Achtzehn

Die Dauntless bewegte sich mit fast 0,2 Licht durchs All und legte damit nahezu sechzigtausend Kilometer in der Sekunde zurück, doch selbst das genügte nicht, um die vor ihr davoneilenden Enigma-Schiffe einzuholen. Das von ihnen begonnene Bombardement war auf diese Weise erst recht nicht aufzuhalten.

Sie konnten nur dasitzen und mussten tatenlos zusehen, wie die Projektile sich ihren Zielen näherten.

»Admiral, wir empfangen eine Nachricht vom bewohnten Planeten.«

Geary nickte frustriert. »Die wissen noch gar nicht, was auf sie zukommt. Dann wollen wir mal hören, was ›Präsidentin‹ Iceni zu sagen hat.«

Das Bild, das vor ihm auftauchte, zeigte Iceni und einen schroff wirkenden Mann, die beide hinter einem beeindruckenden Schreibtisch aus poliertem Holz saßen. Der Mann erweckte nicht den Eindruck, ein Assistent zu sein, sondern schien eher der Frau ebenbürtig zu sein.

Iceni trug nicht mehr den dunkelblauen Anzug, der als Standardkleidung der Syndik-CEOs fungierte, stattdessen strahlte ihr Erscheinungsbild Macht und Wohlstand aus, ohne damit zu prahlen. Der Mann neben ihr trug eine ungewohnte Uniform, die wohl aus ehemaligen Syndik-Elementen zusammengesetzt worden war. Allerdings hätte er diese Uniform gar nicht benötigt, da er für Geary auch so das Image eines Militärs ausstrahlte.

»Hier spricht Präsidentin Iceni vom unabhängigen Sternensystem Midway.« Dann hielt sie inne.

Der Mann in Uniform fügte knapp hinzu: »Hier spricht General Drakon, Befehlshaber der Bodenstreitkräfte von Midway.«

»Wir freuen uns, die Allianz-Flotte wieder in unserem System begrüßen zu dürfen«, fuhr Iceni fort. »Das gilt vor allem mit Blick auf die gegenwärtigen Umstände und die zuvor zwischen uns getroffenen Vereinbarungen. Wir werden alles in unserer Macht Stehende tun, um unser Sternensystem gegen Invasoren zu verteidigen, und wir bitten Sie nur, uns bei dieser Aufgabe zu unterstützen, bis das Volk von Midway wieder in Sicherheit leben kann. Kommodor Marphissa, die Seniorbefehlshaberin unserer Kriegsschiffe, hat den Befehl erhalten, Ihre Anweisungen zu befolgen, solange die nicht im Widerspruch zu ihren Pflichten stehen, dieses Sternensystem zu verteidigen. Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass das Schlachtschiff in unserer Militärwerft derzeit über einen funktionstüchtigen Antrieb verfügt, jedoch nicht über einsatzbereite Schilde oder Waffen. Hier spricht Präsidentin Iceni. Für das Volk. Ende.«

Rione stand auf einmal wieder neben Geary und sah ihn verwundert an. »Zuvor getroffene Vereinbarungen?«

Er nickte und versuchte, keinen schuldbewussten Eindruck zu machen. »Zuvor getroffene Vereinbarungen«, wiederholte er, als sei das etwas völlig Natürliches.

»Reden wir hier von mehr als dem Friedensvertrag mit der Regierung der Syndikatwelten? Von zusätzlichen Vereinbarungen?«

»Warum fragen Sie mich das?«

Sowohl Desjani als auch Rione warfen ihm skeptische Blicke zu, und mit einem Mal wurde ihm klar, dass er zwischen zwei Fronten geraten war. »Admiral, haben Sie irgendwelche weiteren Vereinbarungen mit den Behörden hier bei Midway getroffen?«

Wieder nickte er. »Ich habe mich bereit erklärt, ihnen dabei zu helfen, sich gegen die Enigmas zu verteidigen, was mit dem Friedensvertrag vereinbar ist.«

»Das ist alles?«, hakte Rione nach. »Diese Kommodor schien auch mehr von uns zu erwarten als nur das, was der Friedensvertrag erforderlich macht.«

»Ja«, sagte Desjani. »Den Eindruck erweckte sie.«

Schlimmer konnte es nicht kommen, als dass Rione und Desjani einer Meinung waren, er müsse irgendetwas falsch gemacht haben.

»Haben Sie etwas gesagt«, fragte Rione, »was diese Präsidentin Iceni so auslegen könnte, dass sie behaupten kann, Black Jack wird sie vor ihrer eigenen Regierung beschützen?«

»Nein, so etwas habe ich nicht versprochen.« Beide musterten ihn noch eindringlicher. »Ich habe allerdings aus guten Gründen zugestimmt, nicht öffentlich zu erklären, dass ich sie nicht vor solchen Bedrohungen beschützen werde.«

Desjani schaute ihn finster an. »Ich hätte Sie niemals allein mit dieser Frau reden lassen dürfen.«

Rione dagegen wirkte gar nicht mehr so verärgert. »Eine vage Zusage ohne ein echtes Versprechen? Ich bin beeindruckt, Admiral. Das können wir bestimmt verwenden.«

»Na, großartig«, warf Desjani ein. »Sie erzählt Ihnen, dass Sie das gut gemacht haben. Damit sollte Ihnen eigentlich klar sein, dass Sie sich völlig verkehrt verhalten haben, nicht wahr?«

Geary hob eine Hand, um für Ruhe zu sorgen. »Später. Jetzt muss ich erst mal den beiden antworten. Wenn unsere Antwort bei ihnen eintrifft, werden sie bereits gesehen haben, dass wir den größten Teil der Enigma-Streitmacht ausgeschaltet haben. Aber dann werden sie auch wissen, dass die Enigmas ihren Planeten bombardieren.«

