Sechs Stunden darauf, von denen jede Minute eine Strapaze gewesen war, hatten sie den Fremden in Station 310 B gebracht, einen kleinen Beobachtungsraum mit anschließendem OP-Saal, der der DBLF-Chirurgiestation angegliedert war. Conway wußte nicht, ob er den Fremden kurieren oder lieber sterben lassen sollte, und Kursedd und die Monitore befanden sich, ihren Bemerkungen nach zu schließen, in einem ähnlichen Gewissenskonflikt. Conway stellte eine Voruntersuchung an, in der er dem Fremden Blut- und Hautproben entnahm. Er klebte rote Zettel mit der Aufschrift: ÄUSSERST DRINGEND darauf und schickte sie in die pathologische Abteilung. Kursedd brachte die Proben persönlich hinauf, anstatt sie der Rohrpostanlage anzuvertrauen, da die Leute von der Pathologie im Hinblick auf derartige Zettel chronisch farbenblind waren. Schließlich gab Conway noch die Anweisung, Röntgenaufnahmen zu machen, übertrug Kursedd die weitere Beobachtung des Patienten und begab sich zu O’Mara.
Als dieser seinen Bericht zu Ende gehört hatte, meinte O’Mara: „Das schlimmste haben Sie jetzt hinter sich, aber Sie wollen diesen Fall wahrscheinlich weiter bearbeiten?“
„Ich… glaube nicht“, antwortete Conway.
O’Mara runzelte die Stirn. „Wenn Sie nicht wollen, brauchen Sie es nur zu sagen. Ich mag es nicht, wenn man so lange um den heißen Brei herumredet.“
Conway atmete tief und sagte dann langsam und betont deutlich: „Ich möchte den Fall weiter bearbeiten. Der Zweifel, den ich äußerte, liegt nicht daran, daß ich mich nicht entscheiden kann, sondern bezieht sich auf Ihre irrige Annahme, daß das Schlimmste vorbei sei. Das ist es nämlich nicht. Ich habe eine Voruntersuchung angestellt und beabsichtige, morgen eine eingehendere Untersuchung anzustellen, sobald mir die Testergebnisse vorliegen. Und ich möchte, daß dann, wenn möglich, Dr. Mannon und Dr. Prilicla, sowie Oberst Skempton und Sie anwesend sind.“
O’Mara hob die Brauen. „Eine eigenartige Auswahl, Doktor“, meinte er. „Möchten Sie mir sagen, wozu Sie uns brauchen?“
Conway schüttelte den Kopf. „Das möchte ich lieber jetzt noch nicht tun.“
„Also gut, wir kommen“, versprach O’Mara nicht sonderlich begeistert. „Und jetzt legen Sie sich endlich schlafen, Doktor, ehe Ihnen die Augen von selber zufallen.“
Erst jetzt bemerkte Conway, wie müde er war, und ein wenig schwankend ging er auf sein Zimmer.
Am nächsten Morgen verbrachte Conway zwei Stunden mit seinem Patienten, ehe er die Konsultation einberief, die er mit O’Mara besprochen hatte. Alles, was er bisher herausgefunden hatte — und das war nicht sehr viel — besagt, daß er dem Wesen nicht viel helfen konnte, ohne einige Spezialisten hinzuzuziehen.
Dr. Prilicla, das spinnenartige, zerbrechliche Wesen der Klassifikation GNLO, kam als erster. O’Mara und Oberst Skempton, der Leitende Ingenieuroffizier des Hospitals, trafen zusammen ein. Dr. Mannon, der noch eine eilige Operation im DBLF-OP-Saal hatte beenden müssen, kam als letzter. Er war außer Atem und rannte zuerst zweimal um den Patienten herum.
„Sieht aus wie ein Napfkuchen“, sagte er. „Mit Entenmuscheln.“
Alle sahen ihn an.
