Drei

Er warf Rione einen aufgebrachten Blick zu, da ihn die Richtigkeit ihrer Aussage ebenso ärgerte wie sein eigenes Unvermögen, von selbst an diesen Punkt zu denken. »Ich kann mich nicht mit allen Dingen gleichzeitig beschäftigen.« Eine Ausrede. Warum verfiel er auf eine Ausrede, anstatt sich Gedanken über eine Antwort zu machen?

Rione sah ihn von oben herab an. »Ein kluger Führer, der Sie für gewöhnlich auch sind, versucht gar nicht erst, alles selbst zu erledigen. Ich schlage vor, Sie beauftragen jemanden, dem Sie vertrauen, eine Einschätzung zu liefern, was die Enigmas wahrscheinlich tun werden.«

»Ich kann Tanya nicht dafür abstellen.«

»Ist Ihr Captain der einzige andere Mensch in Ihrem Universum, Admiral? Gibt es in dieser Flotte außer Ihnen beiden niemanden, der vernünftig denken kann?«

Geary reagierte mit einem schiefen Grinsen. »Vielleicht.« Er streckte den Arm aus, um eine Komm-Verbindung herzustellen, aber bevor er die Taste betätigte, hielt er inne. »Diese Kriegsgefangenen, die wir bei Dunai eingesammelt haben.«

Rione nickte, ihre Miene verriet wieder keine Gefühlsregung. »Die vielen hochrangigen Offiziere, die Ihnen seit ihrer Rettung das Leben schwermachen?«

»Ja. Ich möchte eine Antwort auf diese Frage: Warum hat die Regierung mir befohlen, sie zuerst abzuholen, anstatt mich das erledigen zu lassen, wenn wir uns auf dem Heimweg befinden?«

»Da könnte ich nur spekulieren«, sagte sie nach einer kurzen Pause.

»Dann spekulieren Sie.«

»Es gibt ganz bestimmt einige Leute, die froh wären, wenn diese Senioroffiziere niemals zurückkehren würden, weil dann die gegenwärtigen hochrangigen Offiziere Ruhe vor ihnen hätten.«

Gearys Miene verfinsterte sich. »Dann wären die gleichen hochrangigen Offiziere also auch froh, wenn diese Flotte nicht zurückkehren würde?«

Diesmal erwiderte sie nichts, während sie starr wie eine Statue dastand.

»Wir werden heimkehren«, fuhr er nach einer Weile fort. »Und zwar mit jedem Einzelnen dieser Offiziere, solange sie nichts unternehmen, was mich dazu veranlasst, ihre Erschießung anzuordnen.« Erst als er ausgesprochen hatte, wurde ihm bewusst, dass er damit auch Riones Ehemann Commander Benan einbezogen hatte.

Rione entging nicht, dass er für einen Sekundenbruchteil das Gesicht verzog. »Sie wollen niemanden erschießen lassen.«

»Wenn es notwendig sein sollte, werde ich das anordnen. Das wissen Sie.«

Sie betrachtete ihn nachdenklich. »Wissen Sie, wie viele Leute der Ansicht sind, dass, wenn man große Macht besitzt und große Verantwortung trägt, man tun und lassen darf, was man möchte? Dass man dann nie wieder etwas tun muss, was man nicht tun will?«

Sein Lachen hallte von allen Seiten des kleinen Raums wider. »Das wäre eine feine Sache.«

»Ja, das wäre es. Natürlich glauben so etwas auch einige Leute, die zu solcher Macht gelangen. Sie tun, was immer ihnen gefällt.« Rione sah ihn eindringlich an. »Wissen Sie, ich hatte befürchtet, Black Jack könnte ein solcher Mensch sein. Aber da habe ich mich geirrt. Und jetzt wollen Sie von mir wissen, ob irgendeiner der ehemaligen Gefangenen aus demselben Holz geschnitzt ist.«

»Immerhin haben sie bereits begonnen, sich in die Abläufe innerhalb dieser Flotte einzumischen«, sagte Geary. »Ich bin mir sicher, dass Sie davon bereits erfahren haben.«

»Bedauerlicherweise habe ich von nichts anderem erfahren. Wenn sie weiter an irgendeinem Plan arbeiten, beteiligen sie weder mich noch irgendjemanden sonst daran, der vertrauliche Informationen an mich weiterleitet.«

