34

Als Mannon ihn verlassen hatte, ging Conway zu seinem Patienten zurück. Äußerlich erinnerte er immer noch an einen Napfkuchen, dachte Conway, aber an einen Napfkuchen, der im Laufe der Äonen Runzeln und Falten bekommen hat. Conway stellte fest, daß erst eine Woche verstrichen war, seit er den Patienten übernommen hatte. Die fünf Paar Gliedmaßen, die alle bereits Spuren des Ausschlages zeigten, standen starr und in seltsamen Winkeln vom Körper ab, gleichsam wie versteinerte Zweige an einem alten Baum. Conway hatte schon frühzeitig damit gerechnet, daß der Ausschlag die Atemöffnungen überwuchern würde und hatte deshalb Röhren eingeführt. Diese Röhren hatten die gewünschte Wirkung, aber die Atmung war trotzdem langsamer geworden. Das Stethoskop verriet, daß der Herzschlag schwächer, dafür aber schneller geworden war.

Conway war sich unschlüssig. Der Schweiß trat ihm auf die Stirn.

Wenn es nur ein gewöhnlicher Patient wäre, dachte er ärgerlich; ein Patient, den man behandeln und über dessen Therapie man offen diskutieren konnte. Aber hier lag eine Komplikation vor. Der Patient war Angehöriger einer weit fortgeschrittenen und möglicherweise feindselig gesinnten Rasse, und er, Conway, konnte sich niemandem anvertrauen, wollte er vermeiden, daß man ihm den Fall wegnahm, ehe er seine Theorie beweisen konnte.

Kursedd beobachtete ihn aufmerksam, als er die Station verließ, und Conway überlegte, ob er seinem Helfer einschärfen sollte, nichts von dem zu erzählen, was er sah. Aber das hatte keinen Sinn; das hätte den Klatsch nur noch schlimmer gemacht. Das Pflegepersonal sprach ohnehin schon über ihn, und ihm war aufgefallen, wie einige der älteren Schwestern schon begannen, ihn recht kühl zu behandeln. Aber wenn er Glück hatte, würden seine Vorgesetzten erst in einigen Tagen erfahren, was er hier tat.

Drei Stunden später befand er sich mit Dr. Prilicla wieder in 310 B. Er überprüfte Herzschlag und Atmung, während der GNLO nach geistiger Ausstrahlung suchte.

„Sehr schwach“, meldete Prilicla langsam. „Da ist zwar noch Leben, aber so schwach, daß es sich seiner selbst nicht bewußt ist. In Anbetracht der praktisch nicht mehr existierenden Atmung und des schwachen Pulsschlags…“

Der Gedanke an den Tod war für einen Empathen besonders niederdrückend, und das empfindliche kleine Wesen brachte es einfach nicht über sich, den Satz zu Ende zu sprechen.

„Dann hat all der Schrecken, den wir ihm eingejagt haben, um ihn zu beruhigen, nichts geholfen“, sagte Conway halb im Selbstgespräch. „Er hatte nicht essen können, und wir haben ihn dazu veranlaßt, Energiereserven zu verbrauchen, die er dringend selbst benötigte.“

„Aber warum? Wir haben dem Patienten doch geholfen.“

„Natürlich“, sagte Conway mit beißend sarkastischer Stimme, obwohl er wußte, daß der Translator seines Mitarbeiters den Sarkasmus nicht übertragen würde.

Er wollte gerade die Untersuchung fortsetzen, als es eine plötzliche Unterbrechung gab.

Das Wesen, dessen mächtige Gestalt an beiden Seiten der Tür anstieß, war ein Tralthaner, physiologische Klassifikation FGLI. Für Conway waren die Bewohner des Planeten Traltha ebenso schwer zu unterscheiden wie Schafe, aber den hier kannte er. Das war kein Geringerer als Thornnastor, der leitende Diagnostiker der pathologischen Abteilung.

Der Diagnostiker richtete zwei seiner Augen auf Prilicla und verlangte dröhnend: „Gehen Sie hinaus, bitte. Sie auch, Pfleger.“ Dann richtete er alle vier Augen auf Conway.