„So einfach und harmlos sind die aber nicht“, meinte Conway und schob das Röntgenbetrachtungsgerät vor. „Es handelt sich vielmehr um einen Ausschlag, der nach Ansicht der pathologischen Abteilung bösartig ist. Und wenn Sie hier durchsehen, werden Sie feststellen, daß es kein Napfkuchen ist, sondern das Wesen eine ziemlich normale Anatomie vom Typ DBLF besitzt, einen zylindrischen, dünnknochigen Körper mit kräftiger Muskulatur. Das Wesen ist gar nicht ringförmig, sondern macht nur diesen Eindruck, weil es aus irgendeinem Grund, den es wahrscheinlich selbst am besten kennt, versucht hat, seinen Schmerz zu verschlucken.“
Mannon starrte auf den Bildschirm des Röntgenbetrachters, brummte ungläubig und richtete sich dann auf. „Ein circulus vitiosus würde ich sagen. Ist deshalb O’Mara hier? Sie glauben wohl, der Bursche hätte nicht alle Tassen im Schrank?“
Conway ignorierte die Frage. Er fuhr fort: „Der Ausschlag ist am stärksten, wo der Mund und der Schwanz des Patienten zusammenkommen — ja, er ist an dieser Stelle so dicht, daß man die Nahtstelle kaum sehen kann. Wahrscheinlich ist dieser Ausschlag schmerzhaft oder zumindest unangenehm, und ein unerträglicher Juckreiz könnte sehr wohl die Tatsache erklären, daß das Wesen sich in den Schwanz beißt. Eine andere Möglichkeit ist die, daß der Ausschlag einen Muskelkrampf hervorgerufen hat, eine Art epileptischen Anfall sozusagen…“
Er ließ seinen Zuhörern Zeit, sich darüber eine eigene Meinung zu bilden und fuhr dann fort:
„Ich habe trotz der künstlichen Schwerkraftanlage in dem Wrack festgestellt, daß die Luft-, Druck- und Schwerkrafterfordernisse des Patienten unseren eigenen sehr ähnlich sind. Diese Kiemenöffnungen hinter dem Kopf, die der Ausschlag noch nicht erreicht hat, sind Atemöffnungen. Die kleineren Löcher, die teilweise von Muskelklappen bedeckt sind, sind Ohren. Der Patient kann also hören und atmen, aber nicht essen. Sie teilen doch alle meine Meinung, daß als erster Schritt der Mund freigelegt werden sollte?“
Mannon und O’Mara nickten. Prilicla spreizte seine vier Greifarme in einer Geste, die ebenfalls Zustimmung bedeutete, und Oberst Skempton starrte ausdruckslos zur Decke und fragte sich ganz offensichtlich, was er hier eigentlich verloren hatte? Aber Conway ließ ihn nicht lange im unklaren.
Während Mannon und er den Verlauf der Operation festlegten, sollten der Oberst und Dr. Prilicla für die Verständigung sorgen. Der GNLO konnte mittels seiner empathischen Fähigkeiten versuchen, eine Reaktion zu spüren, während zwei von Skemptons Translatortechnikern Geräuschtests anstellen sollten. Sobald der Hörbereich des Patienten bekannt war, konnte man einen Translator für seine Bedürfnisse einstellen, und dann würde das Wesen ihnen, was Diagnose und Behandlung seiner Krankheit betraf, helfen können.
„Der Raum hier ist sowieso schon überfüllt“, sagte der Oberst. „Ich werde das selbst erledigen.“ Er trat an den Interkom, um die benötigten Geräte zu bestellen. Conway wandte sich O’Mara zu.
„Sagen Sie es nicht, lassen Sie mich raten“, begann der Psychologe, ehe Conway beginnen konnte. „Ich bekomme natürlich die leichteste Aufgabe — ich soll den Patienten beruhigen, sobald wir mit ihm sprechen können und ihn davon überzeugen, daß ihr beiden Fleischer ihm nicht wehtun wollt.“
„Genau das“, sagte Conway grinsend und wandte sich wieder seinem Patienten zu.
Der Ausschlag bedeckte die Nahtstelle zwischen dem Mund und dem Schwanz des Patienten wie eine zähe, faserige Baumrinde.
Mannon deutete auf das verschwommene Bild auf dem Bildschirm und sagte heftig:
„Dieses Biest hat sich ja ganz anständig gekratzt! Die Zähne haben sich richtig festgebissen — es hat sich ja praktisch den Schwanz abgebissen! In diesem Falle handelt es sich bestimmt um einen epileptischen Zustand, würde ich sagen. Sonst müßte eine solche Selbstverstümmelung schon auf einen schweren geistigen Defekt hindeuten…“
Jetzt trafen Skemptons Geräte ein, und Prilicla und der Oberst machten sich an die Arbeit, einen Translator auf den Patienten abzustimmen. Da das Wesen praktisch bewußtlos war, mußten die Testgeräusche von sehr hoher Intensität sein, und so blieb Mannon und Conway nichts anderes übrig, als ihre Diskussion im Korridor fortzusetzen.
Eine halbe Stunde später kam Prilicla heraus, um sie davon zu verständigen, daß sie jetzt zu dem Patienten sprechen konnten; der Geist des Wesens schien jedoch nur teilweise bei Bewußtsein zu sein. Sie eilten hinein.
O’Mara sagte gerade, sie seien alle Freunde und empfänden Sympathie für den Fremden und würden alles in ihrer Macht Stehende tun, um ihm zu helfen. Er redete mit leiser Stimme, und sein Translator gab die Worte als eine Reihe fremdartiger Zirplaute von sich.
„Sagen Sie ihm, daß ich ihn jetzt berühren werde“, sagte Conway zu O’Mara. „Sagen Sie ihm, daß es mir leid tut, wenn ich ihm Schmerz verursache. Aber ich meine es gut mit ihm.“
Er nahm eine lange, nadelspitze Sonde und berührte vorsichtig die Stelle, wo der Ausschlag am dicksten war. Der GNLO berichtete keine Reaktion.