»Können Sie mir etwas über Admiral Lagemann sagen? Seine Dienstakte ist tadellos. Er ist durch das Gewinnen von Schlachten zum Admiral aufgestiegen, nicht über politische Taktierereien.«

Einen Moment lang schaute sie verwundert drein. »Warum fragen Sie mich dann nach ihm? Ich weiß nichts Negatives über den Mann. Sein Name ist in keinem internen Sicherheitsbericht aufgetaucht, den ich gelesen habe. Offenbar war er zu sehr damit beschäftigt, Krieg zu führen, weshalb er keine Zeit hatte, sich anderweitig seine Beförderungen zu beschaffen oder gegen die Regierung zu arbeiten.«

»So habe ich ihn auch eingeschätzt«, sagte Geary. »Aber ich habe mich zuvor auch schon geirrt, und wenn es über seine Vergangenheit irgendwas Unschönes gäbe, dann wüssten Sie das sicher.«

»Das tut weh, Admiral.« Sie hörte sich an, als hätten seine Worte sie tatsächlich verletzt.

»Ich bitte vielmals um Entschuldigung«, gab er zurück, wobei er keinen Hehl aus seinem Sarkasmus machte. Dann betätigte er schließlich die Komm-Taste.

Augenblicke später wurde von der Mistral Admiral Lagemanns Bild übertragen. Der Mann, der als einer von wenigen die jüngste Flottenkonferenz heimlich hatte mitverfolgen dürfen, legte den Kopf schräg, als er Geary sah. »Gibt es schon Neuigkeiten, Admiral Geary? Wir überlegen, was getan werden kann, um durch diesen Sprungpunkt entkommen zu können.«

»Und? Erste Ideen?«, fragte Geary.

»Nicht eine einzige.«

»Da ist noch was, das Sie für mich übernehmen könnten«, redete Geary weiter. »Etwas von besonderer Wichtigkeit. Sie und Ihre Kameraden hatten mich ja bereits vorgewarnt, zu welchen Taktiken die Enigmas bei Alihi greifen könnten. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir eine Einschätzung darüber geben würden, was die Enigmas wahrscheinlich unternehmen, nachdem sie nun wissen, dass wir zu diesem Stern gesprungen sind.«

»Sie meinen, außer dass sie die Tatsache feiern, dass wir mitten in dieses Minenfeld gesprungen sind?«, fragte Lagemann.

»Ganz genau.«

»Das ist eine sehr interessante Frage.« Einen Moment lang stand Lagemann da und schaute nachdenklich nach unten. »Wir werden sehen, was wir Ihnen dazu sagen können. Darf ich Sie etwas fragen, Admiral?« Beiläufig schaute er dabei Richtung Rione.

»Fragen Sie.«

»Kehren wir wirklich um, oder ist das nur die offizielle Version, um zu verhindern, dass die Moral der Flotte von einem Schwarzen Loch geschluckt wird?«

»Wir kehren tatsächlich um«, sagte Geary. »Und dann darf sich die Regierung mit Ihnen allen herumschlagen.«

»Ohne mich. Wenn wir zurück sind, werde ich in den Ruhestand gehen und mir eine ruhige Stelle auf meiner Heimatwelt suchen.« Lagemann hielt inne und überlegte. »Irgendwas, wo ich nachts in geschlossenen Räumen arbeiten kann. Ich möchte bis zu meinem Lebensende keinen Stern mehr sehen müssen.«

Als Geary den Konferenzraum verließ und Rione allein zurückblieb, stand Desjani ein Stück weit entfernt und wartete auf ihn. »Haben Sie sich gut unterhalten, Admiral?«, fragte sie, als er sie erreicht hatte.

»Ja, Tanya«, erwiderte er nur, dann gingen sie eine Weile schweigend nebeneinander her. »Sie sagt, sie wird uns helfen, die Flotte nach Hause zu bringen.«

»Oh, das ist ja wundervoll«, meinte Desjani in einem völlig desinteressierten Tonfall. »Diese Hexe versucht nach wie vor, Sie für ihre eigenen Zwecke einzuspannen. ›Tun Sie das nicht, weil ich es so will. Tun Sie es, weil der große Held Black Jack soooo viel für Sie geopfert hat.‹«

»Ich glaube nicht, dass sie wollte, dass es uns hierher verschlägt, Tanya«, redete er weiter. »Ich habe das Gefühl, sie wurde dazu genauso gezwungen wie wir.«

