Vierzehn

»Wir müssen darauf gefasst sein, uns unseren Weg durch das Hua-System freikämpfen zu müssen«, eröffnete Geary den versammelten Schiffskommandanten seiner Flotte. Alle sahen sie ihn an; manche voller Entschlossenheit, andere wirkten resigniert, und keiner von ihnen ließ eine Spur von Enthusiasmus erkennen.

Mit unzufriedener Miene betrachtete Captain Badaya das Sternendisplay, das über dem Konferenztisch schwebte. »Warum können uns die Ge-, die Spinnenwölfe nichts darüber sagen, welche Verteidigungsmittel die Enigmas bei Hua aufgefahren haben?« Sein finsterer Blick nahm einen vorwurfsvollen Ausdruck an, als er zur Gesandten Rione und zu General Charban schaute.

Rione reagierte gänzlich unbeeindruckt von seinem Gebaren. »Es kann schon für einen Menschen eine Herausforderung sein, die Absichten eines anderen Menschen zu verstehen, der einen anderen Blickwinkel hat und auf andere Erfahrungen zurückgreift; beispielsweise bei einem Militär und einem Zivilisten. In diesem Fall sind wir immer noch damit beschäftigt, die Grundlagen für eine Kommunikation mit den Spinnenwölfen überhaupt erst zu schaffen. Daher sind wir noch weit davon entfernt, solch spezielle Informationen austauschen zu können.«

»Captain Badaya«, sagte Charban, dessen Tonfall der eines Offiziers war, der mit einem anderen Offizier redete, womit er unterschwellig seine Verbundenheit mit dem hiesigen Militär ausdrückte. »Wenn meine Einschätzung der militärischen Denkweise der Spinnenwölfe zutrifft, dann handelt es sich bei ihnen nicht um eine aggressive Spezies. Wer sie angreift, wird schnell zu spüren bekommen, dass er einen Fehler begangen hat. Das erkennt man am Zustand, in dem sich dieses System befindet, das von ihnen als Barriere benutzt wird. Dennoch bin ich davon überzeugt, dass sie nicht den ersten Schritt unternehmen und angreifen. Das würde bedeuten, dass die Enigmas, die erheblich mehr Erfahrung mit den Spinnenwölfen haben als wir, keine Veranlassung sehen, bei Hua eine gewaltige Streitmacht in Position zu bringen. Den Enigmas muss schließlich klar sein, dass solche Verteidigungsmaßnahmen überflüssig sind.«

»Heißt das, da sind vielleicht nur ein paar Wachposten?«, warf Captain Bradamont ein. »So wie Löwen, die mit Haien konfrontiert werden? Die Löwen wissen, wenn sie sich in den Lebensraum der Haie begeben, werden die sie zerfleischen, aber sie müssen sich keine Sorgen machen, dass die Haie versuchen werden sie anzugreifen.«

»Irgendwelche Verteidigungseinrichtungen werden da sein müssen«, betonte Captain Tulev. »Vielleicht nichts Großes, aber etwas muss da sein. Solche Anlagen werden oftmals allein aufgrund der eigenen Wahrnehmung einer drohenden Gefahr eingerichtet, nicht aber, weil es tatsächlich eine Bedrohung gibt. Wir alle wissen, dass die Enigmas die personifizierte Paranoia sind.«

Geary nickte. »Wir gehen von einer soliden Verteidigungseinrichtung aus, erwarten aber nichts, das für uns zu viel wäre.«

Captain Duellos betrachtete das Display. »Falls unsere Einschätzung der Lage zutrifft, und die Enigmas schicken tatsächlich eine große Streitmacht nach Midway, dann werden sie dafür alle verfügbaren Schiffe zusammengezogen haben. Dann dürften wir es bei Hua nicht mit vielen Kriegsschiffen zu tun bekommen.«

»Ja«, stimmte Badaya zu. »Falls die Enigma-Flotte auf dem Weg nach Midway ist, wird sie nicht bei Hua auf uns warten. Trotzdem wäre es schön«, fügte er mit überzogenem Sarkasmus und einem neuerlichen Blick in Riones Richtung hinzu, »wenn wir zumindest wüssten, ob die Enigmas bei Hua ein Hypernet-Portal installiert haben oder nicht.«

»Wie ich bereits zuvor mitgeteilt hatte«, redete Geary weiter, »werden uns die sechs Schiffe der Spinnenwölfe nicht bei einem Angriff auf die Enigmas unterstützen. Möglicherweise geben sie uns diese Informationen nicht, weil sie das bereits als Unterstützung betrachten. Aber wir befinden uns deshalb nicht in einer schlechteren Position als beim ersten Mal, als wir das Gebiet der Enigmas durchquert haben. Wir treffen in Hua ein, wir stellen fest, was es dort gibt, und dann nehmen wir Kurs auf Pele. Wir planen ein automatisches Ausweichmanöver, das die Flotte bei der Ankunft ausführen wird. Immerhin könnte es sein, dass die Enigmas dort ein konventionelles Minenfeld eingerichtet haben.«

Commander Neeson schlug mit der Hand auf den Tisch, da ihm ein Gedanke kam. Die Software erzeugte sogar das dazu passende Geräusch, obwohl er auf seinem eigenen Schiff auf die Tischplatte geschlagen hatte. »Die Enigmas verfügen über Kommunikation mit Überlichtgeschwindigkeit. Wenn wir Hua durchqueren, können sie ihre auf dem Weg nach Midway befindliche Streitmacht warnen, dass wir unterwegs sind.«

Badaya zuckte mit den Schultern. »Dann warten sie halt bei Pele auf uns, und wir besiegen sie da.«

»Wenn die Enigmas bei Pele kämpfen wollen, dann werden sie ihren Kampf bekommen«, erklärte Geary. »Wir können nichts dagegen unternehmen, dass die Enigmas in der Lage sind, ihre Streitkräfte vor uns zu warnen. Aber es zeigt, wie wichtig es für uns ist, so schnell wie möglich Midway zu erreichen.«

»Admiral«, meldete sich Captain Jane Geary zu Wort. »Wenn wir das gekaperte Superschlachtschiff abkoppeln, kommen wir schneller voran.«

Zu dieser Konferenz war auch Admiral Lagemann eingeladen worden, und etliche Offiziere sahen ihn nun an, während andere Geary beobachteten.