»Die Oberfläche dieses Planeten besteht aus sehr viel Wasser und nur wenig Land«, erklärte Desjani, die wieder finster dreinschaute. »Selbst wenn die Projektile die Ziele an Land verfehlen und im Wasser landen, werden sie für einige hässliche Wellen sorgen, die all diese kleinen Inseln überspülen dürften. Ich würde ihnen raten, dass sie versuchen sollte, den größten Teil der Bewohner zu evakuieren und irgendwie in den Orbit zu bringen und den Rest dazu zu veranlassen, dass er sich in höher gelegene Gebiete zurückzieht. Aber so wie ich die Syndik-CEOs kenne, werden sie bloß zusehen, dass sie sich selbst in Sicherheit bringen, während sie die Bevölkerung ihrem eigenen Schicksal überlassen.«

Am liebsten hätte er Desjani gefragt, wieso sie die Folgen eines so breit gestreuten planetaren Bombardements voraussagen konnte, doch im letzten Moment hielt er sich davon ab. Die Allianz hatte solche Taktiken übernommen und versucht, durch flächendeckende Bombenteppiche nicht nur die Moral des Gegners zu brechen, sondern auch zivile Ziele zu zerstören. Diese Strategie hatte schon in der Vergangenheit nicht funktioniert, und sie hatte auch der Allianz nicht den erhofften Erfolg eingebracht, und dennoch hatte man sie viel zu lange angewandt. Als diese Maßnahmen durchgeführt wurden, war Desjani eine Flottenoffizierin gewesen. Zwar gehörte das zu den Dingen, über die sie nicht redete, doch er wusste, es hatte sich abgespielt. Es war sicher das Beste, wenn er sich jetzt nicht dazu äußerte. Stattdessen konzentrierte er sich auf den letzten Teil von Desjanis Einschätzung.

»Iceni ist auch nicht davongelaufen, als die Enigmas das letzte Mal angegriffen hatten, wissen Sie noch? Sie blieb auf dem Planeten, obwohl es noch vor unserem Eintreffen so ausgesehen hatte, als würden die Enigmas das gesamte Sternensystem einfach überrennen. Das ist ihre Art. Aber was halten Sie von diesem Drakon?«

Desjani reagierte mit einer gereizten Geste. »Er wirkte echt auf mich. Will sagen, er kam mir nicht wie ein CEO vor.«

»Den Eindruck hatte ich auch. Er wirkt wie jemand, der nicht so einfach seinen Posten aufgeben wird.«

»Wie ist er dann ein CEO geworden?«

»Keine Ahnung«, erwiderte Geary. »Sie haben recht, dass wir das nicht vergessen dürfen. Aber für den Augenblick werde ich das Beste von ihnen denken, weil das momentan nicht schaden kann. Wir können sowieso nur hier sitzen und zusehen, wie sie sich verhalten werden.«

Rione nickte mit ernster Miene. »Wird der Planet nach dem Bombardement noch bewohnbar sein?«

»Das hängt davon ab, wo die Projektile einschlagen werden«, antwortete Geary. Er atmete einmal tief durch, dann betätigte er seine Komm-Kontrollen und begann zu reden: »Hier spricht Admiral Geary. Wir haben unser Bestes gegeben, die Enigma-Streitmacht unschädlich zu machen. Trotzdem sind uns einige Schiffe entkommen, von denen wiederum einige begonnen haben, Ihre bewohnte Welt zu bombardieren. Wir werden weiter die Enigma-Schiffe verfolgen, aber wir können nichts gegen die Projektile unternehmen, die auf Ihre Welt zusteuern. Ich muss Sie auffordern, alle erdenklichen Maßnahmen zu ergreifen, um die Sicherheit Ihres Volks zu gewähren. Auf die Ehre unserer Vorfahren. Geary Ende.«

Da weiter nichts zu tun war als zuzusehen, wie sich die Flugbahnen von Schiffen und Projektilen ihren Zielen näherten, widmete sich ein mürrischer Geary den drei Flotten, die zu den Syndiks gehörten. Oder auch nicht mehr gehörten. Dabei versuchte er sich zu überlegen, was er anstelle des Commanders der Syndiks tun würde. »Wenn sie alles richtig gemacht und die Bewegungen dieser beiden Schweren Kreuzer beim Gasriesen vernünftig aufeinander abgestimmt haben, dann könnten sie die Enigmas zu einem Spießrutenlaufen zwingen, wenn die zu diesem Schlachtschiff oder zu der bewohnten Welt gelangen wollen.«

Desjani schüttelte den Kopf. »Theoretisch ja, aber so gut sind sie nicht.«

»So gut müssen sie aber sein, wenn sie überleben wollen. Wir können hier nicht bleiben. Was immer diese Leute haben, um sich zu verteidigen, wenn wir das System längst verlassen haben, sie werden es klug einsetzen müssen, damit sie nicht vom nächsten Angreifer überrannt werden.«

»Sie können ihnen nicht Ihre Art zu kämpfen beibringen«, wandte Desjani ein. »Abgesehen von der Tatsache, dass wir nicht monatelang in diesem System bleiben können, wird es niemandem gefallen, wenn den Syndiks Kampftaktiken beigebracht werden.«

»Es sieht nicht so aus, als wären das hier noch Syndiks.«

»Wie wollen Sie das beurteilen? Admiral, ich bin mit Ihnen einer Meinung, dass jeder hier besser kämpfen muss als der durchschnittliche Syndik-CEO, aber Sie können ihnen das nicht vermitteln. Bei der Flotte und der Regierung wäre die Hölle los, wenn Black Jack persönlich seine Geheimnisse den Leuten verrät, die immer noch Syndik-Uniformen tragen, selbst wenn sie sich mittlerweile anders nennen.«

Geary nickte, da er wusste, dass sie recht hatte. Er selbst lag aber ebenfalls richtig. Wie also konnte er den Menschen hier helfen, sich gegen Aggressoren zu verteidigen?

Was natürlich voraussetzte, dass es nach dem Bombardement überhaupt noch etwas gab, was verteidigt werden konnte.