»Das haben Sie mir schon mal gesagt. Sie können gerne weiterhin glauben, was Sie wollen, aber ich lasse sie nicht aus den Augen, und meine Waffe bleibt auf sie gerichtet. Ist Ihnen aufgefallen, dass ich es nicht mal kommentiere, wie schnell Sie entschieden haben, dieser Frau erneut zu trauen, oder wie leichtgläubig Sie sind?«

»Leichtgläubig?«

»Vertrauensvoll. Ich habe vertrauensvoll gesagt, nicht leichtgläubig.«

»Sie meinen, als Sie nichts kommentiert haben?«

Desjani warf ihm einen finsteren Blick zu. »Jemand muss Ihnen Rückendeckung geben, Admiral.«

»Und es gibt niemanden, dem ich in dem Punkt mehr vertraue als Ihnen. Aber sie will auch, dass die Flotte heimkehrt.«

»Wann hat sie denn ihre Meinung geändert?« Sie hielt noch immer mit ihm Schritt und schaute ihn von der Seite an. »Oder will sie Sie nur ablenken, während Sie sich mit nichts anderem beschäftigen sollen als mit unserer gegenwärtigen Situation und den Bärkühen?«

Geary winkte frustriert ab. »Damit werde ich mich gleich wieder befassen, sobald wir unsere Unterhaltung beendet haben. Sie redete von der Suche nach einer weiteren fremden Spezies. Vielleicht legt derjenige, der diese Mission sabotieren wollte, mehr Wert darauf, Informationen über eine weitere potenzielle Bedrohung zu erlangen.«

Desjani lächelte. »Oh, Darling, du hast zugegeben, dass jemand versucht, diese Mission zu sabotieren.«

»Ich habe diese Möglichkeit nie ausgeschlossen.« Oder doch? »Und achten Sie darauf, was Sie sagen, Captain.«

»Ja, Admiral.«

»Ich glaube, Rione macht sich auch Sorgen um ihren Mann.«

»Das tue ich auch. Ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass er eines Tages eine Sabotage begehen wird.«

Geary hatte Mühe, ihr nicht auch einen bösen Blick zuzuwerfen. Er war nicht auf Desjani wütend, sondern auf… vielleicht auf das Schicksal. »Ich habe mir die Personalakte von Paol Benan angesehen. Vor seiner Gefangennahme war er anders. Er hatte ein gutes persönliches Profil. Jetzt dagegen ist er impulsiv, wütend, unberechenbar.«

»Tja«, meinte Desjani. »Die Syndiks haben ihn gefoltert. Es gibt immer Mittel und Wege, das zu tun, ohne dass bewusste Erinnerungen oder körperliche Spuren zurückbleiben, wie Sie wissen.«

Er blieb stehen und sah sie an, da ihm nun endlich klar wurde, was Rione angedeutet hatte. »Lieutenant Iger hat mir gesagt, dass wir nie so tief gesunken sind, Folter anzuwenden, auch wenn er zugeben musste, dass das zum Teil eine pragmatische Entscheidung war. Folter bringt keine brauchbaren Informationen hervor. Die Syndiks müssen auch zu dieser Einsicht gelangt sein.«

Desjani biss sich auf die Lippe, ehe sie erwiderte: »Was Sie, Lieutenant Iger und die Flottenärzte dabei nicht berücksichtigen, ist die Tatsache, dass es manchen Menschen gar nicht darum geht, durch Folter brauchbare Informationen zu erlangen. Sie foltern, weil es ihnen gefällt oder weil sie glauben, jemand verdiene eine Strafe.« Sie musste Gearys Gesicht seine Reaktion angesehen haben. »Ich glaube nicht, dass die Allianz das jemals erlaubt hat. Soweit mir bekannt ist, haben wir Verhörpersonal immer gründlich durchleuchtet, um solche Neigungen auszuschließen. Aber glauben Sie ernsthaft, die Syndiks hätten die gleiche Sorgfalt walten lassen?«

Er war einigen Syndiks begegnet, die auf ihn nicht den Eindruck gemacht hatten, dass sie schreckliche Menschen waren. Manche waren ihm sogar regelrecht anständig und verantwortungsvoll erschienen. Aber andere, vor allem hochrangige Führer, wiederum hatten auf ihn gewirkt, als ob sie keinerlei Moral besaßen. »Ich werde den Ärzten sagen, sie sollen von dieser Annahme ausgehen und dann entscheiden, was sie tun können.«

