sollte — einige von ihnen wogen immerhin eine halbe Tonne — aber zum Glück gab es am Ende dieses Kurses keine Übungen.
Jeder einzelne Dozent betonte, wie wichtig es sei, hereinkommende Patienten schnell und exakt zu klassifizieren, da solche Patienten sehr oft nicht imstande waren, diese Information selbst zu geben. In dem heute allgemein üblichen Vierbuchstabensystem zeigte der erste Buchstabe den allgemeinen Metabolismus, der zweite Zahl und Verteilung der Glieder und Sinnesorgane und der Rest eine Kombination von Druck- und Schwerkrafterfordernissen an, die wiederum auf die physische Masse und Form der Schutzhaut hinwiesen, die das Wesen besaß. Die Buchstaben A, B und C an erster Stelle deuteten auf Wasseratmer. D bis F auf warmblütige Sauerstoffatmer — eine Klassifikation, der die meisten intelligenten Rassen angehörten. G bis K waren ebenfalls Sauerstoffatmer, aber insektenartige Wesen von Welten mit geringer Schwerkraft. L und M atmeten ebenfalls Sauerstoff, waren aber vogelartig. Die Chloratmer waren in den Gruppen O und P vertreten. Anschließend kamen wirklich ausgefallene Wesen — Strahlungsesser, Starrblütler oder Kristallwesen, Kreaturen, die willkürlich ihre Gestalt ändern konnten und solche, die verschiedene Arten außersinnlicher Kräfte besaßen. Telepathische Spezies wie die Telfi bekamen den Vorsatz V. Man erwartete von Conway und seinen Kommilitonen, aus einem höchstens drei Sekunden an die Wand projizierten Bild, das vielleicht einen Körperteil oder einen Hautschnitt eines ET zeigte, die genaue Klassifikation des betreffenden Wesens zu erkennen. Wenn diese Antwort nicht wie aus der Pistole geschossen kam, war mit höchst sarkastischen Bemerkungen zu rechnen.
Das war alles hochinteressant, aber Conway begann sich langsam Sorgen zu machen, als ihm bewußt wurde, daß sechs Wochen verstrichen waren, ohne daß er einen Patienten auch nur gesehen hatte. Er beschloß mit O’Mara darüber zu sprechen und zu fragen — natürlich auf respektvolle und nicht direkt als Frage erkennbare Art und Weise —, was das Ganze zu bedeuten hatte.
„Natürlich wollen Sie wieder in Ihre Station zurück“, sagte O’Mara, als Conway schließlich zur Sache gekommen war. „Dr. Mannon möchte Sie auch haben. Aber es könnte ja sein, daß ich Arbeit für Sie habe und deshalb nicht möchte, daß Sie sich woanders betätigen. Aber Sie brauchen nicht zu glauben, daß Sie Ihre Zeit verschwenden. Sie lernen hier etwas sehr Nützliches, Doktor. Das hoffe ich wenigstens. Ende.“
Als Conway den Hörer des Interkoms auflegte, dachte er, daß viele von den Dingen, die er lernte, mit Major O’Mara selbst zu tun hatten. Es handelte sich natürlich nicht um Vorlesungen über den Chefpsychologen, aber das hätten sie leicht sein können, denn O’Mara tauchte bei jeder Lektion irgendwie auf. Erst jetzt wurde ihm klar, wie nahe ihn sein Verhalten in der Telfi-Episode einer Ausstoßung aus dem Hospital gebracht hatte.
O’Mara hatte im Monitor-Korps den Rang eines Majors inne, aber Conway hatte mit der Zeit erfahren, wie schwierig es war, seine Autorität näher zu umschreiben. Als Chefpsychologe war er für das geistige Wohlbefinden all der verschiedenartigen Individuen und Spezies des Personals verantwortlich und auch dafür, daß sich zwischen ihnen keine Reibungen ergaben.
Und bei aller Toleranz und allem gegenseitigen Respekt gab es immer noch Gelegenheiten, wo es zu solchen Reibungen kam: Gefährliche Situationen, entstanden durch Unwissenheit oder Mißverständnisse, oder ein Wesen entwickelte xenophobische Neurosen, die seine geistige Stabilität oder seine Leistungsfähigkeit beeinträchtigten. Es konnte zum Beispiel vorkommen, daß ein Arzt, der eine unbewußte Angst vor Spinnen empfand, es einfach nicht über sich brachte, einen illensanischen Patienten mit der nötigen Objektivität zu sehen, die für seine Behandlung erforderlich war. Also war es O’Maras Aufgabe, Spuren solcher Schwierigkeiten zu entdecken und zu beseitigen oder — wenn alles andere mißlang — das potentiell gefährliche Individuum zu entfernen, ehe aus solchen Reibungen offener Konflikt wurde. Und diese Wacht gegen falsches, ungesundes oder intolerantes Denken war eine Pflicht, der er sich mit solchem Eifer unterzog, daß viele von Conways Kollegen ihn mit einem Großinquisitor der modernen Zeit verglichen.
Der Umstand, daß der Major ihn aus dem Stationsdienst entfernt hatte, konnte eine Beförderung, aber auch eine Degradierung bedeuten. Da Mannon ihn jedoch zurückhaben wollte, mußte die Aufgabe, die O’Mara für ihn in petto hatte, von größerer Wichtigkeit sein. Daraus schloß Conway mit ziemlicher Sicherheit, daß er von O’Mara keine Schwierigkeiten zu erwarten hatte, und das war recht angenehm. Aber die Neugierde brachte ihn halb um.
Am nächsten Morgen erhielt er die Anweisung, sich im Büro des Chefpsychologen zu melden.