„Ich spreche zu Ihnen allein“, sagte Thornnastor, als die beiden gegangen waren. „Einige meiner Bemerkungen beziehen sich nämlich auf Ihr professionelles Verhalten in diesem Fall, und ich möchte Sie nicht öffentlich tadeln. Aber zunächst will ich Ihnen die gute Nachricht bringen, daß wir ein Mittel gegen dieses Geschwür entwickelt haben. Es verhindert nicht nur die weitere Ausbreitung, sondern weicht auch die bereits betroffenen Hautstellen auf und stellt das Gewebe und die Blutgefäße darunter wieder her.“

Verdammt! dachte Conway. Laut sagte er:

„Eine hervorragende Leistung.“ Und das war es auch.

„Das wäre nicht möglich gewesen, wenn wir nicht einen Arzt zu dem Wrack geschickt hätten, mit der Anweisung, uns alles zu schicken, was vielleicht Rückschlüsse auf den Metabolismus des Patienten erlaubte“, fuhr der Diagnostiker fort. „Offenbar haben Sie diese Informationsquelle völlig übersehen, Doktor, denn die einzigen Proben, die Sie lieferten, waren jene, die Sie von dem Wrack mitbrachten. Das war ein grobes Versäumnis, Doktor, und es ist nur Ihren bisherigen guten Leistungen zuzuschreiben, daß Sie nicht degradiert worden sind und daß man Ihnen den Fall nicht entzogen hat.

Unser Erfolg geht in erster Linie darauf zurück, daß wir einen anscheinend sehr gut ausgestatteten Medizinkasten gefunden haben“, fuhr Thornnastor fort. „Eine Untersuchung des Inhalts, verbunden mit anderen Informationen über das Wrack, führte uns zu dem Schluß, daß es sich um eine Art Ambulanzschiff gehandelt haben muß. Die Offiziere vom Monitor-Korps waren sehr erregt, als wir ihnen dies sagten…“

„Wann?“ fragte Conway scharf. Ihm war es eisig über den Rücken gelaufen. Aber vielleicht hatte er noch eine Chance, Skempton daran zu hindern, Verbindung herzustellen. „Wann haben Sie ihnen gesagt, daß es ein Ambulanzschiff sei?“

„Für Sie kann das nur von zweitrangigem Interesse sein“, sagte Thornnastor und holte eine große Flasche aus seinem Ranzen. „Sie sollten sich in erster Linie um den Patienten kümmern. Sie werden eine Menge von dem Zeug hier brauchen, und wir stellen es so schnell wie möglich synthetisch her, aber das hier reicht jedenfalls aus, um die Kopf- und Mundregion freizulegen. Injizieren Sie den Stoff nach der Anweisung. Es dauert etwa eine Stunde, bis sich eine Wirkung einstellt.“

Conway hob die Flasche vorsichtig hoch. Er versuchte, Zeit zu gewinnen. So fragte er: „Was ist mit den Auswirkungen auf lange Sicht? Ich möchte nichts riskieren…“

„Doktor“, unterbrach Thornnastor, „mir scheint, Sie übertreiben hier die Vorsicht auf geradezu sträfliche Weise.“ Die Stimme des Diagnostikers klang in Conways Translator völlig ausdruckslos, aber er brauchte kein Empath zu sein, um zu wissen, daß der andere äußerst ärgerlich war. Die Art und Weise, wie Thornnastor zur Tür hinausstürmte, zeigte das noch deutlicher.

Conway fluchte. Die Monitore waren im Begriff, mit der fremden Kolonie Kontakt aufzunehmen, wenn sie es nicht schon getan hatten, und bald würden die Fremden im ganzen Hospital herumschwirren, um zu erfahren, was er, Conway, für den Patienten tat. Wenn das Wesen also nicht auf dem Wege der Besserung war, bis sie eintrafen, würde es Schwierigkeiten geben, ganz gleich, was für Leute es auch sein mochten. Und noch viel früher würde es Schwierigkeiten interner Art geben, denn er hatte Thornnastor überhaupt nicht von seinen beruflichen Fähigkeiten überzeugen können.

