21

Am nächsten Morgen wies seine Schreibtischplatte wieder ein zwei Zoll tiefes Loch auf, in dem Arretapec es sich bequem gemacht hatte. Conway hatte kaum zu verstehen gegeben, daß er wach sei, als das Wesen schon sprach:

„Ich habe mir seit gestern überlegt“, sagte der VUXG, „daß ich vielleicht von Ihnen als dem Angehörigen einer Spezies, die — relativ gesehen natürlich — nur von geringer geistiger Kapazität ist, zuviel an Selbstkontrolle, emotionellem Gleichgewicht und der Fähigkeit, gewisse physische Reize zu ertragen, erwarte. Ich werde mich bemühen, im Laufe unserer Zusammenarbeit dies gebührend zu berücksichtigen.“

Conway brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, daß Arretapec sich bei ihm entschuldigt hatte. Als er es aber begriffen hatte, überlegte er, daß das die beleidigendste Entschuldigung war, die man ihm gegenüber vorgebracht hatte und daß es in der Tat ein Tribut an seine Selbstbeherrschung war, daß er das dem anderen nicht sagte. Statt dessen lächelte er nur und bestand darauf, daß alles seine Schuld sei. Dann begaben sie sich wieder zu ihrem Patienten.

Das Innere des großen Transporters hatte sich bis zur Unkenntlichkeit verändert. Anstelle einer Hohlkugel, die mit einem schlammigen Brei aus Erde, Wasser und Pflanzen bedeckt war, boten jetzt drei Viertel der verfügbaren Oberfläche das perfekte Abbild einer Landschaft des Mesozoikums. Und doch war es anders als die Bilder, die Conway gestern studiert hatte, denn diese Bilder bezogen sich auf ein fernes Zeitalter der Erde, während diese Flora von der Heimatwelt des Patienten herbeigeschafft worden war. Aber die Unterschiede waren verblüffend gering. Die größte Veränderung aber war mit dem Himmel vor sich gegangen.

Wo man vorher bis zur gegenüberliegenden Seite der Hohlkugel hatte sehen können, blickte man jetzt zu einem blauweißen Nebel auf, in dem eine äußerst natürlich wirkende Sonne brannte. Die hohle Mitte des Schiffes war mit diesem halb undurchsichtigen Gas beinahe angefüllt worden, so daß es jetzt wirklich scharfer Augen und bewußten Nachdenkens bedurfte, um zu erkennen, daß man nicht auf einem echten Planeten mit einer echten Sonne am nebligen Himmel stand. Die Ingenieure hatten wirklich großartige Arbeit geleistet.

„Ich hätte nicht gedacht, daß eine so lebensnahe und exakte Rekonstruktion möglich wäre“, sagte Arretapec plötzlich. „Das dürfte auf den Patienten eine positive Wirkung haben.“

Das Lebewesen, von dem die Rede war — aus irgendeinem wohl nur ihnen bekannten Grund bestanden die Ingenieure darauf, es Emily zu nennen — knabberte gerade zufrieden an den Blättern eines zehn Meter hohen Palmengewächses.

„Es ist im Prinzip dasselbe, als wenn man für einen beliebigen extraterrestrischen Patienten eine neue Station einrichtet“, sagte Conway bescheiden. „Der Hauptunterschied liegt nur im Umfang der Arbeiten.“

„Trotzdem bin ich beeindruckt.“

Zuerst Entschuldigungen und jetzt Komplimente, dachte Conway. Als sie dem Patienten näherkamen, schärfte Arretapec seinem Assistenten erneut ein, sich völlig ruhig zu verhalten und sich nicht zu bewegen.

Plötzlich verspürte Conway wieder einen Juckreiz. Er begann an der üblichen Stelle in seinem rechten Ohr, aber diesmal breitete er sich schnell aus und nahm an Intensität zu, bis Conway meinte, ihm liefen tausend bissige Insekten über sein Gehirn. Er spürte, wie ihm der kalte Schweiß ausbrach. Seine Hand fuhr in einer panikartigen Bewegung an seinen Kopf, wodurch der Behälter, in dem Arretapec sich befand, zu Boden gestoßen wurde.

„Jetzt zappeln Sie schon wieder herum…“ begann der VUXG.