»Admiral?« General Charban war auf die Brücke gekommen und zeigte auf das Beobachterdisplay. »Was veranstalten die Spinnenwolf-Schiffe da?«

Seit die Spinnenwölfe sich aus dem Geschehen im System zurückgezogen hatten, war Geary nicht mehr auf den Gedanken gekommen, sich um ihren Verbleib zu kümmern. »Sie befinden sich oberhalb der Ebene des Sternensystems und näher am Stern, weil sie anders als wir nicht kehrtgemacht haben, um gegen die Enigmas zu kämpfen«, antwortete Geary und suchte auf seinem Display nach den Anzeigen der sechs Schiffe. »Und jetzt… Was bei den lebenden Sternen machen die da?«

Desjani warf ihm einen besorgten Blick zu, dann betrachtete sie ebenfalls die Positionen und Bewegungen der Spinnenwölfe. »Sie… sie befinden sich auf einem Abfangkurs zu den Enigma-Projektilen«, murmelte sie ungläubig. »Laut unserem System können sie sie erreichen, weil sie bereits dem inneren Sternensystem näher waren, als die Enigmas aus größerer Entfernung ihr Bombardement gestartet haben. Außerdem können sie besser beschleunigen als wir.«

»Aber wieso?«, fragte Geary in die Runde. »Welchen Sinn ergibt ein Abfangkurs zu kinetischen Projektilen? Die Projektile sind zu schnell und zu klein für eine brauchbare Feuerlösung.«

»Für uns schon«, sagte Desjani, die zu verstehen begann. »Admiral, die Schiffe der Spinnenwölfe sind schneller und vor allem viel wendiger als unsere. Sie waren da, wo sie gebraucht wurden, um ein Bombardement von den Enigma-Schiffen abzufangen. Wenn sie es schaffen, sich hinter die kinetischen Projektile zu setzen und in die richtige Position, dann sollte es unseren Systemen zufolge theoretisch möglich sein, zumindest ein paar Streifschüsse zu schaffen, durch die diese Steine von ihrer Flugbahn abgelenkt werden.«

Rione stand da und bekam vor Staunen den Mund nicht mehr zu. »Sie mischen sich ein. Sie helfen uns zwar nicht beim Kampf gegen die Enigmas, aber sie versuchen, unsere Zivilbevölkerung zu beschützen.«

»Sie sagten doch, die Spinnenwölfe waren da, wo sie gebraucht wurden, um das Bombardement abzufangen, nicht wahr?«, wandte sich Charban an Desjani. »Es scheint, sie wollten absichtlich in der Lage dazu sein, wenn es notwendig werden sollte.«

Desjani verzog frustriert den Mund. »Warum müssen die nur so verdammt hässlich aussehen?«

»Ich bin in zunehmendem Maße davon überzeugt, dass sie das Gleiche über uns sagen«, erwiderte Charban lächelnd. »Sie wissen, dass die Menschen in diesem System unsere Feinde sind oder es zumindest waren, und es hat sie tief beeindruckt, dass wir bereit sind zu kämpfen, um sie zu verteidigen. Vielleicht hat unser Vorgehen hier die Spinnenwölfe dazu veranlasst, auf diese Weise einzugreifen. So verschieden wir auch sind, ist das ein Punkt, bei dem wir beide das gleiche Verständnis von den Dingen haben.«

»Schon eigenartig«, meinte Geary. »Da unterscheiden sich die Spinnenwölfe stärker von uns als jede andere nichtmenschliche Spezies, und ausgerechnet mit ihnen teilen wir gleich mehrere Gemeinsamkeiten. Die Enigmas und die Bärkühe kommen uns anatomisch viel näher, aber deren Denkprozesse sind viel fremdartiger für uns.«

»Niemand hat je behauptet, dass das Universum leicht zu verstehen ist«, sagte Charban, »oder dass es all unsere Erwartungen erfüllen wird, anstatt sie auf den Kopf zu stellen.«

»Neunzehn Minuten, bis die Spinnenwölfe die Projektile erreicht haben«, warf Desjani ein. »Sehen Sie mal, ihre Schiffe fliegen nicht mehr in Formation. Sie passen ihre Vektoren an, um sich hinter verschiedene Steinhaufen zu setzen, die von unterschiedlichen Enigma-Schiffen gestartet wurden.«

Hatte zuvor noch Resignation geherrscht, war die Brücke mit einem Mal von Anspannung erfüllt. Geary verfolgte mit, wie sich die Flugbahnen der Spinnenwolf-Schiffe und die der Projektile einander näherten, und fragte sich, ob die Spinnenwölfe tatsächlich in der Lage waren, ein so komplexes Flugmanöver zu bewältigen.

»Wunderschön«, flüsterte Desjani, als sie sah, mit welcher Eleganz die Spinnenwolf-Schiffe ihren Kurs änderten. »Sogar ihre Flugmanöver haben etwas Betörendes.«

»Unsere Systeme schätzen, dass die Spinnenwolf-Schiffe in zwei Minuten in Waffenreichweite sein werden«, meldete Lieutenant Yuon.

Geary überprüfte die Entfernungen. Zwölf Lichtminuten bis zu dem Punkt, an dem die Spinnenwölfe und die kinetischen Projektile zusammentreffen würden. Es war durchaus möglich, dass die Spinnenwölfe längst ihren Einsatz beendet hatten und dass alles bereits vorüber war, noch bevor man auf den Allianz-Schiffen überhaupt den Beginn ihrer Aktion zu sehen bekam.

Auf der Brücke herrschte gebanntes Schweigen, jeder starrte auf das Display vor ihm. Geary bemerkte, dass er unbewusst so leise atmete, wie er nur konnte, als könnte irgendein Geräusch sich irgendwie auf die Ereignisse auswirken, die sich weit weg von ihnen abspielten. Es war der menschliche Instinkt, das Erbe der Jäger einer fernen Vergangenheit auf einer Welt, die von diesem Ort unvorstellbar weit entfernt war — ein Erbe, das dennoch nach wie vor das Handeln diktierte.

»Wann werden wir es wissen?«, erkundigte sich Rione mit leiser Stimme, die dennoch so laut widerzuhallen schien, dass sie der Stille auf der Brücke ein jähes Ende setzte.

»Noch drei Minuten, bevor wir überhaupt etwas zu sehen bekommen«, antwortete Lieutenant Yuon.

