Das Wesen in dem Tank war unbeschreiblich, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil es offenbar versucht hatte, gleichzeitig verschiedene Dinge zu werden, als die Auflösung begonnen hatte. Da gab es Gliedmaßen, die teils tentakelartig, teils mit Gelenken versehen waren, und die lederartige, runzelige Haut zeigte Stellen mit Schuppen und Dornen. Das Ganze war eine schlaffe, zerflossene Masse, wie ein Wachsmodell, das man zu lange in der Wärme gelassen hat. Feuchtigkeit quoll aus dem Körper des Patienten und tropfte auf den Boden des Tanks, wo sechs Zoll tief Wasser stand.
Conway schluckte. Dann meinte er: „Wenn man die Anpassungsfähigkeit dieser Spezies bedenkt und ihre Unempfindlichkeit gegenüber physischen Verletzungen, so möchte ich sagen, daß der augenblickliche Zustand des Wesens sehr wohl rein psychologische Gründe haben könnte.“
Mannon, der Arzt, der einmal Conways Vorgesetzter gewesen war, starrte ihn aus großen Augen an und sagte dann mit beißender Ironie:
„Psychologische Gründe, was? Erstaunlich! Was könnte denn sonst ein Wesen, das gegenüber physischen Verletzungen und Bakterieninfektionen immun ist, überhaupt in einen solchen Zustand versetzen, wenn nicht ein Schaden in seinem Denkapparat? Aber vielleicht wollen Sie das näher erläutern?“
Conway spürte, wie seine Ohren sich in Abwehr röteten. Er schwieg.
Mannon knurrte und fuhr dann fort: „Diese Flüssigkeit, in die es sich auflöst, und die wie Wasser aussieht, ist auch genau das, nämlich Wasser. Wasser und ein paar harmlose Organismen, die darin gelöst sind. Wir haben jede uns bekannte Methode physischer oder psychologischer Behandlung versucht, aber ohne Ergebnis. Im Augenblick hat jemand den Vorschlag gemacht, daß wir den Patienten tiefkühlen, um den Schmelzprozeß aufzuhalten und um Zeit zu gewinnen, uns etwas anderes einfallen zu lassen. Der Vorschlag ist abgelehnt worden, weil das den Patienten töten könnte.“
Die Unterhaltung wurde beendet, und Conway eilte in die Säuglingsstation zurück. Die ganze Umgebung wimmelte von grünuniformierten Monitoren, aber bis jetzt hatte man den Flüchtling noch nicht entdeckt. Conway beorderte eine DBGD-Schwester in einem Taucheranzug in die AUGL-Station, wo eine Geburt unmittelbar bevorstand, und begab sich selbst mit Prilicla in die Methanabteilung.
Sie waren dort hauptsächlich mit Routinearbeit beschäftigt, und so bedrängte Conway Prilicla mit pausenlosen Fragen über den emotionellen Zustand des alten SRTT, den sie gerade verlassen hatten. Aber der GNLO war nicht sehr mitteilsam. Er erklärte lediglich, er hätte einen Drang zur Auflösung bemerkt, den er Conway nicht besser beschreiben konnte, weil es in seinem ganzen Erinnerungsvermögen keine Bezugsmöglichkeiten auf ein solches Empfinden gab.
Als sie die Station wieder verließen, stellten sie fest, daß Colinson nicht müßig gewesen war. Aus dem Wandinterkom waren knatternde Störgeräusche zu hören, aus denen man undeutliche Laute einer fremden Sprache vernehmen konnte.
Der Lärm setzte plötzlich aus, und eine Stimme rief in Englisch: „Dr. Conway, bitte ans Interkom!“ Dann ging das Geheul wieder weiter. Conway eilte an den nächsten Apparat.