„Tut… tut mir leid“, stammelte Conway. Er murmelte etwas Unzusammenhängendes, aus dem man entnehmen konnte, daß er weggehen müsse, daß es sehr dringend sei und keinen Aufschub dulde, und dann floh er im Zustand höchster Erregung.


Drei Stunden später saß er in Dr. Mannons DBGD-Untersuchungssaal, während Mannons Hund ihn abwechselnd bösartig anknurrte oder sich vor ihm auf dem Boden wälzen und ihn flehentlich darum zu bitten schien, doch mit ihm zu spielen. Aber Conway verspürte im Augenblick nicht die geringste Lust oder Neigung dazu, einen Ringkampf mit dem Hund aufzuführen, wie er es sonst manchmal tat. Seine ganze Aufmerksamkeit war auf den Kopf seines ehemaligen Vorgesetzten gerichtet und die Karten, die Mannon vor sich liegen hatte.

Plötzlich blickte der Arzt auf.

„Ihnen fehlt gar nichts“, sagte er in dem Tonfall, den er gewöhnlich bei Studenten und Patienten anwandte, von denen er annahm, daß sie simulierten. Ein paar Augenblicke später fügte er hinzu: „Oh, ich zweifle nicht im geringsten daran, daß Sie diese Empfindungen verspüren — Müdigkeit, Juckreiz und so fort — aber alle Zeichen deuten darauf hin, daß es sich um ein psychosomatisches Gebrechen handelt. An was für einem Fall arbeiten Sie denn im Augenblick?“

Conway sagte es ihm. Ein paarmal während des Berichts grinste Mannon.

„Ich nehme an, das ist das erstemal, daß Sie einem telepathischen Lebewesen — äh — ausgesetzt sind und daß Sie vor mir noch mit niemandem darüber gesprochen haben?“ Das war eine Feststellung, keine Frage. „Und dieser Juckreiz hält, wenn auch natürlich mit geringerer Intensität, auch dann an, wenn Sie sich nicht in der Nähe des VUXG und des Patienten befinden.“

Conway nickte. „Ich habe ihn erst vor fünf Minuten wieder empfunden.“

„Natürlich, er nimmt mit der Entfernung ab“, sagte Mannon. „Aber was Sie selbst betrifft — Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Arretapec versucht einfach — natürlich ohne es zu wissen, verstehen Sie mich richtig — einen Telepathen aus Ihnen zu machen. Ich erkläre es Ihnen…“

Offenbar stimulierte längerer Kontakt mit irgendwelchen telepathischen Lebewesen einen gewissen Bereich im menschlichen Gehirn. Das war entweder der Anfang einer telepathischen Funktion, die sich in der Zukunft entwickeln würde, oder ein verkümmertes Überbleibsel einer Fähigkeit, die der Mensch in seiner primitiven Vergangenheit einmal besessen hatte.

Das Ergebnis war eine lästige, aber völlig harmlose Reizung. Zu sehr seltenen Gelegenheiten jedoch, fügte Mannon hinzu, bewirkte diese Nähe im Menschen eine Art künstlicher telepathischer Fähigkeit — das hieß, er konnte manchmal Gedanken von dem Telepathen empfangen, dem er ausgesetzt war, aber von keinem anderen Wesen. Es handelte sich in allen Fällen um eine zeitlich strikt begrenzte Fähigkeit, die sofort verschwand, wenn das Wesen, das sie ausgelöst hatte, den Menschen verließ.

Während Dr. Mannon gesprochen und ihn von der Sorge befreit hatte, daß er sich irgendeine fremdartige Krankheit zugezogen hatte, hatte Conway fieberhaft nachgedacht. Einzelne Episoden, die mit Arretapec und dem Brontosaurier zu tun hatten, kamen ihm in Erinnerung und vermischten sich mit Bruchstücken aus den Gesprächen mit dem VUXG und seinen eigenen Studien des Lebens. Ein Bild begann in seinem Geist Gestalt anzunehmen. Es war ein verrücktes oder ein zumindest äußerst eigenartiges Bild, und es hatte noch viele Lücken, aber was konnte ein Wesen wie Arretapec mit einem Patienten wie dem Brontosaurier tun, einem Patienten, dem überhaupt nichts fehlte?

„Wie bitte?“ sagte Conway. Er hatte bemerkt, daß Mannon etwas gesagt hatte, was er nicht genau verstanden hatte.