»Mein Schiff ist ein Klotz am Bein«, stimmte Lagemann zu. »Die Ingenieure wagen es noch nicht, die Maschinen einzuschalten, außerdem sind die Antriebseinheiten so beschädigt, dass wir uns nicht von der Stelle rühren können, selbst wenn die Maschinen laufen sollten. Aber wir können uns verteidigen, wenn uns jemand entern will.«

»Aber nicht besonders gut«, wandte General Carabali ein. »Sie haben nur eine Kompanie Marines an Bord. Ich würde die Anzahl zumindest verdoppeln wollen.«

»Die provisorischen Lebenserhaltungssysteme auf dem Schiff kommen mit so vielen zusätzlichen Leuten nicht zurecht«, warnte Captain Smythe.

»Können Ihre Ingenieure die Leistungsfähigkeit der Systeme erhöhen?«, wollte Geary wissen.

»Das könnten sie schon, aber dafür müsste ich sie von anderen vorrangig zu erledigenden Aufgaben abziehen.«

»Meine Ingenieure«, warf Carabali ein, »können unsere tragbare Lebenserhaltungsausrüstung benutzen, die eigentlich für den Einsatz in lebensfeindlichen Umgebungen gedacht ist. Damit kann der zusätzliche Bedarf gedeckt werden.«

Smythe zog die Stirn in Falten. »Kann ich die Spezifizierungen dieser Ausrüstung sehen, General? Ich zweifele nicht an Ihrer Einschätzung, aber ich würde gern wissen, womit wir es im Detail zu tun haben.«

»Dann hätten Sie nichts dagegen einzuwenden?«, fragte Geary.

»Sie meinen, Ausrüstung der Marines zu benutzen? Nein, Admiral. Sie ist so entwickelt, dass sie mit der Flottenausrüstung kompatibel ist. Außerdem wissen General Carabalis Gefechtsingenieure, was sie tun.«

»Schön, so etwas von einem Flotteningenieur zu hören«, sagte Carabali. »Wenn Sie es genehmigen, Admiral, können wir damit fertig sein, bevor die Flotte dieses System verlässt. Das gekaperte Schiff verfügt dann über zwei Kompanien Marines, verstärkt um schwere Waffen. Niemand erobert das Schiff ohne erbitterten Kampf und ohne eine sehr starke Streitmacht.«

Commander Shen blickte noch etwas missmutiger als üblich drein. »Ich sage nichts dagegen, dass sich Marines auf dem gekaperten Schiff befinden, aber jeder, der es mit einer Streitmacht entern will, muss erst mal den Beschuss durch die Orion und ihre Schwesterschiffe überstehen.«

»Ich für meinen Teil werde mich sehr sicher fühlen, wenn ich weiß, dass mich acht Schlachtschiffe und zwei Kompanien Marines vor jeder Bedrohung schützen«, merkte Admiral Lagemann an. »Und dann steht natürlich auch immer noch die Panzerung dieses Superschlachtschiffs zwischen uns und allen möglichen Gefahren.«

»Gut, dann wollen wir mal«, befahl Geary.

Jane Geary beugte sich vor. »Heißt das dann, wir trennen das Superschlachtschiff von der Flotte und lassen es eskortiert folgen?«

»Nein«, antwortete er entschieden. »Jedenfalls jetzt noch nicht. Das gekaperte Schiff ist von ungeheurem Wert. Ich würde die halbe Flotte dafür abstellen müssen, damit es eine ausreichende Eskorte erhält. Solange ich aber nicht weiß, was die Enigmas in Sachen Kriegsschiffe aufzubieten haben und ob wir ihnen unter Umständen schon bei Pele begegnen werden, beabsichtige ich nicht, die Flotte aufzuteilen.«

»Nicht bevor wir Hua hinter uns gebracht haben«, stimmte Tulev zu.

Geary wollte die Besprechung beenden, da beugte sich Desjani zu ihm herüber und flüsterte: »Fordern Sie Roberto Duellos auf, noch zu bleiben. Sie sollten mit ihm reden.«

Er überspielte sein Erstaunen, nickte nur kurz und gab dann Duellos ein Zeichen zu bleiben, ehe er sich an die übrigen Schiffskommandanten wandte: »Das wäre dann alles. Wir werden zum Kampf bereit sein, wenn die Enigmas versuchen, sich uns in den Weg zu stellen.«

Die Bilder der Offiziere verschwanden im Eiltempo, gleichzeitig schrumpfte der Raum immer weiter zusammen, sodass es einen Moment lang so schien, als würden sich die Schotten tatsächlich zusammenziehen.

Rione und Charban, die so wie Desjani persönlich anwesend waren, standen beide auf und machten einen resignierten Eindruck. »Wir setzen uns wieder mit den Spinnenwölfen in Verbindung und versuchen weiter, ihre sonderbare Denkweise zu durchschauen«, merkte Charban an.

»Wenn Sie in die Politik wollen«, gab Rione zurück, »dann sollten Sie sich daran lieber schon mal gewöhnen. Aber zeitweise ist es schon ermüdend. Wenn Sie uns entschuldigen würden, Admiral.«

Desjani wartete, bis die beiden gegangen waren, sodass nur noch sie, Geary und der virtuelle Duellos anwesend waren. »Ich glaube, ihr Jungs müsst euch mal ein bisschen austoben.«

»Wie bitte?«, erwiderte Geary.

»Sie haben viel mit mir geredet. Aber ein gewisser Flottenbefehlshaber sollte seine Sorgen und Bedenken nicht nur mit einem gewissen Schlachtkreuzer-Captain teilen, wenn er mehr als nur eine Meinung und einen Blickwinkel erfahren will. Sie wissen, Sie können Captain Duellos alles anvertrauen. Und Sie, Roberto, erzählen mir seit Ihrer Rückkehr vom Landurlaub, was Ihnen zu schaffen macht. Dabei sage ich Ihnen immer wieder, Sie sollen mal mit Jack reden. Bei allen Vorfahren, hören Sie wenigstens dieses eine Mal auf mich!«

»Jack?«, wiederholte Duellos verdutzt.