In der Hand hielt er die Flasche, deren Inhalt bald alles das tun würde, was der Chefpathologe behauptete — kurz, den Zustand beseitigen, der den Patienten zu belästigen schien. Conway überlegte noch einen Augenblick und blieb dann bei der Entscheidung, die er vor etwa sieben Tagen gefällt hatte. Er konnte die Flasche verstecken, ehe Prilicla zurückkam.

„Hören Sie gut zu“, sagte Conway gereizt, „ehe Sie ein Wort sagen. Ich wünsche keine Debatten hinsichtlich der Bearbeitung dieses Falles, Doktor. Ich glaube zu wissen, was ich tue, aber wenn ich mich geirrt haben sollte und Sie davon wissen, würde Ihr berufliches Renommee darunter leiden. Verstehen Sie?“

Priliclas sechs Spinnenbeine zitterten. Conway wußte, daß seine geistige Ausstrahlung im Augenblick nicht gerade angenehm war.

„Ich verstehe“, sagte Prilicla.

„Sehr gut“, nickte Conway. „Jetzt gehen wir wieder an die Arbeit. Ich möchte, daß Sie mit mir den Puls und die Atmung sowie die geistige Ausstrahlung überprüfen. Es sollte bald zu einer Veränderung kommen, und ich möchte diesen Wechsel nicht versäumen.“

Einmal ließ er das Wesen mit Prilicla und Kursedd allein und versuchte, Oberst Skempton zu erreichen. Aber man sagte ihm, der Oberst hätte das Hospital in aller Eile vor drei Tagen verlassen. Er hätte zwar die Raumkoordinaten seines Bestimmungsorts angegeben, es sei aber unmöglich, mit dem Schiff über die interstellaren Entfernungen hinweg Verbindung aufzunehmen, solange es sich im Flug befand.

Es war also zu spät, das Korps daran zu hindern, mit den Fremden Verbindung aufzunehmen. Blieb ihm also nur die eine Möglichkeit, den Patienten zu „kurieren“.

Wenn man es ihm erlaubte…

Der Interkom an der Wand knackte und sagte:

„Dr. Conway, bitte sofort in Major O’Maras Büro.“ Er dachte gerade, daß Thornnastor sich mit seiner Beschwerde beeilt hatte, als Prilicla sagte:

„Atmung beinahe nicht vorhanden. Herzschlag unregelmäßig.“

Conway riß das Mikrofon aus dem Halter und schrie: „Hier Conway. Sagen Sie O’Mara, ich sei beschäftigt!“ Dann zu Prilicla gewandt: „Ich hab’s auch bemerkt. Und wie steht’s mit seiner geistigen Ausstrahlung?“

„Während der Pulsschwankung stärker, aber jetzt sind beide wieder normal. Die Atmung wird immer noch schwächer.“

„Gut. Halten Sie die Ohren offen.“

Conway nahm eine Probe der ausgeatmeten Luft und stellte damit eine Analyse an. Selbst wenn man bedachte, wie schwach die Atmung des Fremden ging, ließ doch dieses Ergebnis, ebensowenig wie die anderen Proben, die er in den letzten zwölf Stunden genommen hatte, keinen Zweifel offen.

Er begann sich jetzt etwas sicherer zu fühlen.

„Atmung beinahe Null“, sagte Prilicla.

Ehe Conway antworten konnte, stürmte O’Mara durch die Tür herein. Höchstens sechs Zoll von Conway entfernt, blieb er stehen und sagte mit gefährlich leiser Stimme: „Womit sind Sie denn so beschäftigt, Doktor?“

Conway tanzte vor Ungeduld beinahe herum.

„Hat das nicht einen Augenblick Zeit?“ fragte er bittend.

„Nein.“

Er würde den Psychologen nicht loswerden, ohne eine Erklärung abzugeben, das wußte Conway. Und er mußte die nächste Stunde ohne Störung arbeiten können! Er trat schnell an die Seite des Patienten und gab O’Mara über die Schulter hinweg eine kurze Zusammenfassung seiner Vermutungen hinsichtlich des fremden Ambulanzschiffes und der Kolonie, von der es kam. Abschließend bat er den Psychologen inständig, Skempton anzurufen und ihn zu bitten, die erste Kontaktaufnahme mit den Fremden aufzuschieben, bis Genaueres über den Zustand des Patienten bekannt war.

