Elf

»Klebeband?« Desjani starrte Gioninni an.

»Klebeband«, wiederholte der.

»Klebeband«, sagte sie zu Geary.

»Das habe ich bereits gehört.« Geary dachte über diese völlig abstruse Idee nach. Warum sollte eine Rasse, die über geniale Ingenieure verfügte, sich von etwas so simplem und altem wie Klebeband beeindrucken lassen. »Was meinen die anderen Chiefs?«

»Die sind der gleichen Meinung«, sagte Gioninni.

Geary rief Captain Smythe, der etwas genervt schien, da er zum dritten Mal innerhalb kürzester Zeit antworten musste. »Ja, Admiral? Ich bedauere, aber ich habe von meinen Leuten noch keine Antwort bekommen.«

»Dafür kann ich Ihnen eine liefern, Captain Smythe. Könnte es sein, dass sie an Klebeband interessiert sind?«

Einen Moment lang bekam Smythe den Mund nicht mehr zu, gleichzeitig wurden seine Augen größer und größer. »Oh verdammt. Wie… Ein Chief ist dahintergekommen, richtig?«

»Richtig. Wie können die Aliens so von Klebeband beeindruckt sein? Wann sollen sie gesehen haben, wie wir es benutzen?«

»Haben Ihre Gesandten mit ihnen… nein, warten Sie. Waren die auf irgendeinem unserer Schiffe?«

»Nein«, sagte Geary.

»Aber sie waren in dieser Rettungskapsel«, warf Gioninni ein.

»Rettungskapsel?« Einen Augenblick später konnte er sich erinnern. »Die beschädigte Rettungskapsel von der Balestra. Zwei von ihnen waren an Bord der Kapsel gekommen.«

»Tatsächlich?«, hakte Smythe nach. »Gibt es davon eine Aufzeichnung? Die Systeme dieser Kapsel waren ziemlich in Mitleidenschaft gezogen, wenn ich mich nicht irre.«

»Es gibt eine Aufzeichnung meiner Komm-Verbindung zur Kapsel«, erklärte Geary, der Desjani ein Zeichen gab, die wiederum dem Komm-Wachhabenden signalisierte, was den zu einer hektischen Suche veranlasste.

»Hab’s gefunden«, meldete der Wachhabende nur Momente später. »Es kommt sofort.«

Zwischen Gioninni und Smythe öffnete sich ein weiteres Fenster, und Geary konnte wieder das Innere der beschädigten Rettungskapsel sehen. Chief Madigan hielt sich an der Komm-Station auf, die beiden Spinnenwölfe standen an der Luftschleuse, sie trugen Schutzanzüge. »Wir haben keine Ahnung, was sie sich ansehen«, stellte Geary fest.

»Stimmt«, pflichtete Smythe ihm bei. »Aber wir und die Spinnenwölfe können sehen, dass die Matrosen mit Klebeband arbeiten. Sie kleben damit Risse in der Hülle zu, sie reparieren Konsolen, sie legen diesem verwundeten Matrosen einen Verband an. Hilft das wirklich bei solchen Verletzungen?«

»Ja, Sir«, versicherte ihm Master Chief Gioninni.

Desjani nickte verstehend. »Reparatur der Elektronik, der Schiffshülle, dazu Behandlung von Verwundeten. Ja, ich würde sagen, das klingt nach einer Universalreparatursubstanz.«

»Darum wird ja auch jede Rettungskapsel mit mehreren Rollen Klebeband ausgestattet«, machte Master Chief Gioninni deutlich. »Wir müssen einmal im Monat eine Bestandsüberprüfung vornehmen, weil sich immer wieder Leute in die Rettungskapseln schleichen und die Rollen mitnehmen, um sie zu verkaufen oder um sie auf ihren Schiffen zu verwenden.«

»Verkaufen?«, fragte Desjani, deren Gesichtsausdruck einen bedrohlichen Zug annahm, als sie wieder Gioninni ansah.

»Nicht auf diesem Schiff, Captain«, beteuerte der Master Chief. »Ein paar Leute kommen hin und wieder auf eine solche Idee, aber ältere und klügere Besatzungsmitglieder machen jedem von ihnen klar, wie verkehrt ein solches Verhalten ist. Das Klebeband aus einer Rettungskapsel zu stehlen und dann zu verkaufen, das wäre so, als würde man… ja, als würde man die Fallschirme verkaufen, die sich an Bord eines Flugzeugs befinden. Wenn man das Band braucht, dann hat man es wirklich dringend nötig, und deshalb achten wir darauf, dass niemand damit Unfug treibt.«

»Gehört Klebeband nicht zu unserer Standardausrüstung?«, wollte Desjani wissen, die zwar schon ein wenig besänftigt war, aber immer noch Argwohn erkennen ließ.

»Klar, Captain, aber man kann nie zu viel Klebeband haben.«

Geary hörte jemanden lachen, dann erst wurde ihm bewusst, dass er selbst gelacht hatte. »Das Geschenk der Menschheit an das Universum: Klebeband.«

»Ohne Klebeband hätten wir es nie bis zu den Sternen geschafft, Admiral«, sagte Gioninni.

»Ohne Chiefs aber auch nicht.«

Gioninni grinste als Reaktion darauf. »Ja, Sir. Ähm… wenn ich das fragen darf, Admiral… Warum ist es so interessant, wie die Aliens unser Klebeband bezeichnen?«

»Sie wollen es haben«, antwortete Desjani.