„Hier ist Murchison in der AUGL-Schleuse, Doktor“, sagte eine besorgte Frauenstimme. „Jemand — ich meine etwas — ist gerade an mir vorbei in die Hauptstation gegangen. Ich dachte zuerst, Sie wären das, aber dann öffnete es die Innenschleuse, ohne einen Anzug anzulegen, und da wußte ich, daß es der SRTT sein mußte.“ Sie zögerte und fügte dann hinzu: „Beim Zustand der Patienten wollte ich erst Sie fragen, ehe ich Alarm gebe, aber ich…“
„Nein, das war ganz richtig, Schwester“, sagte Conway schnell. „Wir kommen gleich.“
Als sie fünf Minuten später bei der Schleuse eintrafen, hielt die Schwester einen Anzug für Conway bereit, der dem ihren aufs Haar glich — mit dem einen Unterschied, dachte Conway, daß er den seinen nicht so gut ausfüllte, wie sie das vermochte. Aber selbst Murchisons Formen konnten ihn nicht von dem Ding ablenken, das hinter der Luke schwebte.
Es war Conway sehr ähnlich. Die Haarfarbe stimmte und auch die Gesichtsfarbe, und es trug einen weißen Arztmantel. Aber die Gesichtszüge stimmten in ihren Proportionen nicht und verliefen auf eine Art und Weise ineinander, daß einem übel werden konnte.
Und wieder veränderte es sich. Langsam wuchsen die Arme und Beine zusammen, und lange schmale Protuberanzen bildeten sich, die nur der Anfang von Finnen sein konnten. Der SRTT paßte sich dem Wasser an.
„Hinein!“ sagte Conway drängend. „Wir müssen es hinaustreiben, ehe es…“
Aber Prilicla machte keine Anstalten.
„Ich habe eine Änderung in seinen emotionellen Ausstrahlungen festgestellt“, sagte der GNLO plötzlich. „Ich spüre immer noch Verwirrung und Hunger…“
„Hunger…!“ Murchison war erst jetzt klar geworden, in welcher Gefahr sich ihre Patienten befanden.
„… Aber da ist noch etwas“, fuhr Prilicla fort, ohne auf die Unterbrechung zu achten. „Ich kann es nur als ein Gefühl des Wohlgefallens beschreiben, verbunden mit diesem gleichen Drang zur Auflösung, die ich kurz zuvor bei dem Alten entdeckte. Aber ich verstehe nicht…“
Conway hatte im Augenblick nur Sinn für seine drei Patienten und die Gefahr, die der SRTT für sie darzustellen begann. So meinte er ungeduldig: „Wahrscheinlich kommt dieses Wohlbehagen davon, daß es ihm im Wasser gefällt…“
Plötzlich hielt er inne, und seine Gedanken drohten sich zu überschlagen. Sie kamen viel zu schnell, um sie in Worte zu fassen, ja, sie in eine logische Reihe zu bringen. Es war ein Durcheinander von Tatsachen, Vermutungen und Wissen, die sein Bewußtsein erfüllten und plötzlich eine Ordnung erfahren, klar wurden und… da wußte er es.
Wenn sich ein intelligentes, reifes und geistig komplexes Wesen einer schmerzlichen und unangenehmen Situation gegenübersieht, für die es keine Lösung hat, ist das Ergebnis meist ein Rückzug aus der Realität. Zuerst der Versuch, in die Tage der von Sorgen unbelasteten Kindheit zurückzukehren und dann schließlich der Rückzug in den Mutterleib und jenen reglosen, geistlosen Zustand, den man Katatonie nennt. Aber für einen reifen SRTT war dieser fötale Zustand der Katatonie nicht leicht zu erreichen, denn sein Fortpflanzungssystem war derart, daß es sich dann als Teil des reifen, erwachsenen Körpers seines Elternteiles fand und gezwungen war, an den Entscheidungen teilzunehmen, die dieser Elternteil treffen mußte. Schließlich war ja der Körper eines SRTT, und zwar jede einzelne Zelle davon, auch Teil seines Bewußtseins, und bei Lebewesen, von denen jede einzelne Zelle austauschbar war, war eine Trennung unmöglich. Wie sollte man ein Glas Wasser trennen, ohne einen Teil davon in ein anderes Gefäß zu gießen?