„Dann haben Sie das alles schon seit einer Woche gewußt und uns nichts davon gesagt“, meinte O’Mara nachdenklich, „und ich verstehe, warum Sie es taten. Aber das Korps hat schon oft Kontakt mit fremden Rassen aufgenommen und jedesmal mit Erfolg. Wir haben Leute, die eigens für diese Dinge ausgebildet sind, und Sie haben sich wie ein Vogel Strauß verhalten — nämlich gar nichts getan und gehofft, daß das Problem an uns vorbeigehen würde. Aber dieses Problem betrifft eine Kultur, die weit genug fortgeschritten ist, um den intergalaktischen Raum zu durchqueren — ein solches Problem ist zu groß, als daß man sich einfach vor ihm verstecken könnte. Es muß schnell und positiv gelöst werden. Ideal wäre natürlich, wenn wir den Beweis unseres guten Willens dadurch anträten, daß wir den Überlebenden gesund vorwiesen…“

O’Maras Tonfall änderte sich plötzlich. Er stand ganz dicht hinter Conway, und der Arzt spürte seinen heißen Atem im Nacken.

„… Und das bringt uns wieder zu dem Patienten hier, dem Wesen, das Sie behandeln sollen. Sehen Sie mich an, Conway!“

Conway wandte sich um, aber erst, nachdem er sich überzeugt hatte, daß Prilicla den Patienten nicht aus dem Auge ließ. Er stellte sich in Gedanken wütend die Frage, warum ausgerechnet alles gleichzeitig passieren mußte, anstatt sich ruhig und hintereinander zu entwickeln.

„Bei der ersten Untersuchung“, fuhr O’Mara ruhig fort, „rannten Sie in Ihr Zimmer, ehe wir uns schlüssig werden konnten. Ich dachte, Sie hätten Panik bekommen, sagte aber damals nichts. Später schlug Dr. Mannon eine Behandlung vor, die zwar drastisch war, aber beim Zustand des Patienten durchaus angezeigt schien. Sie lehnten sie ab. Dann entwickelte die pathologische Abteilung ein Mittel, das den Patienten binnen Stunden geheilt hätte, und Sie weigerten sich sogar, das anzuwenden!

Normalerweise gebe ich nichts auf Gerüchte“, fuhr O’Mara fort, und seine Stimme hob sich wieder, „aber wenn sie schon vom Pflegepersonal verbreitet werden, das gewöhnlich sehr genau weiß, wovon es redet, und wenn das Gerede gar nicht mehr aufhören will, dann muß ich es zur Kenntnis nehmen. Es steht fest, daß Sie trotz der dauernden Überwachung des Patienten, die Sie für nötig halten, und trotz der zahlreichen Untersuchungen und Proben, die Sie in die Pathologische geschickt haben, absolut nichts für das Wesen getan haben.

Sie haben so getan als behandelten Sie es, und dabei ist es langsam, aber sicher gestorben. Sie hatten solche Angst vor den Folgen eines Versagens, daß Sie nicht imstande waren, auch nur die einfachste Entscheidung zu treffen…“

„Und was, zum Teufel“, fragte Conway wütend, „glauben Sie dann, daß ich tue?“

„Nichts!“ schrie O’Mara. „Absolut nichts!“

„Das stimmt!“ schrie Conway zurück.

„Atmung hat aufgehört“, sagte Prilicla leise.