Der Master Chief hielt einen Moment lang inne, dann nickte er. »Wie versessen sind sie denn auf das Klebeband, Captain? Wir könnten hier vielleicht einen richtig guten Deal aushandeln.«

Geary versuchte, sich ein Grinsen zu verkneifen. »Kennen Sie zufällig jemanden, der gut darin ist, Deals auszuhandeln, Master Chief Gioninni?«

»Ich glaube, ich besitze ein wenig Erfahrung auf diesem speziellen Gebiet, Admiral«, erklärte Gioninni mit äußerst überzeugender Bescheidenheit. »Nicht dass ich selbst viele Deals aushandeln würde, müssen Sie wissen. Aber manchmal gibt es was zu tauschen, und wenn die andere Seite eine Sache unbedingt haben will, dann kann man daraus ansehnliche Vorteile herausholen.«

»Da haben Sie wohl recht, Master Chief«, stimmte Desjani ihm zu. »Aber dieser Deal ist bereits ausgehandelt. Wir geben ihnen das Klebeband, und sie lassen uns für den Heimflug das Hypernet benutzen. Ich glaube, keiner von uns möchte, dass sie dieses Angebot zurückziehen, nur weil wir nachverhandeln wollen. Außerdem können wir es uns nicht leisten, die einzigen Aliens zu täuschen oder zu betrügen, deren wichtigstes Anliegen zur Abwechslung einmal nicht darin besteht, uns auslöschen zu wollen.«

»Ich würde niemals jemanden täuschen oder betrügen, Captain!«, erklärte Gioninni todernst und schaffte es dabei auch noch irgendwie, mit einer schockierten Miene auf diese mutmaßliche Unterstellung zu reagieren. »Ich bin die Fairness und Ehrlichkeit in Person.«

»Ist mir auch zu Ohren gekommen. Von Ihnen persönlich. Danke, Master Chief. Wir lassen die Gesandten wissen, dass Sie zur Verfügung stehen, wenn sie wieder einen Deal aushandeln müssen.« Nachdem Gioninnis Bild verschwunden war, wandte sich Desjani an Geary. »Was glauben Sie, wo in ihrem Muster die Spinnenwölfe wohl Master Chief Gioninni platzieren würden?«

»Das sollten wir lieber nicht herausfinden. General Charban? Gesandte Rione? Wir konnten die mysteriöse Substanz identifizieren. Captain Smythe, sorgen Sie dafür, dass die vier Schlachtschiffe an das Superschlachtschiff angekoppelt werden. Wie lange wird das dauern?«

Smythe kratzte sich nachdenklich an der Wange. »Zwei Tage, Admiral.«

»Sie haben einen Tag Zeit.«

»Die unmöglichen Dinge brauchen immer etwas länger, Admiral. Ich kann versuchen, in eineinhalb Tagen fertig zu sein, aber für alles darunter kann ich nichts versprechen.«

»Okay.« Geary hatte nie die Klage vergessen, die er von dem ersten Matrosen unter seinem Kommando zu hören bekommen hatte. Warum reicht die Zeit nie, um etwas ordentlich zu machen, aber warum ist immer genug Zeit, es noch einmal zu versuchen? Die simple Logik hinter diesen Worten hatte sich ihm eingegraben, vor allem, seit entsprechende Erfahrungen sie bestätigt hatten.

Nach der Unterhaltung saß Geary da und betrachtete einen Moment lang sein Display. »An alle Einheiten: Stellen Sie sich darauf ein, dass wir in eineinhalb Tagen zum nächsten Sprungpunkt aufbrechen. Sorgen Sie dafür, dass Sie bis dahin zur Abreise bereit sind.«

Smythe musste sich sofort an die Arbeit gemacht haben, das Schiff der Aliens an die Schlachtschiffe anzukoppeln, denn nur ein paar Minuten später meldete sich der befehlshabende Offizier der Reprisal. »Bei allem Respekt, Admiral, aber ich muss auf das Schärfste protestieren, dass mein Schiff als Schlepper benutzt wird!«

»Ich kann Ihre Bedenken verstehen, Captain«, sagte Geary und brachte alle Diplomatie ins Spiel, die er besaß. Laut Rione war das nicht gerade viel, weshalb er nur hoffen konnte, dass es genügen würde. »Ich habe diese Entscheidung auf Grundlage des Auftretens der Reprisal während des jüngsten Gefechts getroffen. Es ist von äußerster Wichtigkeit, dass wir das Schiff der Aliens unversehrt nach Hause schaffen, und ich weiß, der Reprisal kann ich vertrauen, dass uns das auch gelingt, ganz gleich, welchen Bedrohungen wir auch begegnen mögen. Sie werden die letzte und stärkste Verteidigungslinie für das Superschlachtschiff sein.«

Der Offizier zögerte. »Dann ist das eine… eine ehrbare Position?«

»Auf jeden Fall.« Und das war nicht mal gelogen, denn wenn es hart auf hart kommen sollte, war es gut zu wissen, dass so standfeste Schiffe wie diese vier Schlachtschiffe die letzte Bastion rings um das Schiff der Bärkühe bildeten.

Innerhalb der nächsten Minuten gingen fast wortgleiche Beteuerungen an die Befehlshaber der Relentless, Superb und Splendid. Dann wandte er sich an die Dreadnaught, die Orion, die Dependable und die Conqueror, um sie wissen zu lassen, dass ihnen die Ehre zuteil wurde, als Eskorten für ihre Schwesterschiffe und das erbeutete Kriegsschiff zu operieren.