Es waren sehr lange drei Minuten, die damit endeten, dass überall auf der Brücke ungläubig nach Luft geschnappt wurde, als die ersten Bilder zu sehen waren. »Da sind sie«, sagte Desjani. Ihre Augen leuchteten vor Bewunderung. »Sie haben die perfekte Position eingenommen! Genau hinter ihren Zielen. Nicht ein Schuss kann danebengehen. Die relative Geschwindigkeit ist so niedrig wie nur möglich!«

»Aber ihnen bleibt nur ein kurzes Zeitfenster zum Feuern, sonst fliegen ihnen die Steine davon.« Geary sah mit an, wie die Spinnenwölfe das Feuer eröffneten, und wünschte ihnen, dass jeder Schuss ins Ziel ging, obwohl er wusste, dass sie schon vor über zehn Minuten ihre Ziele getroffen oder verfehlt hatten und dass daran nichts mehr zu ändern war.

»Eins, zwei, vier, sieben«, rief Lieutenant Yuon, als die Systeme meldeten, wie viele kinetische Projektile von ihrer ursprünglichen Flugbahn abgelenkt worden waren. »Zwölf, neunzehn, sechsundzwanzig, achtunddreißig.«

Geary wandte den Blick nicht von seinem Display ab. Achtunddreißig von insgesamt zweiundsiebzig Steinen.

»Einundfünfzig«, meldete Lieutenant Yuon. Die Treffer erfolgten nun noch schneller, da die Spinnenwölfe ihre Position noch weiter verbesserten und somit besser zielen konnten. Aber die Steine entfernten sich kontinuierlich von ihnen und gerieten allmählich außer Waffenreichweite. »Sechzig, vierundsechzig, achtundsechzig, neunundsechzig!«

»Macht schon!«, platzte Geary heraus. »Nur noch drei!«

»Siebzig… einundsiebzig.«

Die Spinnenwolf-Schiffe feuerten so schnell, wie sie nur konnten, aber es war nicht zu übersehen, dass die Zielgenauigkeit drastisch abfiel, je weiter sich die Ziele von ihnen entfernten. Wieder war die Brücke in gebanntes Schweigen versunken, alle Augen waren auf das eine Symbol gerichtet, das das letzte, noch auf den bewohnten Planeten zurasende Projektil kennzeichnete.

»Verdammt«, murmelte Desjani.

»Sie haben immer noch eine Chance«, hielt Geary dagegen.

Dann endete das Sperrfeuer der Spinnenwölfe völlig abrupt. Geary konnte es nicht fassen. So dicht vor einem vollständigen Erfolg, aber offenbar hatten die Spinnenwölfe aufgegeben…

In diesem Moment ging von jedem der sechs Schiffe ein Feuerball aus, da sie alle Waffen gleichzeitig abfeuerten, die auf den Punkt gerichtet waren, an dem das Projektil vor ihnen her durchs All raste.

»Zweiundsiebzig«, meldete Lieutenant Yuon mit zitternder Stimme.

Desjani lachte und sah Geary an, als wollte sie ihn am liebsten umarmen und küssen. Sie begnügte sich aber damit, ihn mit der Faust gegen die Schulter zu knuffen.

»Den Vorfahren sei Dank! Und den Spinnenwölfen sei Dank!«

»Madam Gesandte«, sagte Geary, dem vor Erleichterung ein wenig schwindlig war, »und General Charban, bitte übermitteln Sie den Spinnenwölfen, dass wir ihnen für ihr Eingreifen zutiefst dankbar sind.«

Im Gegensatz zu allen anderen auf der Brücke schaute Rione besorgt drein. »Und wenn die Enigmas weitere Projektile abwerfen?«

»Jetzt sind die Spinnenwölfe in einer noch besseren Position, um die abzufangen«, sagte Geary. »So können sie die nächsten Steine noch präziser vom Kurs abbringen. Wir haben noch immer Grund zur Sorge, wen oder was die Enigmas noch angreifen wollen, aber solange die Spinnenwölfe zwischen ihnen und dem Planeten bleiben, werden keine Projektile mehr durchkommen.«

Die Flottensensoren hatten die Flugbahnen der zweiundsiebzig Projektile weiter verfolgt, doch keine von ihnen trug noch ein Warnsymbol, da die Steine in Richtungen davontrudelten, die sie weit an ihrem ursprünglichen Ziel vorbeiführen sollten.

»Ein Punkt für die Diplomatie«, sagte Charban.

Die immer noch zutiefst erleichterte Desjani lächelte, als sie die Bemerkung hörte. »General, ich würde das Ganze als die Folge einer lohnenden Investition in Form einer Kiste Klebeband betrachten.«

»Captain, einige Enigma-Schiffe vollziehen erhebliche Änderungen ihrer Vektoren«, warf Lieutenant Castries in dem Moment ein.

Alle sahen sie gleich wieder auf ihr Display. »Gut, dass Sie das Geschehen da draußen im Auge behalten haben, während Ihre Vorgesetzten sich gegenseitig auf die Schultern klopfen«, sagte Desjani zu Castries. »Zwölf Schiffe?«

»Die zwölf, die den Planeten bombardiert haben«, bestätigte Lieutenant Yuon.

Diese Enigma-Kriegsschiffe tauchten tief unter die Ebene des Sternensystems ab und nahmen Kurs auf die Allianz-Schiffe, die ihnen und den übrigen Enigma-Schiffen gefolgt waren.

»Ein Selbstmordkommando?«, überlegte Geary. »Wollen sie noch einmal versuchen, zu den Hilfsschiffen oder den Sturmtransportern zu gelangen?«

Zu seiner Überraschung antwortete General Charban darauf. »Es sind nur diese zwölf, die eine Kursänderung vorgenommen haben, Admiral. Als wir das Gebiet der Enigmas durchquert haben, konnten wir herausfinden, dass sie keine geeinte Spezies sind. Diese Streitmacht muss sich aus Schiffen verschiedener Enigma-Nationen zusammensetzen. Ich würde vermuten, dass eine dieser Nationen zu dem Schluss gekommen ist, mehr als genug getan zu haben, um der Vereinbarung gerecht zu werden, die von ihnen den Angriff auf uns Menschen verlangt. Sie haben versucht, die bewohnte Welt zu bombardieren, es hat nicht geklappt, und jetzt kehren sie heim.«