»Sie wissen, wen ich meine. Den Admiral«, fügte sie hinzu und betonte den Dienstgrad auf eine Weise, dass es komisch wirkte. »Ich werde mich jetzt zurückziehen, damit Sie beide auch über mich herziehen können, wenn Sie das wollen.«

Duellos grinste und verbeugte sich in ihre Richtung, als sie den Raum verließ. »Was haben Sie getan, um jemanden wie sie zu verdienen.«

»Ich verdiene sie gar nicht«, sagte Geary. »Ich schätze, Sie und ich, wir haben unsere Befehle.«

»Ich fand schon immer, dass ein Admiral eine Stimme an seiner Seite haben sollte, die ihn hin und wieder an seine Fehlbarkeit erinnert«, meinte Duellos. »Mit Tanya haben Sie eine solche Stimme gefunden.«

»Die manchmal ziemlich energisch werden kann, wenn ich nicht auf sie höre. Was macht ihr Sorgen?«

»Sie und ich, würde ich annehmen.« Duellos wandte sich um und sah dorthin, wo Augenblicke zuvor noch die anderen Offiziere gesessen hatten. »Und Jane Geary, aber die wird nicht reden wollen. Sie scheint noch immer nach ihrem Anteil am Ruhm zu streben.«

»Glauben Sie mir, das ist mir nicht entgangen.« Geary setzte sich hin und bedeutete Duellos, ebenfalls Platz zu nehmen. »Entspannen Sie sich. Ich vermute, das hier ist mehr so eine Art private Therapiesitzung, auch wenn keiner von uns darum gebeten hat.«

»Dafür hat man Freunde«, seufzte Duellos, der irgendwie älter wirkte als noch vor ein paar Tagen, als Geary ihn das letzte Mal gesehen hatte.

»Was ist los mit Ihnen?«, fragte er. »Wir sind auf dem Heimweg.«

»Und ich sollte mich darüber so freuen wie alle anderen.« Duellos zuckte mit den Schultern, sein Gesichtsausdruck spiegelte seine Unentschlossenheit wider. »In der kurzen Ruhephase nach Kriegsende bin ich nach Hause gereist. Es kam mir sonderbar vor.«

»Sonderbar?«

»Sie sind nicht nach Glenlyon heimgekehrt?«

»Nein. Sie können sich ja vorstellen, was das geworden wäre. Kosatka hat mir mehr als genügt.«

Duellos nickte. »Der Held aus einer Legende kehrt heim. Ich muss gestehen, als ich nach Hause flog, da habe ich nicht nur erwartet, dass sich meine Familie über meine Rückkehr freut, sondern dass ich auch Lob für alles höre, was die Flotte getan hat. ›Gut gemacht, Roberto.‹ Etwas in der Art. Nichts Übertriebenes, einfach nur eine Anerkenntnis, dass wir das gut gemacht haben. Aber die Stimmung war anders, Admiral, grundlegend anders.«

»Wie soll ich das verstehen?«

»Es ist vorbei.« Duellos hielt inne und dachte nach. »So kam es mir vor. Jetzt ist es vorbei. Kein Jubel, dass wir gewonnen haben. Kein Willkommen für die heimkehrenden Helden. Nein, einfach nur aus und vorbei. Auf Catalan gibt es eine große Trainingsbasis, die bis zu zwanzigtausend Rekruten fassen kann. In den letzten hundert Jahren haben in Fort Cinque unzählige Rekruten gelernt, wie man marschiert und Befehle ausführt; natürlich nicht immer gleichermaßen erfolgreich. Ich ging dorthin, Admiral, aber die Basis war geschlossen.«

»Das heißt, sie wird aufgelöst?«, fragte Geary, der eine solche Vorgehensweise nachvollziehen konnte.

»Nein, sie wird nicht aufgelöst. An dem Tag, an dem sie erfuhren, dass der Krieg vorbei ist, drückten sie jedem Rekruten ein Flugticket für die Heimreise in die Hand, und dann wurden sie noch am gleichen Tag nach Hause geschickt. Dann folgten die Instruktoren, die Wachen, die Wartungstechniker und alle anderen, und noch bevor die Sonne untergegangen war, verließ der Befehlshaber der Basis als Letzter das Gelände und schloss hinter sich ab.« Duellos sah zu Geary, sein Gesicht verriet keine Regung. »Hundert Jahre lang haben Zigtausende Männer und Frauen dieses Fort durchlaufen. Es war ein Teil ihres Lebens, ein Teil der Geschichte. Und dann hören sie, dass der Krieg vorüber ist, und sie machen den Laden einfach sofort dicht.«

»Passiert so was mit allen Einrichtungen?«, wollte Geary wissen.

»Größtenteils ja. Überall werden Basen geschlossen, die lokalen Verteidigungsstreitkräfte werden so schnell entlassen, wie man ihnen ihre Papiere ausstellen kann. Verträge mit militärischem Bezug werden gekündigt, Ausrüstungsgegenstände werden eingemottet oder sogar gleich verschrottet. Es ist keine Verkleinerung des Militärs, es ist seine komplette Auflösung.« Duellos lächelte bitter. »Meine Frau und ich sind zu ein paar Treffen gegangen. Die Leute wollten nicht wissen, was ich gemacht habe, sondern ob ich Ihnen begegnet bin. Ansonsten hieß es nur: ›Und was werden Sie jetzt machen?‹ Jetzt, da der Krieg vorbei ist, braucht niemand mehr einen Flottenoffizier.«

Geary musste an die Spezialtruppen denken, denen er auf der Station Umbaru bei Varandal begegnet war. Sie hatten sich auch gefragt, was aus ihnen werden sollte, da Sondereinheiten in der bisherigen personellen Stärke nicht mehr benötigt wurden. Die Situation wäre eine andere gewesen, hätte der Krieg nicht so lange gedauert; fünf oder zehn Jahre vielleicht. Doch im Verlauf von hundert Jahren war er zu einem festen Bestandteil des Alltags geworden. Duellos hatte ganz richtig gesagt, dass sich das ganze Leben dieser Leute um den Krieg gedreht hatte. »Was wollen Sie machen?«