»Es ist viel leichter, Menschen zu brechen anstatt sie zu heilen«, erwiderte Desjani leise. »Nur damit Sie es wissen: Ich wünschte, das wäre ihm nicht widerfahren. Und auch niemandem sonst.«

»Daran habe ich nie gezweifelt. Ich weiß, Commander Benan steht unter medizinischer Beobachtung. Aber haben Sie auch Leute abgestellt, die ihn im Auge behalten?«

»Rund um die Uhr.« Sie ließ eine kurze Pause folgen. »Sie haben den Befehl, ihn aufzuhalten, sobald er sich irgendwie falsch verhält. Ich suche nicht nach Gründen, um ihn vor ein Kriegsgericht zu stellen. Ich will nur vermeiden, dass mein Schiff beschädigt wird.«

»Gut.« Sie hatten die Luke zu seinem Quartier erreicht. »Mein Gefühl sagt mir, dass ich wohl noch einmal mit ihm reden muss.«

»Das wäre keine gute Idee, Admiral.«

»Nur ich mit ihm allein«, ergänzte er. »Um herauszufinden, was er sagt, wenn wir allein sind.«

Mit bemerkenswert ruhiger Stimme sagte sie: »Bei allem Respekt, aber das wäre eine sehr dumme Idee, Admiral.«

»Ich werde es Sie wissen lassen, bevor ich es versuche. Passieren wird das ohnehin erst, nachdem wir einen Weg gefunden haben, wie wir mit den Bärkühen verfahren werden.«

»Das beruhigt mich ja ungemein.« Desjani schüttelte ungläubig den Kopf. »Die lebenden Sterne müssen Ihnen tatsächlich den Weg weisen. Kein Mensch würde es für eine gute Idee halten, sich auf ein Gespräch unter vier Augen mit dem Mann einzulassen, mit dessen Frau er geschlafen hat.«

Sie sprach nur selten so direkt die Dinge an, die sich zwischen ihm und Rione abgespielt hatten, bevor bekannt geworden war, dass Riones Ehemann doch noch lebte. Und bevor er und Desjani sich zu ihren Gefühlen füreinander bekannt hatten. Dass Desjani es jetzt tat, zeigte ihm, wie sehr sie sich über sein Vorhaben aufregte.

»Ich verspreche Ihnen, wir beide werden darüber noch einmal diskutieren, bevor ich mich mit Commander Benan unterhalte. Jetzt werde ich dieses Problem erst einmal vergessen und mir überlegen, wie wir dieses Sternensystem verlassen können.«

»Danke.« Sie lächelte ihn ein wenig ironisch an. »Immer schön eine Krise nach der anderen.«

»Das wäre eine feine Sache«, sagte er und benutzte die gleiche Formulierung wie zuvor bei Rione. Sie passte zwar auch hier, aber es war schon besser, wenn Tanya nicht wusste, dass er nur etwas wiederholte.

Schweigend stand er da, nachdem sich die Luke hinter ihm geschlossen hatte; allein in seinem Quartier, das früher einmal Admiral Bloch gehört hatte, bevor die Syndiks ihn während einer »Unterredung« getötet hatten. Sein Quartier, das seitdem Gearys einziges Zuhause war. Was, wenn Tanya in die Gefangenschaft der Syndiks geraten wäre, als der Krieg noch getobt hatte?

Was, wenn sie jetzt in die Überreste der versprengten Gruppen geriete, die die Autorität der Syndikatwelten in weiten Teilen des einst unter Aufsicht der Syndiks stehenden Territoriums ersetzt hatten? Was würde man mit dem Menschen machen, der Black Jack Geary von allen am nächsten stand, um Informationen zu sammeln oder ihn unter Druck zu setzen oder um ihm einfach nur aus Rache wehzutun?

Er verdrängte den Gedanken. Eine solche Möglichkeit auch nur in Erwägung zu ziehen, würde ihn lähmen und handlungsunfähig machen.