»Es ist durchaus möglich«, räumte Desjani ein. »Mit diesem Manöver haben sie auf jeden Fall ihre unmittelbaren Verfolger abgeschüttelt.« Die Allianz-Kriegsschiffe, die diese Enigmas jagten, wurden von dem abrupten Kurswechsel ihrer Beute überrascht. Aufgrund der hohen Geschwindigkeit hatten sie Mühe, ihre eigenen Vektoren weit genug zu verändern, um die zwölf Enigma-Schiffe abzufangen, ehe die an ihnen vorbei in Richtung Sprungpunkt entkommen konnten. »Admiral, wenn sich ein paar Zerstörer und Schwere Kreuzer von der Hauptflotte lösen, können sie diese Schiffe erwischen.«

Geary sah mit an, wie die zwölf Enigma-Schiffe an ihren Verfolgern vorbeirasten. Lediglich das Letzte von ihnen geriet in den Beschuss der Allianz-Schiffe und wurde in Stücke gerissen, während die übrigen elf weiterflogen und entkamen.

Sein Blick wanderte zum Rest des Schlachtfelds, wo kampf- und flugunfähig geschossene Enigma-Kriegsschiffe der Selbstzerstörung zum Opfer fielen, um auf keinen Fall Geheimnisse dieser Spezies ans Licht kommen zu lassen. Den überlebenden Crewmitgliedern an Bord wurde damit ein jähes Ende bereitet. Nur neunzehn weitere Enigma-Schiffe waren übrig, von denen fünf weiter auf das nicht einsatzbereite Schlachtschiff und die Werft in der Nähe des Gasriesen zuhielten, während die übrigen vierzehn das Hypernet-Portal zum Ziel hatten. Er musste an die Bärkühe denken, die bis zum Tod kämpften und den Selbstmord wählten, um einer Gefangennahme zu entgehen. »Nein.«

»Nein?«, wiederholte Desjani. »Captain Armus kann genügend Kreuzer und Zerstörer entbehren, die sich um diese Enigmas kümmern, und es bleibt ihm immer noch eine ausreichende Zahl an Schiffen, um seine kostbaren Einheiten vor anderen Enigmas zu beschützen, die noch mal versuchen könnten, sie zu rammen.«

»Nein«, beharrte Geary. »Es reicht. General, übermitteln Sie diesen elf Enigma-Schiffen noch einmal unser Angebot, mit ihnen zu verhandeln. Und ergänzen Sie eine Anmerkung, dass wir ihnen gezeigt haben, was geschehen wird, wenn sie uns weiter bekämpfen wollen. Und machen Sie dann noch einmal deutlich, dass wir bereit sind, sie in Ruhe zu lassen, wenn wir von ihnen in Ruhe gelassen werden.«

»Ja, Admiral«, entgegnete Charban.

Seufzend sagte Desjani zu Geary: »Ich schätze, wir haben genug von ihnen getötet. Wenn ein paar von ihnen es zurück nach Hause schaffen, können sie den anderen erzählen, was mit dem Rest ihrer Flotte geschehen ist. Dann überlegen sie es sich vielleicht noch einmal, bevor sie wieder so etwas versuchen.«

»Genau das ist meine Absicht«, sagte er, doch ihr Blick verriet ihm, dass sie wusste, es war nicht der einzige Grund dafür gewesen, weiteres Blutvergießen zu vermeiden.

Auf seinem Display verfolgte er die Bewegungen der Schiffe im System mit und fühlte sich dabei unerträglich müde. Wenn sich vorläufig nichts änderte, würden Stunden oder sogar Tage vergehen, ehe sich irgendetwas ereignen konnte. Das war ihm nur allzu bewusst. Falls aber eines der neunzehn Enigma-Kriegsschiffe, die weiter auf ihre Ziele zuflogen, einen abrupten Vektorwechsel vollzog, dann mochte es nur eine Frage von Minuten sein, bis eine Reaktion erforderlich wurde. Sein Blick wanderte zu den Warnsymbolen, die bei den Zerstörern und vereinzelt auch bei den Leichten Kreuzern der Verfolgergruppe auf den zu geringen Bestand an Brennstoffzellen aufmerksam machten. Aber die Leichten Kreuzer und Zerstörer konnten die Enigmas ohnehin nicht einholen, solange die unverändert schnell vor ihnen davonflogen, und sie hätten allenfalls bei einer sinnlosen Verfolgungsjagd die letzten Reserven aufgebraucht. »An alle Einheiten der Verfolgergruppe: Hier spricht Admiral Geary. Reduzieren Sie sofort Ihre Geschwindigkeit auf 0,15 Licht. Verfolgen Sie weiterhin die Enigma-Kriegsschiffe und eröffnen Sie das Feuer, sobald sich eine Gelegenheit dazu bietet.«

Desjani schaute wieder missmutig drein.

»Wir können sie nicht einholen«, sagte er zu ihr.

»Das weiß ich.«

»Könnte sein, dass die Syndiks sie zu uns zurückschicken.«

Ihre Miene hellte sich ein wenig auf. »Ja, das könnte sein. Mit einem Schlachtschiff und zwanzig weiteren Kriegsschiffen sollte sogar Boyens in der Lage sein, mit vierzehn Enigma-Schiffen fertigzuwerden.«

Geary nickte und überlegte, dass sie inzwischen von Boyens hätten hören müssen, wenn er eine Nachricht an die Allianz-Flotte geschickt hätte. Aber offenbar wollte er sich zumindest für den Augenblick wortkarg geben.

Der Kampf war noch nicht vorüber, und auch die Verfolgungsjagd dauerte noch an, dennoch lockerten die Schiffe der Verfolgergruppe ihren Gefechtsstatus, damit die Crewmitglieder Zeit bekamen, sich auszuruhen und eine anständige Mahlzeit zu sich zu nehmen. Weit hinter ihnen und noch immer in der Nähe des von Pele herführenden Sprungpunkts bewegte sich die Hauptflotte kontinuierlich weiter ins System hinein, reagierte aber nicht auf die elf fliehenden Enigma-Schiffe auf ihrem Weg zum Sprungpunkt, die sich außerhalb der Reichweite der Allianz-Waffen bewegten. Diese Enigmas hatten offenbar tatsächlich genug vom Kämpfen, ganz so wie Charban es vermutet hatte.