»Jane«, sagte er zu seiner Großnichte. »Sie haben das Kommando über diese Eskorte. Ihre Aufgabe ist es, das erbeutete Kriegsschiff zu beschützen.«

Captain Jane Geary nickte bestätigend. »Ich habe verstanden, Admiral.«

»Sie haben hier gute Arbeit geleistet. Niemand wird je wieder Ihre Tapferkeit, Ihren Kampfgeist oder Ihr Können infrage stellen.«

»Vielen Dank, Admiral.«

Und einmal mehr versteckte sich Jane Geary hinter dienstlicher Höflichkeit, um zu verhindern, dass das Gespräch in irgendeiner Weise persönlicher werden konnte.

Es dauerte fast einen halben Tag, ehe es eine Rückmeldung von den Gesandten gab. »Wir haben eine Abmachung«, sagte Rione. »Allerdings werde ich mich noch einmal gegen Ihre Entscheidung aussprechen, dass wir uns auf dem Rückflug von Schiffen der Spinnenwölfe begleiten lassen.«

»Schiffen? Ich dachte, es geht um ein Schiff.«

»Das liegt an einer Fehlinterpretation durch General Charban und mich«, erklärte Rione. Es schien ihr nicht allzu viel auszumachen, sich einen Fehler erlaubt zu haben, aber vielleicht hatten die Verhandlungen sie auch in einem Maß ihrer Kräfte beraubt, dass es ihr im Moment einfach völlig egal war. »Sie wollen sechs Schiffe mitschicken.«

»Sechs Schiffe.« Geary rieb sich nachdenklich das Kinn. Sechs Alien-Schiffe, die ins von Menschen kontrollierte Gebiet gebracht wurden? Andererseits konnte er nichts dazu sagen, welche Gefahren unterwegs noch auf sie lauerten. Wenn sie von einem einzelnen ihrer Schiffe begleitet wurden, und diesem Schiff stieß etwas zu, wie sollten sie das dann den Spinnenwölfen erklären?

»Diese sechs Schiffe werden uns durch das Gebiet der Spinnenwölfe sowie durch ihr Hypernet begleiten«, ergänzte Charban. »Danach werden sie bei uns bleiben, während wir auf Heimatkurs gehen.«

»Wissen die bereits, wohin wir wollen?«

»Sie wissen, wir wollen nach Midway, Admiral. Das mussten wir ihnen sagen, um ihre Durchflugerlaubnis zu erhalten.«

Konnte er jetzt noch einen Rückzieher machen? Nein, auf keinen Fall. Und je länger er darüber nachdachte, umso besser gefiel ihm die Vorstellung, im Falle eines Falles von sechs Schiffen der Spinnenwölfe unterstützt zu werden. »Gut, ich bin einverstanden. Haben sie ihr Klebeband bereits erhalten?«

»Nein«, antwortete Rione. »Das werden wir persönlich überreichen.« Sie musste Gearys Reaktion darauf bemerkt haben. »Die Spinnenwölfe bestehen darauf, dass wir uns mit ihnen treffen, um ihnen unser ›Geschenk‹ als Gegenleistung für ihre Versprechen zu überreichen. Dazu gehört auch so etwas wie eine… eine Umarmung, wenn ich das richtig verstanden habe.«

»Eine Umarmung? Bei den Vorfahren, Victoria, Sie können…«

»Ich behaupte ja nicht, dass ich mich darauf freue, aber jede Frau hat schon einmal unangenehme Erfahrungen gemacht, wenn sie mit einem Mann ausgegangen ist«, sagte sie. »Ich tue einfach so, als wäre ich noch Single und eine gute Freundin hätte versucht, mich mit irgendeinem schrecklichen Mann zu verkuppeln. Eine schlaffe Umarmung, vielleicht noch ein Hauch von einem Wangenkuss, eine vage Zusicherung, sich demnächst mal zu melden — und dann kann ich schon wieder heimkehren.«

»Wir werden beide zugegen sein«, sagte General Charban. »Wir benötigen ein Shuttle, damit wir uns mit einem ihrer Shuttles treffen können. Wir beide als die Passagiere auf dieser, zwei von ihnen auf der anderen Seite. Wir treffen uns in der Luftschleuse.«

»Kann deren Luftschleuse mit unserer verbunden werden?«, wollte Geary wissen.

»Sie scheinen das nicht für ein Problem zu halten, Admiral.«

»Und wie viel Klebeband benötigen Sie?«

»Gesandte Rione meint, wir sollten ihnen eine Kiste voll anbieten.«

Eine ganze Kiste Klebeband, einer Flotte weggenommen, die schon viel zu lange von zu Hause weg war und die in letzter Zeit kaum etwas anderes machte, als Schäden an den Schiffen zu flicken. Geary drehte sich zu Desjani um, die allem Anschein nach Mühe hatte, ein Kichern zu unterdrücken. »Habe ich was Witziges versäumt, Captain?«, fragte er.

»Nein, Admiral.« Doch bevor sie ihn ansah, zuckte ihr Blick einmal kurz zu Rione.

In diesem Moment wurde ihm alles klar. Ihre alte Rivalin Rione würde sich von einem Spinnenwolf umarmen lassen müssen.

»Manchmal können Sie richtig gehässig sein«, flüsterte er ihr zu. »Können Sie eine Kiste Klebeband erübrigen?«, fragte er dann in normaler Lautstärke.