Conway schaltete den Translator des Patienten ab und sagte: „Das hatte ich gehofft. Wenn die befallenen Stellen schmerzunempfindlich sind, können wir vielleicht den Mund freibekommen, ohne Anästhesie anzuwenden. Im Augenblick kennen wir nämlich den Metabolismus des Wesens noch nicht gut genug, um eine Narkose riskieren zu können — am Ende töten wir es damit.“
Er schaltete den Translator wieder ein und sagte leise: „Wir wollen Ihnen helfen. Zuerst wollen wir Ihren Mund freilegen…“
Plötzlich beulte sich das Schutznetz aus, und fünf Paar Tentakel schlugen wütend nach allen Seiten. Conway sprang mit einem Fluch zurück.
„Furcht und Angst“, erklärte Prilicla und fügte dann hinzu: „Das Wesen… es scheint Gründe für diese Empfindungen zu haben.“
„Aber warum? Ich will ihm doch helfen…!“
Der Patient schlug wie ein Berserker um sich. Priliclas zerbrechlicher Körper geriet ins Zittern, so stark war die emotionelle Ausstrahlung des Fremden. Einer der Tentakel des Fremden, ein Glied, das aus der mit Ausschlag behafteten Stelle hervorragte, verwickelte sich in das Netz und riß ab.
Diese blinde, unvernünftige Panik, dachte Conway niedergeschlagen. Aber Prilicla hatte gesagt, daß der Fremde einen Grund für diese Reaktion hatte. Conway fluchte: alles an diesem Fremden war voller Widersprüche.
„So!“ sagte Mannon aufatmend, als der Patient sich wieder beruhigt hatte.
„Furcht, Angst, Haß“, berichtete der GNLO. „Ich würde sagen, daß er entschieden Ihre Hilfe nicht haben will.“
„Dieses Biest ist wirklich krank“, meinte O’Mara grimmig.
Conway wünschte sich nichts sehnlicher, als daß ihn alle jetzt alleinließen, damit er in Ruhe nachdenken konnte. Noch lieber wäre er davongerannt und hätte sich irgendwo versteckt.
Als er dann sprach, erkannte er seine eigene Stimme nicht mehr: „Vielen Dank, meine Herren. Ich muß mir etwas anderes überlegen. Ich verständige Sie dann wieder…“
Alle starrten ihn an. Wahrscheinlich dachten sie jetzt, daß er sich keinen Rat mehr wußte und sich vor der komplizierten Operation fürchtete. Sie versuchten, ihn aufzumuntern. Selbst Skempton machte einen Vorschlag.
„… Wenn Ihr Hauptproblem ein sicheres Anästhetikum ist“, meinte der Oberst, „wäre es da nicht möglich, daß die pathologische Abteilung so etwas aus einem toten oder verletzten Wesen entwickelt? Ich denke an die Suchaktion, die Sie vorher vorgeschlagen haben. Ich glaube, jetzt wäre der Zeitpunkt da, sie anzuordnen. Soll ich…?“
„Nein!“
Jetzt verstanden sie ihn überhaupt nicht mehr. Besonders O’Mara schien an Conway zu zweifeln. So erklärte er schnell: „Ich vergaß, Ihnen zu sagen, daß Summerfield mich noch einmal angerufen hat. Er sagt, seine Untersuchungen hätten jetzt ergeben, daß das Wrack nicht die weniger beschädigte Hälfte des ursprünglichen Schiffes ist, sondern die Hälfte, die bei dem Unfall hauptsächlich in Mitleidenschaft gezogen wurde. Die andere Hälfte, sagt er, habe sich wahrscheinlich noch in so gutem Zustand befunden, daß sie unter eigener Kraft nach Hause fliegen konnte. Unter diesen Umständen wäre die Suche natürlich sinnlos.“
Conway hoffte verzweifelt, daß Skempton sich damit zufriedengeben würde. Summerfield hatte sich zwar noch einmal gemeldet, aber keineswegs eine so eindeutige Aussage gemacht, wie Conway sie wiedergegeben hatte. Aber der Gedanke, daß eine Suchpatrouille des Monitor-Korps jetzt begann, den Raum abzusuchen, trieb Conway den Schweiß aus den Poren. Seit ein paar Minuten ahnte er nämlich etwas…
Aber der Oberst nickte nur und ließ das Thema fallen.
Conway wußte, daß er zu seinen Kollegen — die teilweise einen höheren Rang hatten als er — äußerst unhöflich war. Wahrscheinlich würde O’Mara ihm später auch deswegen Vorhaltungen machen, aber im Augenblick war ihm das völlig gleichgültig. Als sie schließlich gegangen waren, wies er Kursedd an, sich jede halbe Stunde vom Zustand des Patienten zu überzeugen und ihn, Conway, zu verständigen, falls sich irgend etwas änderte. Dann eilte er in seine Kabine.