Conway wirbelte herum und drückte auf den Rufknopf für Kursedd. Dann sagte er: „Herztätigkeit? Geist?“

„Puls schneller. Emotionelle Ausstrahlung etwas stärker.“

Jetzt trat Kursedd ein, und Conway rasselte einige Anweisungen herunter. Er brauchte Instrumente aus dem unmittelbar angrenzenden DBLF-Operationssaal. Aseptische Behandlung war unnötig, ebenso wie Anästhesie — er brauchte nur eine genügend große Anzahl Schneidinstrumente. Sein Assistent verschwand, und Conway rief die pathologische Abteilung an und erkundigte sich nach einem geeigneten Blutstillmittel für den Fall, daß ein größerer chirurgischer Eingriff nötig sein sollte. Man versprach, ihm das Mittel in ein paar Minuten zu schicken. Als er sich vom Interkom abwandte, sagte O’Mara:

„All diese fieberhafte Tätigkeit, diese Spiegelfechterei beweist überhaupt nichts. Der Patient hat zu atmen aufgehört. Wenn er noch nicht tot ist, ist er es beinahe, und Sie tragen die Schuld. Der Himmel stehe Ihnen bei, Doktor.“

Conway schüttelte abwesend den Kopf. „Unglücklicherweise können Sie durchaus recht haben, aber ich hoffe, daß er nicht sterben wird“, sagte er. „Ich kann das jetzt nicht erklären, aber Sie könnten mir helfen, indem Sie Skempton anrufen und ihm sagen, er soll diese fremde Kolonie in Frieden lassen. Ich brauche Zeit, wieviel, weiß ich noch nicht.“

„Sie geben auch nie auf“, sagte O’Mara ärgerlich, trat aber trotzdem ans Interkom. „Denken Sie doch einmal darüber nach…“, sagte Conway über die Schulter zu O’Mara. „Die Luft der letzten zwölf Stunden, die der Patient ausgeatmet hat, ist frei von Unreinheiten gewesen. Der Patient hat also geatmet, aber die Luft nicht verbraucht…“

Er beugte sich vor und lauschte an seinem Stethoskop. Der Herzschlag ging jetzt etwas schneller, dachte er, und auch stärker, aber da war eine beunruhigende Unregelmäßigkeit. Aber Conway wußte nicht, ob das Herz allein für das Geräusch verantwortlich war oder ob auch andere organische Bewegungen dazu beitrugen. Es beunruhigte ihn, weil er nicht wußte, was für einen Patienten wie diesen normal war. Der Fremde hatte sich schließlich in einem Ambulanzschiff befunden. Er konnte also außer seinem augenblicklichen Zustand auch noch ein anderes Gebrechen gehabt haben.

„Was reden Sie da?“ unterbrach ihn O’Mara und machte Conway damit bewußt, daß er laut gedacht hatte. „Wollen Sie sagen, daß der Patient nicht krank ist…?“

„Eine Wöchnerin kann auch Schmerzen haben, ohne im strengen Sinn krank zu sein“, sagte Conway geistesabwesend.

Er wünschte, mehr von dem zu wissen, was jetzt in seinem Patienten vor sich ging. Wären die Ohren des Wesens nicht völlig von der Wucherung bedeckt gewesen, hätte er versucht, den Translator zu benützen. Diese saugenden, stoßenden, gurgelnden Geräusche konnten alles und nichts bedeuten.

„Conway…!“ begann O’Mara und atmete so tief, daß man es in der ganzen Station hören mußte. Dann fuhr er mit leiser Stimme fort: „Ich bin in Verbindung mit Skemptons Schiff. Offenbar sind sie schnell vorwärtsgekommen und haben bereits Verbindung mit den Fremden aufgenommen. Sie holen jetzt den Oberst…“ Er unterbrach sich und fügte dann hinzu: „Ich drehe etwas lauter, damit Sie hören, was er sagt.“

„Nicht zu laut“, sagte Conway, und dann zu Prilicla gewandt: „Wie ist die geistige Ausstrahlung?“

„Viel stärker. Ich spüre jetzt wieder verschiedene Emotionen. Gefühle des Drangs, der Angst und der Sorge — wahrscheinlich Klaustrophobie.“

Conway musterte den Patienten lange und sorgfältig. Keine Bewegung war zu sehen. Dann sagte er plötzlich:

„Ich kann nicht länger warten. Er muß zu schwach sein, um sich selbst zu helfen. Eine Wand, Schwester.“

Diese Wand sollte lediglich O’Mara ausschließen. Hätte der Psychologe gesehen, was nun kam, ohne genau zu wissen, was vor sich ging, hätte er zweifellos falsche Schlüsse gezogen und vielleicht sogar Conway gewaltsam an seinem weiteren Vorgehen gehindert.