»Ich weiß nicht«, gestand Duellos. »Ich bin ein Flottenoffizier. Von klein auf hat man von mir erwartet, dass ich das werde. Ich habe nie etwas anderes gemacht. Ich bin immer davon ausgegangen, dass ich irgendwann in einem weit entfernten Sternensystem oder auch in einem Grenzsystem der Allianz beim Kampf gegen die Syndiks ums Leben komme. Hätte ich durch irgendein Wunder lange genug überlebt, um in den Ruhestand zu gehen, dann wäre ich nach Hause zurückgekehrt und hätte zugesehen, wie an meiner Stelle andere Männer und Frauen in den Krieg ziehen. So ist das hundert Jahre lang der Fall gewesen. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass der Krieg einmal zu Ende sein könnte. Wir alle waren längst der Ansicht, dass die Kämpfe ewig weitergehen würden. Aber dann waren sie auf einmal zu Ende.« Er hob die Hand und hielt die Finger so, als würde er mit einem Glas auf Geary anstoßen. »Und jetzt will niemand mehr einen Flottenoffizier haben.«

»Es werden nicht mehr so viele Flottenoffiziere benötigt, aber es werden…«

»Nein, Admiral. Niemand will einen Flottenoffizier haben. Alle haben genug vom Krieg, genug davon, ihre jungen Leute wegzuschicken, damit sie vom großen Maul des Krieges geschluckt werden. Sie wollen nicht, dass gebrochene Männer und Frauen heimkehren. Und erst recht wollen sie nicht, dass Gefallene nach Hause gebracht werden. Und sie wollen auch nicht, dass das Vermögen ihrer Welt vom Krieg verschlungen wird.« Wieder hob Duellos die Schultern. »Wem kann ich das verübeln? Und trotzdem haben nun sehr viele von uns, die stets eine Aufgabe hatten, mit einem Mal keine Funktion mehr.«

Was sollte er dazu sagen? Eine Weile sah er vor sich hin, während er überlegte, wie er sich äußern konnte. Dann hob er den Kopf und sah Duellos an. »Was sagt Ihre Frau dazu?«

»Sie ist dankbar dafür, dass ich überlebt habe. Und dass nicht noch mehr von unseren Kindern weggeschickt werden, nur um in einem unendlichen Krieg zu sterben. Und sie war verblüfft, mit welcher Melancholie ich einer Welt begegnet bin, die sich so sehr verändert hat, dass ich sie nicht wiedererkenne. Eine Welt, für die ich von einem Moment auf den anderen überflüssig geworden bin.« Duellos schüttelte den Kopf und schaute finster drein. »Es macht mir zu schaffen. Frieden ist eine gute Sache. Krieg fordert einen schrecklich hohen Preis. Aber ich weiß nichts über den Frieden. Ich bin für den Krieg geschaffen. Ich hasse den Krieg und den Tod. Ich hasse es zu wissen, dass noch mehr sterben werden. Ich hasse es, von den Menschen getrennt zu sein, die ich liebe, aber… aber das ist alles, was ich weiß und kann. Daheim will jeder das Thema so schnell wie möglich zu den Akten legen und vergessen, was geschehen ist. Aber wenn sie die schrecklichen Dinge vergessen, dann vergessen sie auch die Opfer, die gebracht wurden, und das, was von denen verbrochen wurde, die von ihnen in den Kampf geschickt worden sind. Sie wollen nichts mehr davon hören. Und ich weiß einfach nicht, was ich sein soll, nachdem ich nun nicht mehr das bin, was ich für sie war.«

Geary blickte zur Seite und überlegte, was er darauf erwidern sollte. »Es tut mir leid.«

»Das ist nicht Ihre Schuld, Admiral«, sagte Duellos. »Sie haben getan, was Sie tun mussten. Sie haben getan, was Sie der Legende nach tun würden.« Er hielt inne und sah Geary eindringlich an. »Aber die Legende hat nie ein Wort darüber verloren, was Black Jack tun würde, nachdem er die Menschheit gerettet hat, nicht wahr?«

»Das weiß ich nicht. Ich wollte nie etwas über diese Legende wissen.«

»Tanya und ich haben darüber geredet. Das ist ein Punkt, der keinem von uns bewusst gewesen ist, obwohl wir mit dieser Legende aufgewachsen sind. Es gab nie ein ›und wenn sie nicht gestorben sind‹ oder etwas in der Art.« Wieder sah er Geary an. »Darüber wird nichts gesagt. Die Geschichte endet einfach, und jetzt müssen wir uns der Realität stellen. Braucht noch irgendjemand Black Jack? Wie viele Leute wollen Black Jack immer noch haben?«

»Ich wollte nie dieser Black Jack sein, schon vergessen?«, erwiderte Geary. »Sie wissen auch von dieser Bewegung, die will, dass ich zu Hause das Heft in die Hand nehme, dass ich die Regierungsmacht an mich reiße und Ordnung schaffe, was immer man sich darunter vorstellt. Oder dass ich ein Wunder bewirke und jegliche Korruption und jeden Machtmissbrauch ausrotte, von dem die Regierung derzeit noch befallen ist. Das verlangen die Leute von mir.«

»Wollen sie das wirklich?«, fragte Duellos. »Ich meine, sie sagen das zwar, aber was, wenn man Ihnen tatsächlich diese Aufgaben übertrüge? Wie lange wird es dauern, bis der Held tönerne Füße entwickelt?«

»Die hatte der Held schon immer«, erwiderte Geary. »Es wäre eine große Erleichterung für mich, wenn die Leute ihre Erwartung aufgeben würden, dass ich zur Tat schreiten und alles in Ordnung bringen werde. Es würde mir nicht das Herz brechen, wenn ich nur… nur…«

Er hielt inne, um seine Gedanken zu ordnen. Wenn er nur was?

»Roberto«, redete er bedächtig weiter. »Sie wissen, ich war nicht begeistert davon, das Kommando über die Flotte zu übernehmen, nachdem wir den Syndiks in die Falle gegangen waren. Und Sie wissen, ich konnte mich nie für die Legende von Black Jack erwärmen. Eine Weile habe ich mich mit dem Gedanken getröstet, die Flotte nach Hause zu bringen und dann einfach… irgendwo unterzutauchen. Einfach zu verschwinden und irgendwo zu leben, wo noch nie jemand den Namen Black Jack gehört hat. Den Krieg zu gewinnen, war nie meine Aufgabe. Das erwarteten nur alle von mir, weil sich die Regierung einen albernen Mythos über mich ausgedacht hatte, um mich zum größten aller Helden zu erklären.«

»Aber Sie haben Ihre Meinung geändert«, sagte Duellos und tat so, als ob er den imaginären Wein in dem imaginären Weinglas betrachtete, das er immer noch in seiner Hand zu halten vorgab.