Geary beobachtete, wie die Flotte nach dem Passieren der feindlichen Festung mit maximaler Leistung abbremste und wie eine Welle aus Hunderten Raketen, die von der Festung aus abgefeuert worden waren, den vordersten Rand der Allianz-Formation erreichte. Gewaltige Explosionen erschütterten die Schiffe, da Selbstmordkommandos mit ihren Schiffen geradewegs in die Formationen aus Kriegsschiffen und Hilfsschiffen hineinrasten.

Mit einem mürrischen Brummen schaltete er die Simulation ab. Ich habe jeden denkbaren Anflugwinkel ausprobiert, jede Variation bei der Geschwindigkeit, aber es führt kein Weg an der Tatsache vorbei, dass diese Festung nun mal da ist und dass ich mit der Flotte dorthin muss, wo sich der Sprungpunkt befindet. Außerdem können wir beim Eintreffen an unserem Ziel nicht schneller als 0,1 Licht sein.

Es hatte etwas äußerst Frustrierendes an sich, dass man vor sich eigentlich das ganze Universum sah und man trotzdem nicht reisen konnte, wohin man wollte.

Geary bewegte den Finger in Richtung Komm-Taste, zögerte aber, als sein Blick auf die Uhrzeit fiel. Es war lange nach Schichtende und die Beleuchtung in den Korridoren der Dauntless war gedimmt worden, um jenen Tag-Nacht-Zyklus zu simulieren, den die Menschen bevorzugten. Es war auch kaum Personal unterwegs, wenn man von der Nachtwache absah, die jetzt Dienst hatte. Er wollte mit Desjani über den Anflug auf den Sprungpunkt reden, doch Admiral Timbales Warnung ließ sich nicht ignorieren, er und Tanya seien unter ständiger Beobachtung jener, die nur darauf warteten, ihnen unziemliches Verhalten nachzuweisen. Tanya würde natürlich nichts tun, was für eine seinem Kommando unterstellte Offizierin als unangemessen gelten konnte. Dennoch war nicht auszuschließen, dass auch völlig harmloses Verhalten vorsätzlich falsch gedeutet wurde, vor allem wenn sie um diese Uhrzeit sein Quartier aufsuchte.

Verdammt, er hatte eine Aufgabe zu erledigen! Geary schickte Desjani eine Bitte, sich bei ihm zu melden, dann wartete er, bis sich vor ihm in der Luft ihr Fenster öffnete.

Tanya hielt sich in ihrem Quartier auf, was angesichts der späten Stunde eine gute Sache war. Manchmal kam es ihm so vor, als würde sie auf der Brücke der Dauntless leben, was weder für sie noch ihre Untergebenen gut gewesen wäre. »Guten Abend, Admiral. Was gibt es?«

»Sind Sie beschäftigt?«

»Ich bin die Befehlshaberin eines Schlachtkreuzers. Selbstverständlich bin ich beschäftigt. Wieso fragen Sie?«

»Weil ich nicht weiterkomme.« Geary deutete auf das Display, das über seinem Tisch schwebte. »Ich finde zwar einen Weg, wie wir den Kriegsschiffen dieser Bärkühe aus dem Weg gehen können, aber ich weiß einfach nicht, wie wir an den Festungen vor den Sprungpunkten vorbeikommen sollen. Wenn ich mir keine Gedanken um die Kriegsschiffe machen müsste, könnte ich vielleicht eine Methode finden, eine der Festungen auszuschalten, aber diesen Luxus kann ich mir nicht leisten.«

»Es ist alles ein Problem«, stimmte sie ihm zu. »Ich persönlich neige ja dazu, mich auf die Kriegsschiffe zu konzentrieren. Aber unsere größte Hürde sind die Festungen. Müssen wir uns in deren Feuerreichweite begeben?«

»Nein«, antwortete Geary und machte eine finstere Miene. »Wir können außerhalb des wahrscheinlichen Bedrohungsradius aller Waffensysteme dieser Festungen vorbeifliegen. Was sich nicht vermeiden lässt, ist der Schwarm Raketen, den die jeweilige Festung auf uns loslassen wird, um uns abzufangen. Und das wird ihnen in jedem Fall gelingen, weil sie ja ganz genau wissen, dass der Sprungpunkt unser Ziel ist. Irgendeine Idee?«

»Ich lasse es Sie wissen, wenn mir etwas in den Sinn kommt. Aber ich bin nur die Befehlshaberin eines Schlachtkreuzers. Sie dagegen sind Black Jack Geary.«