„Er wird immer unruhiger“, sagte Prilicla plötzlich. „Er hat nicht gerade Schmerzen, aber es handelt sich um ein Gefühl der Beengung.“

Conway nickte. Er winkte nach einem Skalpell und begann in das Geschwür zu schneiden, wobei er versuchte, seine Tiefe festzustellen. Jetzt war es wie weicher, zerbröckelnder Kork und bot dem Messer kaum Widerstand. In einer Tiefe von fast zwanzig Zentimeter legte er eine graue, ölige und schwach irisierende Membrane frei, aber Blut floß keines. Conway atmete erleichtert auf, zog das Skalpell zurück und wiederholte den Schnitt an einer anderen Stelle. Diesmal hatte die Membrane einen grünlichen Schein und zuckte leicht.

Offenbar betrug die durchschnittliche Tiefe der Wucherung knapp zwanzig Zentimeter. In fieberhafter Eile öffnete Conway das Gewächs an insgesamt acht Stellen, die in etwa gleichmäßigem Abstand über den ganzen ringförmigen Körper verteilt waren. Dann sah er Prilicla fragend an.

„Viel schlimmer jetzt“, sagte der GNLO. „Äußerste geistige Bedrängnis. Furcht, Gefühle des Erstickens. Puls nimmt zu. Unregelmäßig — das Herz ist ziemlich belastet. Jetzt verliert er wieder das Bewußtsein…“

Ehe der Empath zu Ende gesprochen hatte, fing Conway zu hacken an. Mit langen, wütenden Schlägen verband er die Öffnung, die er bereits geschaffen hatte, mit tiefen, zackigen Schnitten. Geschwindigkeit ging jetzt über alles. Chirurgie konnte man das, was er tat, bei aller Phantasie nicht nennen, denn ein Holzfäller mit einer stumpfen Axt hätte wohl sauberere Arbeit geleistet.

Als er fertig war, sah er den Patienten drei lange Sekunden an, aber da war immer noch keine Spur einer Bewegung. Conway ließ das Skalpell fallen und zerrte mit den Händen an dem Gewächs.

Plötzlich erfüllte Skemptons Stimme die Station. Er beschrieb mit erregten Worten seine Landung auf der fremden Kolonie und wie die Verbindung mit den Fremden zustandegekommen war. Dann fuhr er fort:

„… und, O’Mara, das soziologische System hier ist unglaublich. Ich habe noch nie so etwas gehört. Es gibt hier zwei verschiedene Lebensformen…“

„… die aber der gleichen Spezies angehören“, warf Conway mit lauter Stimme ein, ohne dabei die Arbeit einzustellen. Der Patient zeigte jetzt deutliche Anzeichen des Lebens und begann sich selbst zu helfen. Am liebsten hätte Conway vor Freude laut aufgeschrien, fuhr aber stattdessen in seiner Rede fort: „Eine Form ist der zehnbeinige Typ, wie unser Freund hier, aber er hält natürlich den Schwanz nicht im Mund. Das ist nur eine Übergangsstellung.

Die andere Form ist… ist…“ Conway hielt inne, um das Wesen, das jetzt vor ihm lag, zu mustern. Die Überreste des Geschwürs, die den Patienten bedeckt hatten, lagen auf dem Boden herum, teils von Conway hinuntergeworfen, teils vom Wesen selbst abgeschüttelt. Er fuhr fort:

„… Sauerstoffatmer natürlich, eierlegend. Langer, stabartiger, aber flexibler Körper mit vier insektenartigen Beinen, Greifwerkzeugen, üblichen Sinnesorganen und drei Flügelpaaren. Klassifikation GKNM. Sieht etwa wie eine große Fliege aus.