»Tanya hat mir klargemacht, dass ich nicht tun konnte, was ich tun wollte.« Einen Moment schaute er finster nach unten. »Ich wusste, es ging nicht. Ich hatte eine Aufgabe zu erledigen. Aber die Regierung hatte niemals Black Jacks Auferstehung gewollt. Für sie war es die ideale Legende, um der Flotte und den Menschen der Allianz etwas zu geben, das sie zum Handeln inspirierte. Aber sie wollten keine reale Person haben. Seit ich die Legende mit Leben erfüllt habe, bin ich jemand, den genau die Leute loswerden wollen, die den Mythos geschaffen haben.«

Duellos betrachtete Geary, dann tat er so, als müsse er das Weinglas erst hinstellen, ehe er sich vorbeugen konnte. »Und jetzt sind wir alle — Sie und ich und viele andere — Leute, die nicht mehr benötigt werden und die niemand mehr haben will. Was für ein Zufall, dass wir alle auf einer Mission unterwegs sind, die uns tief in ein Territorium geführt hat, über das die Menschheit nichts weiß. Auf einer Mission, deren Risiko schlicht unkalkulierbar ist.«

»Ja, ein bemerkenswerter Zufall.« Geary verzog den Mund zu einem bemühten Lächeln. »Es gibt da etwas, über das ich gern reden würde.«

»Davon hat Tanya gesprochen. Betrifft es die Regierung?«

»Unter anderem. Es geht um das Flottenhauptquartier. Um heimliche Pläne und Hinterlisten. Um eine Vertuschung, was den Bau neuer Kriegsschiffe angeht… und vermutlich noch ein paar Dinge mehr.« Geary atmete schnaubend aus, während er überlegte. »Ich werde Ihnen sagen, was ich weiß. Ich werde Ihnen berichten, welche Fakten es gibt und dann, was ich auf deren Grundlage vermute.«

»Meinetwegen.« Irgendwo in seinem Quartier hatte Duellos unterdessen ein echtes Weinglas hervorgekramt und trank genüsslich einen Schluck. »Fakt Nummer eins?«

»Fakt Nummer eins: Die Allianz-Regierung und das Flottenhauptquartier haben beide versucht, uns zu schnell auf diese Mission zu entsenden. Unsere Vorräte waren noch nicht aufgestockt, und wir waren nicht in dem Maß bereit, das für mich unbedingt erforderlich war. Ich weiß, dieser Unsinn kommt dauernd vor. Erst muss man sich sputen, dann sitzt man sechs Monate rum und dreht Däumchen, und dann auf einmal soll man innerhalb einer Woche einsatzbereit sein. Das ist zwar normal, aber in diesem Fall kam es mir nicht normal vor.«

»Das ist uns allen aufgefallen«, merkte Duellos an. »Jeder von uns kennt dieses Gefühl, wenn man zum Handeln gedrängt wird. Als die Syndiks vor unserer Haustür standen, war das nachvollziehbar, nicht aber, als noch gar keine Krise eingetreten war, der man sofort etwas entgegensetzen musste. Aber Sie hatten das Kommando, daher sind wir davon ausgegangen, dass es einen guten Grund für diese Eile gibt.« Er trank wieder einen Schluck Wein. »Fakt Nummer zwei?«

»Fakt Nummer zwei«, wiederholte Geary. »In letzter Minute — und damit meine ich buchstäblich die letzte Minute — hat das Flottenhauptquartier versucht, uns den Großteil der Hilfsschiffe wegzunehmen. Die Titan, die Tanuki, die Kupua, die Domovoi. In welchem Zustand würde sich die Flotte heute befinden, wenn wir nur die vier kleinen Hilfsschiffe zur Verfügung hätten?«

»In keinem guten«, meinte Duellos. »Wie sind wir denn da noch mal davongekommen? Haben Sie einfach den Befehl missachtet?«

»Nein. Admiral Timbale wies darauf hin, dass der Befehl nicht den Standardprotokollen entsprechend übermittelt wurde, also bat er um Klärung, ob es sich um einen ordentlichen Befehl handelt oder nicht. Er hat die Anfrage abgeschickt, ich habe die vier fraglichen Hilfsschiffe mitgenommen.«

»Es ist immer gut, wenn man sich an die Vorschriften hält«, stimmte Duellos ihm zu. »Fakt Nummer drei?«

»Fakt Nummer drei: Uns allen wurde gesagt — und ich persönlich habe es wiederholt zu hören bekommen —, dass der Bau neuer Kriegsschiffe ausgesetzt wurde, um Geld zu sparen. Dennoch gibt es stichhaltige Beweise dafür, dass die Regierung insgeheim eine größere Anzahl Kriegsschiffe bauen lässt.«

Duellos hielt inne und musterte sein Weinglas, während er die Stirn langsam in Falten legte. »Wie stichhaltig sind diese Beweise?«

»Sie genügen, um die Leute zu überzeugen, die sich mit solchen Dingen auskennen.« Er wollte Duellos gegenüber nicht erwähnen, dass es Lieutenant Jamenson war, die den Beweis in Hunderten von scheinbar unzusammenhängenden Verträgen und Berichten gefunden hatte.

»Wie viele Schiffe?«, fragte ein unüberhörbar skeptischer Duellos.