»Sie wissen, ich mag diesen Namen nicht. Können Sie zu mir nach unten kommen, damit wir diese Dinge durcharbeiten können?«

Desjani lachte. »Oh, das würde sicher einen guten Eindruck machen, wenn ich mich mitten in der Nacht in Ihr Quartier schleiche. Soll ich etwas Verführerisches tragen? Zum Beispiel meine Galauniform?«

»In der sehen Sie verdammt gut aus. Verdammt, Tanya, wir sind verheiratet.«

»Nur, wenn wir uns nicht auf meinem Schiff befinden, Admiral. Auf meinem Schiff sind wir Captain und Admiral. Sie wussten, es würde so sein.«

»In der Theorie lässt es sich damit einfacher leben als in der Praxis«, beklagte sich Geary. »Außerdem ist das eine rein dienstliche Sache, Tanya. Sie haben ein großartiges taktisches Verständnis, und davon könnte ich jetzt ein bisschen gebrauchen.«

»Sie wissen, wie Sie einer Frau Komplimente machen müssen«, meinte sie und schüttelte erneut den Kopf. »Ich glaube, Sie haben Schlaf dringender nötig als meine… taktischen Kenntnisse. Wir überlegen derzeit alle, wie wir an der Festung vor dem Sprungpunkt vorbeikommen können, aber keinem von uns ist bislang etwas eingefallen. Wir müssen irgendetwas anderes versuchen.«

»Zum Beispiel?«

»Was gibt es denn sonst noch? Die Heimatwelt der Bärkühe… nein. Wir haben uns schon Gedanken darüber gemacht, zu was ihre Kriegsschiffe wohl in der Lage sind.«

»Wir wissen allerdings nicht, wie sie diese Schiffe einsetzen werden«, wandte Geary ein.

»Nein, aber bislang haben wir nur gesehen, wie sie gewendet und Kurs auf uns genommen haben. Und wir wissen, wie uns diese Raketenschiffe angegriffen haben.« Sie zuckte flüchtig mit den Schultern. »Das ist nicht gerade viel, aber wir wissen doch immer ein klein wenig darüber, wie sie denken. Vielleicht sollten wir uns darauf konzentrieren. Aber erst morgen, denn ohne Schlaf können Sie nicht klar denken. Gehen Sie ins Bett, wir reden morgen früh weiter.«

»Gehen Sie auch ins Bett?«, gab Geary zurück.

»Ich befehlige einen Schlachtkreuzer. Hatten wir das nicht eben schon mal gehabt? Schlaf ist Luxus.«

»Ich könnte Ihnen befehlen, sich schlafen zu legen.«

»Ja, das könnten Sie, allerdings würden Sie das bereuen. Wenn Sie unbedingt aufbleiben wollen, dann überlegen Sie, wie die Bärkühe denken, damit Sie versuchen können, den Feind zu verstehen. So haben Sie es auch bei den Enigmas gemacht, und das ist der beste Ratschlag, den ich Ihnen geben kann.«

Nachdem das Gespräch beendet war, saß er in seinem abgedunkelten Quartier und dachte über ihren Ratschlag nach. Kenne deinen Feind. Das war eine sehr alte und sehr richtige Weisheit. Tanya hatte recht. Er hatte die ganze Zeit nur überlegt, was seine Streitkräfte tun konnten und wozu der Feind in der Lage sein sollte. Aber die Frage war nicht, was diese Aliens tun konnten, sondern was sie tun würden. Während er sich vor Augen hielt, dass er niemals damit gerechnet hatte, sich diese Frage zu stellen, begann er nach Antworten zu suchen. Sie wussten immer noch verdammt wenig über diese Bärkühe. Im Grunde gab es nur die Einschätzungen von Lieutenant Iger und den zivilen Experten, und die enthielten vor allem Begriffe wie »unbekannt«, »angenommen«, »schätzungsweise« und »womöglich«. Also begann er, nach Informationen über echte Bären zu suchen.

Bären waren eigentlich auf der Alten Erde zu Hause gewesen, doch die Menschheit hatte einige Exemplare der Spezies mit ins All genommen und auf anderen Welten angesiedelt. Außerdem war man auf wiederum anderen Welten auf bärenähnliche Tiere gestoßen, die so ähnliche Merkmale aufwiesen, dass man sie der gleichen Familie zugeordnet hatte. Natürlich handelte es sich bei Berücksichtigung der unterschiedlichen DNS, der Evolution und zahlloser weiterer Faktoren um völlig eigenständige Kreaturen. Aber der durchschnittliche Mensch bezeichnete sie dennoch alle als Bären, auch wenn Zoologen auf eine solche Einstellung mit Grausen reagierten.