»Eine ganze Kiste? Eine volle Kiste? Wohl eher nicht«, gab sie zurück, als würde es sie kaum interessieren. »Wann benötigen Sie die?«

»Jetzt sofort.«

»Alles klar.« Desjani drehte sich zu ihrem Komm-Wachhabenden um. »Master Chief Gioninni soll sich umgehend melden. Die Allianz-Flotte benötigt wieder mal seine besonderen Talente.«

Eine halbe Stunde später verließ ein Shuttle die Dauntless, an Bord die Pilotin und ein Marine-Wachmann auf dem Flugdeck, während sich Rione und Charban im Passagierbereich aufhielten. Charban hielt in seinen Händen eine volle, ungeöffnete Kiste mit zwanzig Rollen Klebeband. Der Versorgungsoffizier der Dauntless hatte Captain Desjani wissen lassen, dass im Verlauf einer langen und gründlichen Suche keine ungeöffnete Kiste Klebeband aufgetaucht war. Im Gegenzug hatte Desjani jedoch kein Wort darüber verlauten lassen, dass Master Chief Gioninni fünfzehn Minuten zuvor mit einer solchen Kiste unter dem Arm im Shuttlehangar eingetroffen war, wo General Charban ihn bereits erwartet hatte.

Als das Shuttle den Hangar der Dauntless verließ und Kurs auf die Formation der Spinnenwölfe nahm, löste sich dort ein Schemen von der Spinnenwolf-Flotte und kam auf den Treffpunkt zugeschossen. »Sogar ihre Shuttles sind richtige Rennmaschinen«, stellte Desjani fest.

»Sie sind auffallend guter Laune«, gab Geary zurück.

»Es ist ja auch ein schöner Tag, Admiral.«

»Sie meinen, weil das der Tag ist, an dem Victoria Rione einen Spinnenwolf umarmen muss?«

»Ach, ist das für heute vorgesehen?«, fragte sie in einem überraschten Tonfall, der nicht mal im Ansatz überzeugend wirkte. »Ist es nicht gut zu wissen, wenn das Muster des Universums das nächste Mal ein bisschen ausfranst, dass die Spinnenwölfe dann in der Lage sein werden, es mit unserem Klebeband wieder zu richten?«

»Ihnen ist doch klar«, überging Geary ihre letzte Bemerkung, »dass Victoria Rione in die Geschichte eingehen wird, weil sie als erster Mensch körperlichen Kontakt mit einer freundlich gesinnten fremden Spezies haben wird, oder?«

Desjani zuckte mit den Schultern. »Die Marines hatten körperlichen Kontakt mit Heerscharen von Bärkühen.«

»Aber die waren nicht freundlich gesinnt. Und ich glaube, niemand wird noch feststellen können, wer bei diesem Gemetzel als Erster in Kontakt mit ihnen gekommen ist.«

»Und die Enigmas…«

»Angesichts der Geheimnisse, mit denen sie sich umgaben, als sie das erste Mal auf Menschen trafen, wird die Identität des Menschen, der ihnen als Erster begegnet ist, wohl für immer ein Rätsel bleiben. Außer vielleicht für die Enigmas selbst. Abgesehen davon fallen sie auch nicht in die Kategorie freundlich.«

Das Shuttle der Allianz-Flotte und das der Spinnenwölfe trafen zusammen, die Pilotin gab sich alle Mühe, ihr Raumfahrzeug genauso elegant und selbstbewusst zu fliegen, wie es ihr Pendant im anderen Shuttle machte. Geary konnte auf der Videoleitung den Passagierbereich so gut überblicken, dass er Charban und Rione mustern konnte, ob einer von beiden nervös wirkte. Zu seinem Erstaunen waren sie zumindest äußerlich völlig ruhig.

Die beiden Shuttles kamen Seite an Seite zum Stillstand, und die Pilotin meldete sich über die Videoleitung: »Befinde mich jetzt neben dem Shuttle der Aliens. Erwarte weitere Anweisungen.«

»Hier spricht Admiral Geary. Warten Sie ab, was sie als Nächstes tun.«

»Jawohl, Sir.«

Er konnte auch mitverfolgen, was sich rings um das Shuttle abspielte. Die Kamera, die auf das eiförmige Shuttle der Spinnenwölfe gerichtet war, zeigte, wie sich ein ovaler Schlauch in Richtung des Allianz-Shuttles bewegte.

»Das sieht gut aus«, merkte Desjani an. »Diese ovale Form, die Proportionen. Man könnte meinen, die Spinnenwölfe haben die gleiche Vorliebe wie wir für den Goldenen Schnitt.«

Der Schlauch berührte die Seite des Allianz-Shuttles, vor dem Platz der Pilotin leuchteten Warnlampen auf. »Wir haben Hüllenkontakt. Ich weiß nicht, was da los ist.« Ihre Stimme klang fest und ruhig.

»Haben die alle Beruhigungsmittel geschluckt?«, wunderte sich Geary. »Warum ist da kein Mensch auch nur ein bisschen nervös?«

»Ich habe die Pilotin ausgesucht, Admiral«, antwortete Desjani. »Sie hat definitiv nichts geschluckt. Ob das bei den Gesandten auch der Fall ist, müssen Sie sie schon selbst fragen.«

»Luftdruck außerhalb der Schleuse«, meldete die Pilotin. »Ungefähr 0,95 Standard. Zusammensetzung der Gase liegt im akzeptablen Bereich, um von Menschen geatmet zu werden.«

Wie hatte der Schlauch eine luftdichte Versiegelung an der Hülle des Shuttles erzeugen können? Und wie war aus ihm auf einmal ein starres Objekt geworden, wenn er eben noch flexibel gewesen war?

Rione und Charban hatten beide die Meldung der Pilotin gehört, Charban ging zur Schleuse, drehte sich um und salutierte in Richtung der Kamera. »Es geht los«, meinte er und grinste schief.