»Zwanzig Schlachtschiffe, zwanzig Schlachtkreuzer, dazu eine entsprechende Anzahl Kreuzer und Zerstörer, die als Eskorte dienen werden.«

Diesmal dauerte es lange, bis Duellos etwas erwiderte. »Ich kann verstehen, warum die Regierung so etwas vor einer kriegsmüden Öffentlichkeit verschweigen will. Aber warum sagt man Ihnen nichts davon?«

»Eine sehr gute Frage, die aber mit Fakt Nummer vier zusammenhängen könnte. Unseren Kriegsschiffen und den Systemen an Bord macht die lange Lebensspanne in zunehmendem Maß zu schaffen. Kein Schiff ist so konstruiert, dass es länger als drei Jahre funktionstüchtig bleibt.«

»Wer bei Honor mit dabei war, weiß das längst«, sagte Duellos. »Ich wusste, dass sich Probleme anbahnen, aber das hat mir wirklich die Augen geöffnet.«

»Uns auch«, räumte Geary ein. »Ich wusste von dem Problem, und mir war auch klar, dass es sich mit der Zeit immer deutlicher bemerkbar machen würde. Aber auf ein solches Ausmaß war ich nicht gefasst. Etwas Ähnliches könnten wir bei Midway abermals erleben. Allerdings meint Captain Smythe, dass die Belastung der Systeme bei Honor alles hat durchbrennen lassen, was kurz vor dem Totalausfall stand. Deshalb sollten wir seiner Ansicht nach vorläufig weitgehende Ruhe haben. Aber bei allem, was unsere Hilfsschiffe leisten, schwindet unsere Einsatzbereitschaft kontinuierlich.« Sollte er Duellos die nächste Sache auch noch anvertrauen?

»Fakt Nummer fünf?«, fragte Duellos mit einer Selbstverständlichkeit, als hätte er eine Liste aller Themen vor sich liegen.

»Ja, Fakt Nummer fünf«, meinte Geary und schüttelte lächelnd den Kopf. »Von allen Seiten bekomme ich zu hören, dass ich ein miserabler Lügner bin.«

»Stimmt. Sie können das eigentlich gar nicht. Das gehört zu Ihren löblicheren Eigenschaften.«

»Na gut. Diese neuen Schiffe, die momentan gebaut werden… wir haben Grund zu der Annahme, dass bei ihnen wesentlich höhere Standards angelegt werden als bei unseren.«

»Eine plausible Annahme«, fand Duellos. »Davon kann man ausgehen, wenn man bedenkt, dass unsere Schiffe im Kriegseinsatz nicht lange durchhalten mussten. Schiffe für eine Friedensflotte würde man dann deutlich langlebiger konstruieren. Aber… das würde bedeuten, die Leute, die Ihnen den Befehl für diese Mission erteilt haben, waren sich darüber im Klaren, dass Sie mit dem um sich greifenden Problem von Systemausfällen auf den Schiffen dieser Flotte konfrontiert werden würden. Gibt es auch noch einen Fakt Nummer sechs?«

»Ja, den gibt es.« Geary deutete auf das Sternendisplay. »Wir wurden in eine unbekannte Region des Alls geschickt, um mehr über einen Feind herauszufinden, über dessen Kampfkraft wir nichts wussten. Dabei lautete der Befehl ausdrücklich, herauszufinden, wie weit das von den Aliens kontrollierte Gebiet reicht, was aber deutlich weiter hätte sein können, als es sich nun herausgestellt hat.«

»Und das bei einer Flotte, von der die übergeordneten Stellen wussten, dass sie Probleme mit der Zuverlässigkeit ihrer Systeme bekommen würde«, ergänzte Duellos. »Und der das Flottenhauptquartier auch noch die Hälfte der zugeteilten Hilfsschiffe wegnehmen wollte. Das ergibt aber kein besonders erfreuliches Bild.«

»Es kommt noch schlimmer. Fakt Nummer sieben. Auf dem Weg zu unserer Mission mussten wir einen großen Umweg einlegen, um Kriegsgefangene bei Dunai zu befreien. Fakt Nummer acht: Rione wurde dem Schiff zugeteilt, auf dem ich und Tanya uns befinden, obwohl man gewusst haben muss, dass so etwas zu Spannungen führen kann.«

»Noch ein Störmanöver.«

»Fakt Nummer neun: Die Enigmas hätten uns mühelos auf der von uns abgewandten Seite des Syndik-Gebiets festsetzen können, indem sie das gesamte Hypernet der Syndiks hätten zusammenbrechen lassen. Uns ist dieser Gedanke nicht gekommen, den Syndiks dagegen sehr wohl. Deshalb habe ich den Behörden bei Midway die für die Syndiks entwickelte Sicherung für das Hypernet-Portal überlassen, damit es nicht von den Enigmas zerstört werden kann.«

Duellos kniff die Augen zusammen, sein Gesicht nahm einen härteren Ausdruck an. »Und jemand auf unserer Seite könnte den gleichen Gedanken gehabt haben?«

»Fakt Nummer zehn«, sagte Geary. »Das Flottenhauptquartier hat außerdem versucht, jeden aus dieser Flotte abzuziehen, der theoretisches Wissen über das Hypernet besitzt.«

»Also hatte in der Tat jemand den gleichen Gedanken.«

»Es fällt schwer, diesen Schluss nicht zu ziehen, stimmt’s?«, entgegnete Geary. »Fakt Nummer elf: Victoria Rione verhält sich völlig untypisch.«

»Um ehrlich zu sein«, sagte Duellos, »weiß ich nicht, welches Verhalten man bei Rione als typisch bezeichnen soll.«

»Hat Tanya mit Ihnen auch über sie gesprochen?«

»Andauernd. Zumindest hatte ich immer den Eindruck, dass sie mit ›diese Frau‹ Rione meint.«

»Hat Tanya Ihnen auch gesagt, dass Rione endlich zugegeben hat, geheime Befehle erteilt bekommen zu haben? Von einer Quelle, zu der sie noch nichts sagen kann.«

»Tanya zufolge stellt ›diese Frau‹ eine größere Bedrohung für die Flotte und für die Allianz dar als die Enigmas, die Kiks und der gesamte Rest der Syndikatwelten zusammengenommen. Aber ich habe gesehen, welche Dienste die ehemalige Senatorin und ehemalige Vize-Präsidentin der Callas-Republik und gegenwärtige Gesandte der Allianz in der Vergangenheit geleistet hat, und ich würde ihre Intelligenz nicht unterschätzen. Warum sollte sie sich auf solche Befehle einlassen?«

»Erpressung.«

»Mit Blick auf Sie?«, fragte Duellos.