Etliche Stunden später traf eine weitere Nachricht von der bewohnten Welt ein, wieder waren Iceni und Drakon auf dem Bild zu sehen. Beiden gelang es, überzeugende Ruhe auszustrahlen, als wären sie nicht in letzter Sekunde völlig überraschend vor dem sicheren Tod bewahrt worden. »Wir stehen abermals in Ihrer Schuld, Admiral Geary. Ich weiß nicht, wer Ihre Verbündeten sind, aber ihnen sind wir ebenfalls zu großem Dank verpflichtet.«

»Wartet nur ab, bis ihr sie zu sehen bekommt«, murmelte Desjani.

»Meine Kriegsschiffe«, fuhr Iceni fort, »werden sich den Enigmas widmen, die es auf mein Schlachtschiff abgesehen haben. Ich habe keinen Einfluss auf die Flotte nahe dem Hypernet-Portal, aber ich kann Ihnen sagen, dass Sie nicht davon ausgehen können, dass diese Flotte in unserem Interesse handeln wird. Ihr Befehlshaber CEO Boyens ist Ihnen ja bekannt. Wenn Sie ihm Ihre Befehle klarmachen, wird er es sich womöglich anders überlegen, ob er ihnen zuwiderhandeln soll. Es ist wichtig, Boyens zu verstehen zu geben, dass er nicht die Kontrolle über dieses System besitzt und dass er nicht vorschreibt, was hier zu geschehen hat. Für das Volk, Iceni Ende.«

»Diesmal hat sie General Drakon gar nicht zu Wort kommen lassen«, stellte Desjani fest.

»Vielleicht hatte er ja nichts dazu zu sagen.«

»Das hält manche Leute trotzdem nicht vom Reden ab«, meinte sie grinsend. »Allerdings sieht er auch aus wie jemand, der nur dann den Mund aufmacht, wenn es etwas Wichtiges zu sagen gibt. Ist Ihnen aufgefallen, dass sie ihre Einheiten Kriegsschiffe genannt hat, nicht mobile Streitkräfte? Und dass sie ›mein Schlachtschiff‹ gesagt hat?«

»Ja. Mal sehen, wie Lieutenant Iger und Gesandte Rione das einschätzen.« Er überlegte, wie er vorgehen sollte. »Iceni will, dass ich Boyens sage, was er tun und lassen soll.«

»Boyens soll wissen, dass Sie in diesem Sternensystem die Nummer eins sind«, stimmte sie ihm zu. »Das hilft uns genauso weiter wie ihr, nicht wahr?«

»Nicht, wenn wir dadurch zwischen sie und Boyens geraten.« Er dachte noch eine Weile nach, dann tippte er auf seine Komm-Kontrolle. »CEO Boyens, hier spricht Admiral Geary. Die kleine Gruppe Enigma-Kriegsschiffe, die auf dem Weg zum Gasriesen ist, wird von den Streitkräften in dieser Region in Empfang genommen. Die verbliebenen vierzehn Enigma-Schiffe, die Kurs auf Sie genommen haben, müssen aufgehalten werden, damit es ihnen nicht gelingt, das Hypernet-Portal mit der Hilfe von Waffen zu zerstören oder es zu rammen und so unbrauchbar zu machen. Meine Schiffe werden sie weiter verfolgen und jedes Enigma-Schiff angreifen, das in die Reichweite unserer Waffen gerät. Auf die Ehre unserer Vorfahren, Geary Ende.«

Es war nicht erkennbar, was Boyens von den ihm zugeschickten Mitteilungen hielt, da er auf nichts reagierte. Seine Flotte befand sich nach wie vor im gleichen Orbit dicht beim Hypernet-Portal. Kommodor Marphissa dagegen meldete sich einige Male bei Geary. Zunächst unterrichtete sie ihn von dem geplanten Vektor ihrer Flotte, die die fünf Enigma-Kriegsschiffe abfangen sollte. Dann brachte sie ihn jedes Mal auf den neuesten Stand, wenn eine Kursanpassung notwendig wurde. Geary reagierte mit Vorschlägen, wie sie die beiden Schweren Kreuzer am Gasriesen am besten in Stellung bringen sollte. Dabei versuchte er sich so auszudrücken, dass es nicht nach einem Befehl klang, aber immer noch nach einem Ratschlag, den sie tunlichst befolgen sollte. »Die Kommodor weiß, was sie tut«, merkte Geary an. »Aber es scheint ihr an Erfahrung zu mangeln.«

»Erfahrung darin, wie wir kämpfen«, ergänzte Desjani. »Sehen Sie sich nur an, wie sie Ihnen ständig aktualisierte Daten liefert. Das ist der Kommando- und Kontrollstil der Syndiks. Aber sie ist davon abhängig, dass man ihr sagt, was sie tun soll. Ihre Manöverlösungen sind technisch durchweg gut, auch wenn sie eleganter ausfallen könnten.«

»Sie sind von den Spinnenwölfen verwöhnt.« Noch so eine Sache, von der er nie erwartet hätte, dass sie über seine Lippen kommen würde.

»Da haben Sie verdammt recht.« Desjani verzog den Mund zu einem flüchtigen Grinsen. »Wir werden die Syndiks… die ehemaligen Syndiks dabei beobachten können, wie sie gegen einen anderen Kontrahenten kämpfen. Diese Gelegenheit habe ich noch nie gehabt. Aber ich muss Sie warnen. Wenn ich sehe, wie diese Kommodor gegen die Enigmas dort kämpft, wäre sie nicht in der Lage, mit dem, was sie hat, etwas gegen Boyens’ Flotte auszurichten.«

»Aber Sie halten es nach wie vor für verkehrt, wenn ich versuche, ihnen irgendetwas beizubringen.«

»Ja, ja, ja. Habe ich meine Meinung klar zum Ausdruck gebracht?«

»Das haben Sie«, sagte Geary. Solange er keine guten Argumente hatte, mit denen er sich gegen sie behaupten konnte, würde er das Thema nicht mit Desjani besprechen können.