Ich würde sagen, daß die erste Form, ihren grob entwickelten Gliedmaßen nach zu schließen, den größten Teil der schweren Arbeit getan hat. Erst, nachdem sie das Larven-Stadium hinter sich gebracht und die schönere Fliegengestalt angenommen hat, betrachtet man sie als reif und für verantwortliche Arbeit fähig. Ich kann mir gut vorstellen, daß sich dabei eine komplizierte Gesellschaft entwickelt…“

„Ich wollte gerade sagen“, rief Oberst Skempton, und man merkte seiner Stimme den Ärger darüber an, daß ihm jemand den Applaus gestohlen hatte, „daß ein paar von diesen Wesen unterwegs sind, um sich um unseren Patienten zu kümmern. Sie bitten darum, daß wir nichts unternehmen…“

An diesem Punkt schob O’Mara den Wandschirm beiseite. Er starrte den Patienten an, der jetzt damit beschäftigt war, seine Flügel auszuschütteln, und riß sich dann zusammen. „Ich glaube, ich muß mich jetzt entschuldigen, Doktor. Aber warum haben Sie es niemand gesagt…?“

„Ich hatte keinen Beweis, daß meine Theorie stimmte“, sagte Conway ernsthaft. „Als mein Patient ein paarmal in Panik geriet, als ich ihm helfen wollte, argwöhnte ich, daß der Ausschlag normal war. Und dann gab es noch andere Hinweise. Die Tatsache, daß er keine Nahrung aufnahm, die ringartige Stellung mit den Gliedmaßen nach außen gerichtet — offenbar eine Verteidigungsstellung und schließlich die Tatsache, daß die ausgeatmete Luft in den späteren Stadien keine Unreinheiten zeigte und somit den Beweis erbrachte, daß die Lunge und das Herz, die wir unter Bobachtung hielten, überhaupt keine direkte Verbindung mehr besaßen.“

Conway fuhr in seiner Erklärung fort und sagte, er sei sich am Anfang seiner Behandlung seiner Theorie nicht sicher gewesen, andererseits aber auch nicht unsicher genug, um Mannon oder Thornnastor gewähren zu lassen. Er hatte die Entscheidung getroffen, daß der Zustand des Patienten normal oder wenigstens einigermaßen normal war, und daß das beste Vorgehen das sei, überhaupt nichts zu tun. Das hatte er getan.

„… Aber das hier ist ein Hospital, das für seine Patienten alles tun will“, fuhr Conway fort, „und ich kann mir nicht vorstellen, daß Dr. Mannon, Sie oder einer der anderen Ärzte einfach zugesehen und nichts getan hätte, während dieser Patient ihnen offensichtlich unter den Händen gestorben wäre. Vielleicht hätte jemand meine Theorie akzeptiert und sich bereit erklärt, danach zu handeln, aber sicher konnte ich dessen nicht sein. Und wir mußten diesen Patienten kurieren, weil seine Freunde zu diesem Zeitpunkt noch ein recht unbekannter Faktor waren…“

„Natürlich, natürlich“, unterbrach ihn O’Mara und hob die Hände. „Sie sind ein Genie, Doktor, oder so etwas Ähnliches, aber was nun?“

Conway rieb sich das Kinn und sagte dann nachdenklich: „Wir dürfen nicht vergessen, daß der Patient sich in einem Ambulanzschiff befand. Also muß irgend etwas an ihm nicht in Ordnung gewesen sein — ich meine, abgesehen von seinem Zustand. Er war zu schwach, seine eigene Larve zu durchbrechen und brauchte Hilfe. Vielleicht war diese Schwäche sein ganzes Gebrechen. Aber wenn es noch etwas anderes war, dann werden Thornnastor und seine Leute ihn kurieren können, jetzt, da wir ja mit ihm sprechen und daher seine Mithilfe bekommen können.“

„Es sei denn“, sagte er plötzlich besorgt, „unsere vorhergehenden Versuche, den Fremden zu beruhigen, hätten zu dauerndem geistigen Schaden geführt.“

Er schaltete den Translator ein, kaute auf der Unterlippe herum und sagte dann zu dem Patienten:

„Wie fühlen Sie sich?“

Die Antwort war kurz und prägnant, aber sie war genau das, was ein besorgter Arzt von seinem Patienten hören möchte.

„Ich habe Hunger“, sagte der Patient.

Загрузка...