»Nein, das ist kein Geheimnis. Die kurze Beziehung zwischen Rione und mir zu einer Zeit, als niemand wusste, dass ihr Ehemann noch lebt, ist auch allenfalls eine Sache, die ihre Ehre beeinträchtigen könnte.«

»Dann vielleicht die Ehre eines anderen? Ich habe von Tanya auch ein paar Dinge über Commander Benan gehört. Es gibt da einige Geheimnisse, die sie nicht mal mir anvertrauen kann.«

»Bedauerlicherweise stimmt das. Worum es mir geht: Jemand wollte Rione zwingen, diese Flotte zu begleiten und bestimmte Maßnahmen zu ergreifen. Ich weiß es nicht sicher, aber ich bin der festen Überzeugung, dass Rione nichts unternommen hat, was dieser Flotte schaden könnte, ohne dabei gegen den Wortlaut dieser Geheimbefehle zu verstoßen.«

Duellos nickte nachdenklich, während er sein Weinglas betrachtete. »Gibt es noch weitere Fakten?«

»Nein, nur Vermutungen.«

»Lassen Sie mich raten.« Duellos’ Blick wanderte zum Sternendisplay. »Aus einer dubiosen Loyalität der Regierung gegenüber wollte jemand erreichen, dass diese Flotte abermals als verschollen bezeichnet werden kann — und es diesmal auch bleibt. Und gleichzeitig wollte man den legendären Helden aus der Vergangenheit loswerden, der sich erdreistet hatte, nach hundert Jahren immer noch quicklebendig zu sein. Da die Syndikatwelten im Zerfall begriffen sind und formal Frieden geschlossen worden ist, hat die Allianz keine Verwendung mehr für diese Flotte und die lebende Legende. Gleichzeitig wird eine neue Flotte gebaut, um sich notfalls wieder verteidigen zu können, wobei die Besatzungen dieser Schiffe aus Männern und Frauen bestehen, die nicht unter Black Jacks Kommando gestanden und deshalb auch keine persönliche Loyalität zu ihm entwickelt haben. Den Oberbefehl über diese neue Flotte wird man einem Offizier übertragen, der der Regierung treu ergeben ist.«

»Nicht so ganz«, schränkte Geary ein. »Rione hat angedeutet, dass das keine völlig in sich geschlossene Verschwörung ist, sondern dass unterschiedliche Gruppen jeweils eigene Ziele zu erreichen versuchen. Eine Ansammlung einzelner Gruppen hat dafür gesorgt, dass diese Flotte jetzt und hier unterwegs ist.«

»Und worin besteht der praktische Unterschied?«

»Einige dieser Gruppen und einige dieser Individuen könnten Absichten verfolgen, bei denen die Loyalität ihnen gegenüber Vorrang vor einer Loyalität gegenüber der Regierung hat.«

Duellos hielt inne, seine Gesichtszüge zeigten keine Regung, nur seine Augen verrieten, dass er intensiv einem Gedankengang folgte. »Als Sie sich mit dem Großen Rat der Allianz getroffen hatten, sprachen Sie anschließend davon, dass einige Senatoren sich Ihnen gegenüber unverhohlen feindselig gaben, während andere nicht so offen zeigten, was sie von Ihnen halten.«

»Und ein paar von ihnen machten einen ehrlichen und engagierten Eindruck«, ergänzte Geary. »Zum Beispiel Senator Navarro. Aber Victoria Rione sagte schon, dass er durch seine vormaligen Aufgaben als Ratsvorsitzender und durch die Anfeindungen seiner politischen Gegner angeschlagen ist. Senatorin Suva traue ich überhaupt nicht über den Weg, und in ihrem Fall weiß ich auch, dass sie etwas mit den Befehlen für diese Mission zu tun hat. Welches Spiel Senator Sakai spielt, habe ich noch nicht herausgefunden. Und das sind gerade mal drei Beispiele von vielen.«

»Hmm«, machte Duellos. »Wissen Sie, diese Dinge, dass man Ihnen die Hilfsschiffe und jeden wegnehmen wollte, der etwas über die Funktionsweise des Hypernets weiß, könnte ebenso gut nichts anderes als bürokratische Dummheit sein. Die Befehle könnten in den unterschiedlichsten Abteilungen ausgegeben worden sein, weil wieder mal jemand mit Tunnelblick nur an die Vorschriften oder an ›die Bedürfnisse der Flotte‹ gedacht hat. Wir reden hier immerhin vom Flottenhauptquartier, einer Organisation, die nicht gerade dafür berühmt ist, dass die linke Hand weiß, was die rechte tut. Es gibt da ein altes Sprichwort, dass man nichts als Boshaftigkeit bezeichnen sollte, was sich auch mit Dummheit erklären lässt. Ich möchte wissen, wer sich diesen Satz ausgedacht hat.«

»Ja, der Gedanke ist mir auch gekommen«, gab Geary zu. »Unter normalen Umständen kann man schon schnell den Eindruck haben, dass die Militärbürokratie es auf einen abgesehen hat. Und das hier sind alles andere als normale Umstände.«

»Richtig. Und Sie haben oft genug erlebt, was für Leute in den oberen Etagen des Flottenhauptquartiers sitzen. Viele von denen haben es so weit gebracht, weil sie ihre Arbeitsweise ganz darauf ausgerichtet haben, möglichst schnell Karriere zu machen. Leute wie Sie, die tatsächlich etwas geleistet haben, das eine Beförderung rechtfertigt, sind für diese Typen eine Bedrohung. Die werden versuchen, Sie einfach aus Prinzip verschwinden zu lassen, selbst wenn gar kein größerer Plan existieren sollte. Diese Leute schicken Sie schnell wieder aus ihrem Büro, sie verweigern Ihnen die notwendige Zeit, um Vorbereitungen zu treffen. Was soll’s? Die Ihnen übertragene Mission könnte scheitern? Ach, wäre das nicht ein Schicksalsschlag für alle, die sich für Ihre Rivalen halten? Und selbst wenn Sie nicht scheitern, hätte man Ihnen das Leben ein ganzes Stück schwerer gemacht, und darüber würden sich die Leute mit dem aufgeblasenen Ego und dem kurzen Verstand auch schon freuen.« Einen Moment dachte Duellos nach. »Die neuen Schiffe… die ließen sich auch erklären. Unsere Schiffe haben viel durchgemacht, und wie Sie ja selbst gesagt haben, waren sie nicht auf eine lange Lebensdauer ausgelegt. Da ist es nur verständlich, wenn neue Schiffe gebaut werden, die der Allianz länger dienen können. Man könnte auch argumentieren, dass das eine vernünftige Vorgehensweise ist.«

»Könnte man schon«, räumte Geary ein. »Aber wieso wird daraus ein Geheimnis gemacht?«

»Wenn wir mal davon ausgehen, dass keine finsteren Pläne geschmiedet werden, dann kann man argumentieren, dass Ausgaben für das Militär aus der Sicht der Steuerzahler Verschwendung sind. Sogar Korruption kann da im Spiel sein. Aufträge für bevorzugte Werftbesitzer, Bestechung, Vetternwirtschaft — all das Übliche.«

»Meinen Sie, dass das alles da hineinspielt?«, hakte Geary nach.