Es dauerte weitere sechs Stunden, ehe Kommodor Marphissas Flotte die Enigmas erreicht hatte. Kurz vor dem eigentlichen Zusammentreffen teilten sich die zwei Schweren, die sechs Leichten Kreuzer und die zwölf Jäger auf, damit sie die verstreuten gegnerischen Schiffe erreichen konnten. Zwei der fünf Schiffe wurden gefechtsunfähig geschossen, ein drittes verlor die Steuerkontrolle und trudelte von seinem ursprünglichen Kurs abgelenkt durchs All.

Die Flotte formierte sich zum Teil, wobei drei Leichte Kreuzer die Verfolgung des beschädigten Enigma-Schiffs aufnahmen, während der Rest eine Schleife flog, um die beiden Schiffe zu jagen, die weiter auf den Gasriesen zuhielten. Mit einer Mischung aus Wut und Hilflosigkeit sah Geary mit an, wie diese beiden Enigma-Schiffe kinetische Projektile auf das Orbitaldock und das Schlachtschiff abfeuerten. Dann zogen sie abrupt nach unten weg, um einem Zusammentreffen mit den letzten beiden Schweren Kreuzern zu entgehen, die ihnen aus der Richtung des Orbitaldocks entgegenkamen.

»Fünfunddreißig Minuten, bis die Projektile die Orbitaleinrichtung und das…« Lieutenant Castries unterbrach sich kurz. »Ähm… es bewegt sich.«

Geary blinzelte, als er auf sein Display sah. Das Schlachtschiff hatte den Hauptantrieb teilweise gestartet, war aber weiterhin fest mit dem Dock verbunden. »Die werden das Dock in Stücke reißen. Das ist solchen Belastungen nicht gewachsen.«

Doch vor ihren Augen wurde der Antrieb des Schlachtschiffs weiter hochgefahren, ohne dass ein Teil des Docks herausbrach oder das Schiff selbst zerrissen wurde. »Die Schiffe von Captain Smythe sind noch fast eine Lichtstunde hinter uns«, sagte Geary. »Haben wir hier irgendeinen Ingenieur, der uns erklären kann, was wir da sehen?«

»Maschinenraum«, wandte sich Desjani an den betreffenden Wachhabenden. »Ich brauche jemanden, der Erfahrung mit strukturellen Belastungen bei großen Orbitalanlagen hat. Derjenige soll sofort Kontakt mit der Brücke aufnehmen.«

Eigentlich war es gar nicht so verwunderlich, dass sich kurz darauf Master Chief Gioninni bei ihnen meldete. »Ja, Captain?«

»Sie haben auf großen Orbitalanlagen gearbeitet, Master Chief?«

»Ich habe auf allem gearbeitet, Captain. Was brauchen Sie denn?«

Sie zeigte auf die Displays. »Können die so was hinbekommen?«

Gioninni sah sich an, wie das Schlachtschiff beharrlich die weitaus größere und schwerere Orbitaleinrichtung von der Stelle bewegte. »Sie tun es, Captain, auch wenn sie eigentlich nicht dazu in der Lage sein sollten.« Der Master Chief verzog das Gesicht, während er weiter beobachtete, was auf seinem Display vor sich ging. »Wissen Sie, was die gemacht haben müssen, Captain? Die müssen herausgefunden haben, wo sich die Belastung sammelt, wenn das Schlachtschiff an der Konstruktion zu ziehen beginnt. Dann haben sie die entsprechenden Stellen verstärkt, damit die das aushalten.«

»Dazu sind sie in der Lage?«, wunderte sich Desjani.

»Sie haben alles da, was sie dafür benötigen, Captain. Das ist eine Schiffswerft, zwar keine von den irrsinnig großen wie die, die wir bei Sancere zerlegt haben, trotzdem ist und bleibt das eine Werft. Das bedeutet, es gibt hier die industrielle Ausstattung und die Materialien, um das zu konstruieren, was sie benötigen. Das Einzige, was sie sonst noch brauchen, ist genügend Zeit.«

»Das Bombardement hat erst vor zehn Minuten begonnen«, wandte Geary ein.

»Ja, Sir. Aber da kein Teil aus dem Dock herausgerissen worden ist, als sie mit dieser Aktion begonnen haben, müssen sie sich so was schon vor einiger Zeit überlegt und verwirklicht haben.«

»Danke, Master Chief«, sagte Desjani.

Gioninni salutierte flink, dann verschwand sein Bild.

»Die Enigmas sind hier vor einem Tag aufgetaucht«, überlegte Geary, »also hatten die Syndiks oder ehemaligen Syndiks auf der Orbitalwerft höchstens diesen einen Tag Zeit, um einzusehen, dass sie die Werft von der Stelle bewegen müssen, und um die entsprechenden Vorkehrungen zu treffen. Da hat jemand sehr vorausschauend gehandelt und Initiative gezeigt.«

»Eine schöne Sache bei einem Allianz-Offizier«, meinte Desjani, »aber nicht so schön bei einem Syndik. Lieutenant Castries, können die das Ding weit genug aus dem Weg schaffen, dass es nicht von den Steinen getroffen wird?«

»Sie haben sie noch so gut wie gar nicht von der Stelle geschafft«, antwortete Castries. »Unsere Systeme müssen zunächst die Masse der Werft schätzen, dann müssen sie schätzen, welchen Schub das Schlachtschiff leisten kann. Da ist eine große Ungewissheit im Spiel, Captain.«

»Hört sich an, als würde die endgültige Antwort ›vielleicht‹ lauten«, erwiderte er.

»Ja, Admiral. ›Vielleicht‹, aber bis zu ein paar Nachkommastellen durchgerechnet.«

»Captain«, meldete sich Lieutenant Yuon zu Wort. »Die Projektile der Enigmas sind auf die Stelle konzentriert, an der sich die Werft und das Schiff befinden, wenn keines von beiden Objekten von der Stelle bewegt wird. Wir arbeiten dagegen mit etwas mehr Spielraum, weil wir dann sicherstellen, dass ein paar Steine immer ins Ziel treffen. Die Enigmas feuern ihre Steine so auf einen Punkt konzentriert ab, dass das Ziel sich tatsächlich gar nicht bewegen darf, wenn es getroffen werden soll. Das heißt wiederum, sie müssen ihre Position gar nicht so sehr verändern, und sie werden trotzdem verfehlt.«

»Fünfzehn Minuten bis zum Einschlag… wenn die sich bis dahin nicht weit genug entfernt haben«, meldete Castries.