Rione stellte sich zu ihm, während sich erst die innere Schleusentür und dann die äußere Luke öffnete. Geary sah, wie sie tief einatmete, als die Luft aus dem fremden Shuttle sich mit der in der Passagierkabine vermischte. »Würzig«, sagte sie. »Nicht zu scharf, auch nicht stechend. Fast schon angenehm.«

»Vielleicht riechen sie ja gut«, überlegte Geary.

»So wie sich das anhört, riechen sie nicht nur gut, sondern besser als wir«, meinte Desjani. »Anwesende natürlich ausgenommen.«

Er fragte sich, was er empfinden sollte, während sie darauf warteten, dass die Spinnenwölfe zum Vorschein kamen. Endlich nahm die Menschheit mit einer fremden Intelligenz Kontakt auf. Die Enigmas hatten sich einem Gespräch mit den Menschen verweigert und nur Drohungen und Forderungen ausgesprochen. Die Bärkühe waren zu keinerlei Kommunikation bereit gewesen. Aber die Spinnenwölfe waren intelligent und zugleich bereit, mit den Menschen zu reden. Zum ersten Mal würde die Menschheit erfahren, wie eine andere Intelligenz das Universum betrachtete, das sie sich teilten. Mit der Zeit würde die noch sehr grobschlächtige Verständigung zwischen ihnen besser werden, einer würde die Sprache des anderen erlernen und…

Trotzdem würde man sich an den Anblick der Spinnenwölfe erst noch gewöhnen müssen, wie Geary einsehen musste, als zwei von ihnen schließlich durch den ovalen Schlauch herüberkamen, der groß genug war, um sie Seite an Seite hindurchgehen zu lassen.

An Bord der Rettungskapsel der Balestra hatte er Spinnenwölfe in Rüstung gesehen, aber jede Art von Panzerung oder Schutzanzug vermittelte für gewöhnlich ein falsches Bild von den Maßen des Trägers. Als er sie jetzt zum ersten Mal in ihrer leuchtenden, seidenartigen Kleidung zu sehen bekam, konnte er sich endlich ein Bild davon machen, wie groß sie waren.

Sie bewegten sich irgendwo zwischen den kleinen Bärkühen und den deutlich größeren Menschen und waren vielleicht einen Meter fünfzig hoch. Durch die Art, wie ihre Arme nach außen ragten und wie sich der Bauchbereich zu beiden Seiten ausdehnte, waren sie zugleich deutlich breiter als ein Mensch.

Charban hielt ihnen den Karton Klebeband hin. »Für unsere Freunde«, sagte er. »Eine der größten Errungenschaften der Menschheit und zugleich eines ihrer am besten gehüteten Geheimnisse. Und dennoch teilen wir es aus freien Stücken mit Ihrer Spezies im Geist der Freundschaft und der Verständigung.«

Irgendwie wollte ein Karton Klebeband nicht so recht zu den geschwollenen Worten passen, mit denen Charban das Präsent den Spinnenwölfen überreichte. Einer der Aliens streckte vier Arme aus, die Klauen schlossen sich dabei ganz behutsam um die Kiste, um sie auf eine Weise festzuhalten, als sei der Inhalt von ungeheurem Wert.

Der andere Spinnenwolf wandte sich Rione zu, deren leichte Anspannung Geary sonderbar vertraut vorkam. Nicht bei ihr, sondern vielmehr bei sich selbst. Vielleicht lag es an Riones Bemerkung über das Verkuppeln, dass er sich an seine eigenen Verabredungen in seiner Jugend erinnert fühlte, vor allem an die missratenen, bei denen die jeweilige Freundin genauso dagestanden hatte. Es war nicht allzu viel Erfahrung notwendig, um zu begreifen, dass eine solche Körperhaltung ein sicherer Vorbote für einen flüchtigen Wangenkuss und eine genauso flüchtige Umarmung mit minimalem Körperkontakt gewesen war.

Empfand der Spinnenwolf das jetzt auch so? Er hob seine vier Klauenarme und legte sie so um Rione, dass er sie kaum berührte. Dann ließ er seinen abscheulichen Kopf ein Stück weit nach vorn sinken, um nur ganz leicht Riones Stirn zu berühren. Die ahmte die Geste nach, woraufhin der Spinnenwolf rasch die Arme sinken ließ. Geary konnte beobachten, wie sich Gesicht und Oberbauch plötzlich verfärbten — von einem Rosaton hin zu einem leichten Blau und schließlich einem Lila, das sich ausbreitete und dann verharrte.

Er und die anderen hatten gescherzt, dass die Spinnenwölfe die Menschen für genauso widerwärtig ansehen mochten wie umgekehrt. Wenn er die Reaktionen dieses Spinnenwolfs richtig deutete, hatten sie mit ihrer Überlegung gar nicht so verkehrt gelegen.

Desjani lachte kurz auf. »Sie hat Mut. Ich hasse diese Frau, aber sie hat Mut. Wie lange werden die beiden danach in Quarantäne bleiben müssen?«

»Das werden die Ärzte entscheiden, wenn sie sie untersucht haben.«

»Verdammt.« Desjanis Stimme klang mit einem Mal tiefer und eindringlicher. »Das berührt mich richtig. Auf diesen Moment hat die Menschheit seit Tausenden von Jahren gewartet. Sie hat davon geträumt und sich davor gefürchtet, und jetzt auf einmal ist es so weit. Und wir können dabei zusehen.«

»Schon großartig, nicht wahr?«, meinte Geary.