„Ich sagte, wenn Sie herausfinden, was Arretapec tut, sagen Sie es mir bitte“, wiederholte Mannon.

„Oh, ich weiß, was er tut“, sagte Conway. „Wenigstens glaube ich das — und ich verstehe, warum Arretapec nicht darüber sprechen möchte. Er würde sich ja unsterblich blamieren, wenn er es versuchte und keinen Erfolg hätte. Nein, allein der Gedanke des Versuches ist schon lächerlich. Was ich nicht weiß, ist, warum er es tut…“

„Dr. Conway“, sagte Mannon mit verdächtig sanfter Stimme, „wenn Sie mir nicht sagen, wovon Sie reden, sorge ich dafür, daß Sie die nächsten vier Wochen Latrinendienst bekommen…“ Er lächelte freundlich.

Conway sprang auf. Er mußte sofort zu Arretapec zurück. Jetzt, wo er eine grobe Vorstellung hatte, was dort draußen in dem Transporter vor sich ging, gab es für ihn Wichtiges zu tun — dringende Sicherheitsvorkehrungen waren zu treffen, an die ein Wesen wie der VUXG vielleicht überhaupt nicht dachte.

„Tut mir leid, Sir“, sagte er abwesend, „ich kann es Ihnen nicht sagen. Wissen Sie, nach allem, was Sie mir jetzt erklärt haben, besteht durchaus die Möglichkeit, daß ich mein Wissen auf telepathischem Wege direkt von Arretapec bezogen habe, und in diesem Fall hindert mich mein Berufsgeheimnis, etwas davon zu sagen. Ich muß mich jetzt beeilen. Aber jedenfalls vielen Dank.“

Er hatte Mannons Büro kaum verlassen, als er schon auf den nächsten Interkomsprecher zurannte und die Pionierabteilung rief. Die Stimme, die sich meldete, erkannte er als die des Ingenieurobersten, mit dem er schon einmal zu tun gehabt hatte. Er fragte schnell: „Ist die Hülle dieses umgebauten Transporters stark genug, um den Aufprall eines Körpers von etwa achtzigtausend Pfund auszuhalten, wenn dieser Körper sich mit einer Geschwindigkeit zwischen zwanzig und hundert Meilen in der Stunde bewegt? Welche Sicherheitsvorkehrungen kann man dagegen treffen?“

Einen Augenblick herrschte Schweigen, dann:

„Machen Sie Witze mit mir? Der würde durchbrechen. Aber das Luftvolumen im Schiff ist so groß, daß meine Leute genügend Zeit hätten, die Anzüge anzulegen. Warum fragen Sie?“

Conway dachte fieberhaft nach. Er hatte bestimmte Vorstellungen, wollte aber den anderen nicht einweihen. So sagte er dem Oberst, daß er sich wegen der Schwerkraftgitter Sorge mache, die die künstliche Schwerkraft im Schiff erzeugten. Es gab davon so viele, daß schon eine versehentliche Umpolung eines Abschnitts ausreichen würde, um den Brontosaurier abzustoßen, anstatt ihn anzuziehen…

Der Oberst unterbrach ihn und räumte ein, daß man Schwerkraftgitter zwar ebenso auf Abstoßung wie Anziehung schalten könne, aber daß eine solche Umpolung ja nicht gerade dann erfolge, wenn jemand die Gitter schief ansähe. Schließlich gäbe es doch Sicherheitsvorkehrungen…

„Trotzdem“, unterbrach ihn Conway wieder. „Ich würde mich viel wohler fühlen, wenn Sie sämtliche Schwerkraftgitter so schalten könnten, daß diese automatisch auf Abstoßung umpolen, wenn sich ihnen ein schwerer fallender Körper nähert. Ist das möglich?“

„Ist das ein Auftrag?“ fragte der Oberst, „oder wollen Sie uns bloß Kopfschmerzen machen?“

„Es ist ein Auftrag“, erklärte Conway.

„Dann läßt es sich machen.“ Ein scharfes Klicken beendete die Unterhaltung.

Conway begab sich wieder zu Arretapec, um zum idealen Assistenten zu werden — ideal in der Weise, daß er immer die Antwort fertig haben würde, wenn der andere die Frage stellte. Er würde nur dafür sorgen müssen, daß der VUXG die richtigen Fragen stellte, dachte er.

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