Zunächst herrschte einige Aufregung, da die beiden überlebenden Enigmas aus der kleinen Gruppe nicht nur versuchen mussten, Kommodor Marphissas Flotte zu entkommen, sondern auch den Allianz-Schiffen, die ihre Verfolgung nicht abgebrochen hatten. Sie schafften es an den Syndiks vorbei, doch eines von ihnen wurde von Gearys Schiffen getroffen und in Stücke gerissen. Das andere jagte mit maximaler Beschleunigung auf den Sprungpunkt zu und schuf damit einmal mehr einen Abstand zu seinen Verfolgern, den die nicht mehr wettmachen konnten.

Damit blieb nur noch das Drama der sich annähernden kinetischen Projektile.

Geary war daran gewöhnt, Schiffe zu beobachten, die mit Tausenden Kilometern pro Sekunde unterwegs waren, jetzt dagegen hatte er es mit einem Schlachtschiff zu tun, das sich abmühte, eine gewaltige Werft innerhalb von fünfzehn Minuten ein paar Kilometer zu schleppen. Wenn das nicht gelang, würden die kinetischen Projektile eine verheerende Vernichtung anrichten.

»Es könnte klappen«, meldete Castries, als noch fünf Minuten verblieben. »Aber es wird knapp werden.«

Das wurde es dann auch. Die Steine rasten an der Werft und dem Schlachtschiff vorbei, ohne Schäden anzurichten, dann durchflogen sie die oberen Regionen der Atmosphäre des Gasriesen und irrten anschließend weiter durchs All, wobei der Kontakt mit dem Planeten dafür sorgte, dass jeder Stein in eine andere Richtung davonflog.

»Geschätzte Entfernung zum nächsten Stein liegt bei fünfhundert Metern«, meldete Lieutenant Yuon. »Plus minus hundert Meter.«

»Da waren aber irgendwelche Vorfahren sehr aufmerksam«, meinte Desjani. »Merken Sie sich eine Lektion aus diesem Vorfall, Lieutenant. Wenn Sie Steine gegen ein im All befindliches Objekt einsetzen, dann ist es egal, ob Sie um einen Meter oder um hundert Kilometer verfehlen. Sie haben es in beiden Fällen verfehlt, und dem Ziel ist es egal, wie knapp es noch mal davongekommen ist.«

Das noch im Bau befindliche Schlachtschiff hatte den Hauptantrieb abgeschaltet, die deutlich schwächeren Steuerdüsen der Orbitaleinrichtung waren gezündet worden, um sie wieder in einen stabilen Orbit zu bringen, der nun ein wenig weiter vom Gasriesen entfernt war.

Damit blieben immer noch die vierzehn Enigma-Kriegsschiffe, die unverändert auf das Hypernet-Portal zuflogen. Eineinhalb Stunden nachdem das kinetische Bombardement die Orbitalwerft verfehlt hatte, sahen diese Enigmas, was sich abgespielt hatte. Es schien, als ob damit für sie eine Entscheidung gefallen war. Abermals vollzogen die feindlichen Schiffe ein Wendemanöver, das kein von Menschen erbautes Schiff hätte leisten können. Dennoch konnten Gearys Streitkräfte eines von ihnen eher zufällig abschießen und ein zweites so stark beschädigen, dass sich die Besatzung zur Selbstzerstörung entschloss. »Wenn die weiter wie die Verrückten hin und her fliegen«, sagte Desjani, »wird niemand eine Chance haben, den Rest zu vernichten. Dazu müssten Sie schon ein paar von Armus’ Schiffen losschicken.«

»Nein.« Geary hatte nicht nur für diesen Tag genug Tod und Vernichtung miterlebt, er war auch besorgt, die Enigmas könnten wieder versuchen, eines seiner Schiffe zu rammen, wenn es ihnen zu nahe kam. Ein paar seiner Schiffe zu riskieren, nur um eine Handvoll Enigmas zu erledigen, forderte unter Umständen einen zu hohen Preis, nachdem die Enigmas bereits so vernichtend geschlagen worden waren.

Die Flotte von CEO Boyens nahe dem Hypernet-Portal hatte sich noch immer nicht gerührt. Desjani sah, wie Geary diese Streitmacht mit finsterem Blick betrachtete. »Boyens hielt es wohl für klug, keine Kratzer an seinen Schiffen zu riskieren«, monierte sie.

»Kurzfristig betrachtet mag das klug gewesen sein«, erwiderte Geary. »Langfristig bin ich darüber aber massiv verärgert, auch wenn ich so etwas bereits erwartet hatte. Jetzt muss er sich mit mir herumplagen. Ich weiß, die Leute, die dieses Sternensystem führen, waren früher auch einmal Syndik-CEOs, aber die haben ihre Schiffe losgeschickt, um zu kämpfen, während er bloß abgewartet hat, was hier passiert.«

»Ich bin auf seine erste Mitteilung an unsere Adresse gespannt«, meinte Desjani. »Und erst recht auf Ihre Erwiderung. Ach ja, meinen Glückwunsch.«

»Wofür?«, fragte er, da er keine Ahnung hatte, was sie eigentlich meinte.

»Ähm… zum Sieg? Zur Rettung eines Sternensystems? Ich schlage vor, Sie ziehen einige von Armus’ Schweren Kreuzern und Zerstörern ab, damit sie den überlebenden Enigmas bis zum Sprungpunkt hinterherfliegen und darauf achten, dass niemand auf dumme Gedanken kommt, bevor der Sprungpunkt erreicht ist. Allerdings glaube ich, nicht mal die lebenden Sterne werden mich für anmaßend und voreilig halten, wenn ich Ihnen schon jetzt gratuliere.«

»Danke, Tanya.« Im Moment konnte er sich einfach nicht wie ein Sieger fühlen. Stattdessen verspürte er nur unendliche Erschöpfung, während er den überlebenden Enigmas zusah, wie sie fluchtartig das System verließen.

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