»Bin ich immer noch gehässig, wenn ich hoffe, dass ich miterleben kann, wie die Spinnenwölfe die Politiker im Großen Rat der Allianz umarmen?«

»Kein bisschen.« Er stellte sich vor, wie Senatorin Suva von einem Spinnenwolf umarmt wurde, und musste unwillkürlich grinsen. »Das würde ich mir auch ansehen wollen.«

Der erste Spinnenwolf sagte etwas in einer schrillen, schnellen Sprache, dabei beschrieb er mit den Armen sorgfältig verschiedene Gesten, ehe er sie vor seinem Körper verschränkte. Mit den Klauen machte er ein paar klickende Laute, dann verbeugte er sich vor Charban und Rione. Mit einem Arm wies er in Richtung eines der Sprungpunkte, mit allen vier Armen zeigte er schließlich auf die beiden Menschen.

Nach kurzem Zögern hob Charban behutsam den Arm zum Salut und machte dann ein paar Schritte nach hinten.

Rione breitete die Arme aus, lächelte und nickte den Spinnenwölfen zu, ehe sie Charban folgte.

Die Spinnenwölfe zogen sich durch den ovalen Schlauch zurück, bis sie aus Gearys Blickfeld verschwunden waren.

»Und jetzt?«, fragte Rione an Charban gerichtet.

»Ich würde sagen, wir schließen jetzt die Luke«, sagte er und machte sich daran, die äußere und die innere Luke zu verriegeln.

Die Pilotin hatte auf ihrem eigenen Schirm das Geschehen im Passagierabteil mitverfolgt, jetzt aber reagierte sie auf einen Alarm, der auf ihrem Pult angezeigt wurde. »Die Atmosphäre außerhalb der Luftschleuse löst sich rasch auf. Weiter, noch weiter… Jetzt ist sie nicht mehr feststellbar. Was immer den Kontakt zur Shuttlehülle hergestellt hat, ist jetzt ebenfalls nicht mehr dort.«

»Kommen Sie zurück«, befahl Geary. »Befolgen Sie die Quarantänevorschriften für sämtliches Personal und für das Shuttle.«

»Verstanden, Admiral. Ich kehre jetzt zur Dauntless zurück.«

Die kleinen Schiffe trennten sich, jedes machte sich auf den Weg zu seiner eigenen Flotte.

Der Augenblick des Kontakts war vorüber, doch als Geary die Anzeige des Shuttles über sein Display huschen sah, musste er daran denken, dass das von den Spinnenwölfen erwähnte Muster auf eine Weise verändert worden war, dass es nicht einmal mit allem Klebeband des ganzen Universums in ihren ursprünglichen Zustand zurückversetzt werden konnte.

Das Shuttle hatte soeben die Dauntless erreicht, als das Raumfahrzeug der Spinnenwölfe von einem größeren Raumschiff geschluckt wurde, das sofort kehrtmachte und Kurs auf einen anderen Sprungpunkt nahm als den, durch den die Allianz-Flotte das System verlassen sollte. Fast gleichzeitig lösten sich aus einem der geschwungenen Arme der Spinnenwolf-Formation sechs Schiffe und bewegten sich auf einen Punkt zu, der zwischen der Allianz-Flotte und dem vorgesehenen Sprungpunkt lag.

»Unsere Eskorte, würde ich sagen«, meinte Geary, als die sechs Schiffe abbremsten und zum Stillstand kamen. Er rief die zivilen Experten, von denen er wusste, dass sie alles mitangesehen hatten, und bekam das finster dreinblickende Gesicht von Dr. Shwartz zu sehen. »Stimmt etwas nicht?«

Die Expertin musste erst einmal tief durchatmen, ehe sie antwortete: »Es tut mir leid, wenn ich so unprofessionell bin, Admiral, aber haben Sie eine Vorstellung davon, wie schwierig es für mich gewesen ist, mir dieses Treffen anzusehen und nicht dabei anwesend sein zu können?«

»Das bedauere ich, Doctor, aber die Spinnenwölfe wollten nur zwei menschlichen Repräsentanten begegnen. Gesandte Rione und General Charban sind von der Allianz-Regierung ausdrücklich dazu bestimmt worden, als Erste mit einer fremden Spezies Kontakt aufzunehmen. Es gab keine Rechtfertigung, um Ihnen den Vortritt zu lassen.«

»Ja, ich weiß«, sagte Shwartz. »Deshalb habe ich ja auch eingeräumt, dass es unprofessionell von mir war. Trotzdem… ich habe mein Leben lang von diesem Augenblick geträumt, Admiral, und in diesen Träumen war ich diejenige, die die Aliens persönlich begrüßte.«

»Davon haben viele Leute geträumt, Doctor. Sie waren immerhin Augenzeuge dieses Moments.« Während Shwartz den Mund verzog, redete er weiter. »Unsere Gesandten werden vorläufig nicht zur Verfügung stehen, da sie erst mal von unseren Ärzten auf alles untersucht werden, was denen nur in den Sinn kommen kann. Unsere Begleiter sind bereits vor dem Sprungpunkt in Position gegangen, aber wir werden frühestens in zwölf Stunden aufbrechen können. Würden Sie und Dr. Setin den Spinnenwölfen Bescheid geben, dass sie so lange warten müssen?«

»Zwölf Stunden?«, wiederholte Dr. Shwartz. »Zwölf ist einfach. Stunden… na ja, das wird einiges an Arbeit bedeuten. Ich werde meine Kollegen damit beauftragen, allerdings muss ich Sie warnen, dass die noch verbissener schmollen als ich.«

»Viel Glück, Dr. Shwartz.«

Sie lächelte ihn wieder an. »Danke, Admiral.«

Er beendete die Verbindung, dann erst bemerkte er Desjanis finsteren Gesichtsausdruck. »Was ist los?«

»Wir haben ein Problem mit Commander Benan auf der Quarantänestation«, grummelte sie.