Der Intellekt des SRTT in seinem krankhaften Zustand würde immer weiter in die Vergangenheit zurückgetrieben werden, nur um festzustellen, daß seine Mühe, in einen nicht existenten Mutterleib zurückzukehren, zu endlosen Veränderungen und Anpassungen führte. Immer weiter würde er zurückgehen — weit, weit in die Vergangenheit — bis er schließlich jenen geistlosen Zustand erreichte, der ihm sicher schien, und bis sein Geist, der untrennbar mit dem Körper verbunden war, zu dem warmen Wasser wurde, in dem einzelliges Leben schwärmte, und aus dem er sich ursprünglich entwickelt hatte.
Jetzt wußte Conway den Grund für die langsame, schmelzende Auflösung des alten SRTT. Und noch mehr. Er kannte jetzt einen Weg, der zu einer Lösung führte. Wenn er sich nur auf die Tatsache verlassen konnte, daß, wie bei den meisten anderen Spezies, ein komplizierter, reifer Geist schneller wahnsinnig wurde als ein unentwickelter junger…
Wie durch einen Nebel hörte er sich am Interkom O’Mara anrufen. Murchison und Prilicla drängten sich näher heran. Dann wartete Conway eine Zeit, die ihm wie eine Ewigkeit vorkam, bis der Chefpsychologe auf seine Worte reagierte.
„Eine geniale Theorie, Doktor“, sagte O’Mara schließlich mit ungewohnter Freundlichkeit. „Noch mehr als das — ich glaube, Sie haben genau erfaßt, was hier geschehen ist, nicht nur in der Theorie. Es ist nur schade, daß dieses Wissen dem Patienten nicht hilft…“
„Darüber habe ich auch nachgedacht“, unterbrach ihn Conway eifrig, „und ich glaube, der Ausreißer ist im Moment das dringendere Problem — wenn wir ihn nicht bald einfangen und beruhigen, gibt es Verletzte — zumindest in meiner Abteilung. Unglücklicherweise ist Ihre Idee, es mit Hilfe einer Tonbandaufzeichnung seiner eigenen Sprache zu beruhigen, nicht gerade sehr erfolgreich, um es gelinde auszudrücken…“
„Da haben Sie allerdings recht“, sagte O’Mara trocken.
„… Aber“, fuhr Conway fort, „wenn wir diese Idee dahingehend abwandelten, daß der Alte oben zu dem Ausreißer spricht, wie wäre das? Wenn wir zuerst den alten SRTT kurierten…“
„Den Alten kurierten! Was, zum Teufel, glauben Sie eigentlich, haben wir die letzten drei Wochen wohl getan?“ brauste O’Mara auf. Aber er fing sich sofort wieder und erkannte, daß Conway im Augenblick alles andere im Kopf hatte, nur nicht dumme Witze.
„Entschuldigen Sie, Doktor, reden Sie weiter.“
Conway gehorchte. Als er geendet hatte, war am Interkom ein lautes Aufseufzen zu hören, und dann: „Ich glaube, Sie haben die Lösung. Wir müssen es versuchen und werden es auch tun, trotz des Risikos, das Sie erwähnten“, sagte O’Mara erregt. Und jetzt klang seine Stimme plötzlich wieder abgehackt und befehlsgewohnt. „Sie übernehmen die Leitung dort unten, Doktor. Sie wissen besser, was Sie wollen, als sonst jemand. Und nehmen Sie sich den DBLF-Ruhesaal im 59. Stockwerk — der ist nahe bei Ihrer Abteilung und kann schnell evakuiert werden. Die Geräte, die Sie brauchen, sind in fünfzehn Minuten dort. Sie können sofort anfangen, Conway…“
Ehe sein Gerät abgeschaltet wurde, hörte er O’Mara Anweisungen an das Monitor-Korps geben. Sämtliches Personal der Säuglingsstation stehe ab sofort unter Conways und Priliclas Kommando — und als Conway sich umdrehte, drängten sich schon die ersten grünuniformierten Monitore in die Schleuse.