»Zum Teil sicher. Wenn wir es mit vielen verschiedenen Gruppen und Individuen zu tun haben, dann spielen auch viele der unterschiedlichsten Motive eine Rolle. Ein paar haben die Verträge und die damit verbundene Verschwiegenheit abgesegnet, weil das Ganze für die Verteidigung der Allianz notwendig ist und es auf politisch korrekte Weise erledigt werden muss. Andere handeln aus Habgier, und wieder andere…« Duellos sah zu Geary. »Wer erhält das Kommando über die neuen Schiffe? Das würde uns weiterhelfen. Einige Offiziere haben bekanntlich politische Ambitionen gehegt, zum Beispiel der verstorbene und kaum vermisste Admiral Bloch.«

»Er hatte einen Staatsstreich geplant.«

»Ja«, antwortete Duellos mit einem Schulterzucken. »Wir wissen einfach nicht genug. Aber wenn jemand zum Befehlshaber dieser neuen Flotte ernannt wird, dann wissen wir Genaueres. Und dann werden wir auch sehen, wie sie es rechtfertigen, dass…« Abrupt verstummte er und kniff die Lippen zusammen.

»Wie sie was rechtfertigen?«, fragte Geary verwundert.

Duellos schaute ihn eindringlich an. »Wie sie es rechtfertigen, dass sie nicht Ihnen das Kommando übertragen. Sie sind der beste Gefechtskommandant der Allianz, Sie sind beliebter und angesehener als jeder andere Offizier. Wie soll man es rechtfertigen, dass nicht Sie das Kommando erhalten?«

»Sie scheinen schon eine Antwort auf diese Frage gefunden zu haben.«

»Allerdings. Wenn Admiral Geary nicht da ist, kann ihm auch nicht das Kommando übertragen werden.«

Geary lehnte sich frustriert nach hinten und hielt die Hände verschränkt. »›Nicht da‹ kann viele Gründe haben.«

»Richtig. Aber auch wenn die einzelnen Beteiligten unterschiedliche Gründe haben, warum Admiral Geary nicht da sein sollte, könnten sie sich darin einig sein, dass er nicht da sein sollte.« Duellos nickte zufrieden. »So deute ich diese Situation. Keine gewaltige Verschwörung, die auf ein bestimmtes Ziel hinarbeitet, sondern verschiedene Gruppen, die alle ihre eigenen Pläne verfolgen, von denen sich viele in dem Punkt überlappen, dass unsere Flotte auf diese eine Weise auf ihre Mission geschickt werden musste. Es geht nicht darum, dass Sie allein gegen die Regierung antreten.«

»Danke«, erwiderte Geary. »Ich hatte zu der gleichen Schlussfolgerung kommen wollen, aber weil ich es wollte, habe ich meiner Denkweise misstraut. Sie sind jetzt wenigstens zum gleichen Schluss gekommen wie ich. Daheim sitzen Leute, die mir Steine in den Weg legen wollen, während andere Leute versuchen, zu Macht oder Reichtum zu gelangen. Ein paar von ihnen arbeiten tatsächlich für das Gemeinwohl, aber sie könnten dazu verleitet worden sein, Vorgehensweisen zu unterstützen, die anderen Zwecken dienen. Gut. Dann verraten Sie mir, wie ich Ihnen bei Ihren Sorgen helfen kann.«

»Gegen meine Ängste kann mir niemand beistehen«, sagte Duellos. »Ich gehöre nicht länger an diesen Ort, der einmal mein Zuhause war. Ich werde mich irgendwie anpassen müssen.«

»Sie werden in jeder Streitmacht unter meinem Kommando immer ein Zuhause haben.«

»Ich danke Ihnen vielmals.« Duellos stand auf und salutierte mit ernster Miene. »Allerdings glaube ich nicht, dass meine Frau Ihnen auch dankbar sein wird. Ich werde mich jetzt wieder meinen Aufgaben widmen, Admiral.«

Nachdem Duellos gegangen war, saß Geary da und betrachtete das Sternendisplay. Also nicht ich gegen die Regierung. Aber was ist, wenn eine andere Regierung kommt? Wenn einige der Leute die Kontrolle übernehmen, vor denen mich Rione gewarnt hat? Wenn sie behaupten, ich würde ihr Handeln befürworten, weil sie wissen, dass die Menschen in der Allianz dann Ruhe bewahren? Aber das wird dann nicht mehr die Regierung sein, jedenfalls keine Regierung, wie sie die Menschen der Allianz gewählt haben.

Aber wie viele von ihnen würden das erkennen und mein Vorgehen verstehen, wenn es dazu kommt?

Er hatte einiges über diesen antiken Ort namens Rom auf der Alten Erde gelesen und darüber, was geschehen war, als sich die Führer des Militärs zu den Herrschern über das Land gemacht hatten, was sie dann mit Behauptungen über Unfähigkeit oder Korruption oder Schwäche aufseiten der Regierung gerechtfertigt hatten. Manche Behauptungen waren zutreffend gewesen, doch jedes Mal, wenn die Legionen marschierten, ging es in der Regierung wieder etwas weniger um den Senat und die Römer und dafür umso mehr um jene Führer, deren Macht sich danach bestimmte, wie scharf die Klinge ihrer Schwerter war.

Er durfte nicht zulassen, dass das auch der Allianz widerfuhr.

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