»Was für eine Art von Problem?«

»Er will seine Frau sehen, aber die Ärzte wollen ihn nicht lassen. Ich stehe kurz davor, seine Verhaftung anzuordnen.«

Geary spannte sich einen Moment lang an. »Er will sie sehen? Persönlich oder über eine Komm-Verbindung?«

»Das muss ich erst nachfragen«, sagte sie und blickte noch finsterer drein. »Aha, er sagt, er will ihr Bild sehen und mit ihr reden. Die Ärzte wollen aber in Ruhe arbeiten.«

»Lassen Sie Commander Benan mit seiner Frau reden!«

Diesmal reagierte Desjani fast erschrocken. »Entschuldigen Sie, Sir

»Was denn?«

»Sie haben das in Ihrem Befehlston gesagt, aber den müssen Sie bei mir nicht anwenden, und das wissen Sie auch.« Energisch tippte sie auf ihre Kontrollen. »Commander Benan ist autorisiert, mit seiner Frau Kontakt aufzunehmen. Video und Audio. Machen Sie es ihm möglich, mir ist egal, wie Sie es hinkriegen. Sagen Sie dem medizinischen Stab, der Admiral hat das angeordnet, und wenn es denen nicht gefällt, sollen sie das mit ihm persönlich ausdiskutieren.«

»Tut mir leid, Tanya«, sagte Geary. »Commander Benans Handeln und vor allem seine mangelnde Selbstbeherrschung sind die Folge von etwas, das ihm angetan wurde.«

»Ich weiß«, gab sie knapp zurück. »Die Syndiks…«

»Und auch die Allianz, das hatte ich Ihnen ja gesagt.«

»Schön, aber Sie haben mir nicht gesagt, was man ihm angetan hat.« Ihr Blick hatte etwas unübersehbar Herausforderndes an sich.

»Das ist streng geheim, Captain. Wenn ich es Ihnen sage, kann Sie das in Schwierigkeiten bringen.«

»Schwierigkeiten?«, wiederholte sie und begann zu lachen. »Oh, bei allen Vorfahren, bitte keine Schwierigkeiten. Was würde ich nur ohne meinen starken Beschützer tun, der alle Schwierigkeiten von mir abwendet?«

»Schon gut«, lenkte Geary ein. »Das klang wohl ein bisschen von oben herab…«

»Kann man wohl sagen.«

»…aber Sie haben schon genug Dinge, über die Sie sich den Kopf zerbrechen müssen.«

Desjani schnaubte verächtlich. »Wenn wir schon von solchen Dingen reden, über die ich mir den Kopf zerbrechen soll, dann sollten wir auch beide einräumen, dass Commander Benan ein wandelnder Unfall ist, der jeden Moment wieder zuschlagen kann. Er befindet sich auf meinem Schiff, und wenn er durchdreht, bringt er mein Schiff in Gefahr. Vielleicht wäre es sinnvoller, wenn Sie mir sagen würden, was genau hier auf meinem Schiff vor sich geht, damit ich etwas dazu beitragen kann, diese Situation unter Kontrolle zu bringen.«

»Sie haben natürlich recht, auch wenn Sie mir das ruhig etwas dezenter unter die Nase hätte reiben können. Sobald wir wieder im Sprungraum sind, werde ich es Ihnen sagen.«

»Was denn? Das können Sie mir nicht im Normalraum sagen?«

»Ich glaube, ich werde bis dahin zu beschäftigt sein. Einen Moment bitte…« Er stellte eine Verbindung zu Captain Smythe her.

»Uns bleiben nach wie vor zwölf Stunden«, machte Smythe ihm lautstark klar, bevor Geary sich äußern konnte. »Keine Minute weniger!«

»Unsere Eskorte wartet auf uns«, machte Geary ihm klar.

»Solange unsere Eskorte nicht vorhat, uns beim Abschleppen dieses Ungetüms zu helfen, schlage ich vor, dass sie warten, bis ich meine Arbeit ordentlich erledigt habe.«

»Deshalb habe ich mich eigentlich gar nicht bei Ihnen gemeldet. Ich höre, es gibt Neuigkeiten zur Orion?«

»Ach, das meinen Sie.« Captain Smythe nickte. »Sie hat zu viele und zu schwere Treffer abbekommen. Genau genommen besteht sie inzwischen fast nur noch aus geflickten Stellen.«

»Ist sie noch gefechtstauglich? Diese aktualisierten Daten drücken sich vor einer klaren Antwort.«

Der Senior-Ingenieur legte die Stirn in Falten und warf einen Blick auf seine eigenen Anzeigen. »Für mich sieht das ziemlich eindeutig aus. Die am extremsten belasteten Stellen in der Schiffsstruktur, die Bereiche der Hülle, an denen die Panzerung geschwächt ist, kumulative Auswirkungen wiederholter Systemreparaturen… Wo ist das Problem, Admiral?«

»Das sagt mir nichts darüber, ob die Orion noch gefechtstauglich ist oder nicht«, wiederholte er.

»Das können wir nicht beurteilen, Admiral. Wir sagen Ihnen, in welcher Verfassung sich das Schiff befindet. Sie müssen entscheiden, ob und wie Sie es einsetzen. Die Orion ist in keinem einzelnen Bereich so überbeansprucht, dass sie nicht länger ihre Grundfunktionen ausüben könnte, aber in vielen Bereichen ist nur noch wenig Luft nach oben. Noch so eine Salve wie die von den Kiks beim letzten Gefecht, und wir werden nach der Schlacht vermutlich nur noch die Trümmer einsammeln können. Ich habe sie nicht ausgewählt, um das Superschlachtschiff zu schleppen, weil ich besorgt war, dass sie dieser zusätzlichen Belastung nicht gewachsen sein könnte.«

Dummerweise hatte Smythe völlig recht. Das hier war ein Fall, den Geary nicht dem Urteil der Ingenieure überlassen konnte. Er würde selbst entscheiden müssen. »Gut, Captain Smythe.« Nach einer kurzen Pause stellte er die Frage, die er sich nicht verkneifen konnte: »Es bleibt bei den zwölf Stunden?«

»Jetzt nur noch elf Stunden und siebenundfünfzig Minuten, Admiral.«

Gleich danach wandte er sich an Commander Shen, den er in einem der Korridore der Orion erwischte, wo er über die nächstgelegene Komm-Einheit antwortete. »Wie geht es Ihrem Schiff, Captain?«, fragte er geradeheraus.

»Es ging ihm schon besser, Admiral.« Shen sah sich um. »Ich könnte mir keine bessere und tüchtigere Crew vorstellen, aber es gab jede Menge zu tun.«

»Halten Sie die Orion für gefechtstauglich?«

Shen senkte den Blick, während er über seine Antwort darauf nachdachte. Seine übliche unzufriedene Miene gab keinen Hinweis darauf, was ihm durch den Kopf ging. »Die Orion eignet sich nicht für die vorderste Front, aber sie kann nach wie vor kämpfen. Unsere Schilde arbeiten wieder mit Maximalleistung, ein Drittel unserer Waffen ist funktionstüchtig.«

»Das habe ich gesehen«, bestätigte Geary. »Eine beachtliche Leistung, wenn man bedenkt, welche Schäden die Orion in den letzten beiden Gefechten davongetragen hat.«

»Vielen Dank, Sir. Allerdings ist die Hülle an zahlreichen Stellen geflickt, und zwei Drittel unserer Waffen sind eben nicht einsatzfähig.« Wieder sah sich Shen um und schien zu jenen Crewmitgliedern zu schauen, die sich in Sichtweite befanden. »Durch die Verluste im Gefecht sind wir derzeit unterbesetzt. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass wir einige Leute von der Invincible als Verstärkung erhalten haben. Die arbeiten zwar ordentlich, trotzdem scheint für die meisten von ihnen die Versetzung von einem Schlachtschiff auf einen Schlachtkreuzer genauso schlimm zu sein, als hätte man sie in den dritten Kreis der Hölle verbannt.«

»Ihre vorrangige Aufgabe wird die Verteidigung des Superschlachtschiffs sein. Fühlen Sie sich dem gewachsen?«

»Ich habe keine Bedenken, was die Leistung der Orion angeht, Admiral.«

»Gut, dann werde ich Ihr Schiff weiterhin als gefechtstauglich führen. Lassen Sie Ihre Crew bitte wissen, dass ihr die wichtigste Rolle innerhalb der Flotte zukommt. Wir müssen dieses Superschlachtschiff heil nach Hause bringen. Ich vertraue diese Aufgabe der Orion an, weil ich weiß, sie ist ihr gewachsen.« War das der Hauch eines Lächelns auf Shens sonst so starrem Gesicht? »Ich werde sicherstellen, dass meine Crew erfährt, was Sie gesagt haben, Admiral.«

Als Geary die Verbindung beendete, fiel ihm Desjanis finsterer Blick auf. »Was ist los?«

Sie drehte sich zu ihm um. »Shen und ich sind alte Freunde. Kameraden. Ich möchte nicht, dass er auch noch stirbt. Über die Jahre hinweg habe ich schon zu viele Kameraden verloren.«

»Wie kommen Sie auf die Idee…«

»Ich kenne ihn, Admiral, und Sie fangen eben an, ihn besser kennenzulernen. Sie wissen, er meint alles so, wie er es gesagt hat. Shen wird das Superschlachtschiff bis zu seinem letzten Atemzug verteidigen, selbst wenn die Orion dabei in Stücke zerfällt. Und ich weiß, warum Sie ihn und die Orion genau an dieser Stelle haben wollen, auch wenn der Zustand dieses Schiffs bedenklich ist.«

Er musterte sie aufmerksam und verspürte ein ungutes Gefühl. »Und warum will ich das?« Sie beugte sich bis in seine Privatsphäre vor, damit niemand außer ihm hören konnte, was sie ihm zu sagen hatte. »Weil Sie besorgt sind, dass Captain Jane Geary mit ihrer Dreadnaught ein weiteres Mal vorpreschen könnte, womit das Superschlachtschiff jedem Angriff ausgeliefert wäre. Sie wissen, diesmal wird Shen nicht mit der Orion folgen, und dann werden auch die Dependable und die Conqueror ihren Platz nicht verlassen. Commander Shen und die Orion sind Ihre Versicherung dagegen, dass Jane Geary wieder versuchen könnte, Ruhm und Ehre einzuheimsen.«

Er wollte ihr zu gern sagen, dass sie sich irrte und er weder Shen noch die Orion aufs Spiel setzen würde. Doch tief in seinem Inneren wusste er, er konnte Desjanis Worte nicht widerlegen.

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