Nichts von dem, was er über Bären fand, schien von irgendwelchem Nutzen für die gegenwärtige Situation zu sein. Bären waren relativ einzelgängerische Tiere, vor allem im Vergleich mit Kühen. Klar war, dass diese Bärkühe es mochten, dicht gedrängt zu leben. Bären waren zudem Allesfresser, während die fortgesetzte Analyse der geborgenen Überreste die erste Vermutung bestätigte, dass es sich bei ihnen um reine Pflanzenfresser handelte.

Er rief die Begriffe »Kühe«, »Vieh«, »Stiere« und »Herde« sowie alles andere auf, was ihm in diesem Zusammenhang in den Sinn kam. Er las Beschreibungen und Analysen, er sah sich Videos an (von denen einige laut Beschreibung sogar noch von der Alten Erde stammten) und ließ seinen Gedanken dabei freien Lauf.

Nach einer Weile musste Geary an die Superschlachtschiffe denken. Die waren nicht zwangsläufig langsamer als die erheblich kleineren Kriegsschiffe der Menschen. Wenn man ihnen genug Zeit ließ, konnten sie durchaus die gleiche Geschwindigkeit erreichen. Auf dem Weg dorthin waren sie auch in diesem Moment, da sie beständig beschleunigten, um seine Flotte abzufangen. Aber das Beschleunigen dauerte erheblich länger, und wenn sie mit ihren Steuerdüsen eine Kursänderung vornehmen wollten, dann kostete sie das auch viel mehr Zeit. Der Grund dafür war nicht nur der verhältnismäßig schwache Antrieb, sondern auch die deutlich größere Masse dieser Schiffe. Eine solche Masse auf einen anderen Kurs zu bringen, erforderte entweder einen sehr hohen Kraftaufwand oder es dauerte sehr lange. Und den Kraftaufwand konnten diese Superschlachtschiffe nicht leisten.

Es war wie in diesem Video, das im Augenblick lief. Ein Stier stürmte dort auf einen in grellen Farben gekleideten Mann zu, der im letzten Moment zur Seite tänzelte, da er die Laufrichtung des Tiers richtig eingeschätzt hatte und somit rechtzeitig ausweichen konnte…

Geary betrachtete das Standbild seiner jüngsten Simulation, das nach wie vor über dem Tisch schwebte. Die gewaltige Festung, der Raketenschwarm, die feindliche Armada, die durch geschicktes Taktieren an den Rand des Geschehens verbannt worden war. Aber wenn sich die Armada schon in eine bestimmte Richtung dirigieren ließ, dann war es vielleicht auch möglich…

»Tanya!«

Ohne nachzudenken, hatte er das Standardprotokoll übergangen, das es ihr erlaubte, erst einmal aufzuwachen und seinen Ruf anzunehmen, wenn sie dazu bereit war. Stattdessen hatte er einfach aus dem Lautsprecher in ihrer Kabine geplärrt.

Tanya sah ihn aus verkniffenen Augen an. »Ich hoffe, es geht um mein taktisches Geschick, Admiral. Immerhin haben Sie meinen Ratschlag ja offensichtlich ignoriert, während ich mir Ihren zu Herzen genommen hatte.«

»Dafür habe ich mir Ihren anderen Ratschlag zu Herzen genommen, Tanya. Ich glaube, ich weiß, wie ich es machen muss. Aber ich brauche Ihre Hilfe, um die Flugbewegungen auszuarbeiten. Sie müssen meine Ergebnisse kontrollieren, damit wir feststellen können, ob es machbar ist.«

»Jetzt?«

Er zögerte, da ihm mit einem Mal bewusst wurde, wie spät es bereits war. Bei der Suche in den Dateibeständen hatte er gar nicht gemerkt, wie viele Stunden inzwischen vergangen waren. Und dennoch meinte Tanya ihre Frage völlig ernst. Sie würde sich sofort mit dem Problem beschäftigen, wenn er sie jetzt darum bat. »Ähm… nein. Wir sind noch weit von dem Sprungpunkt entfernt, den wir benutzen müssen, und diese Armada aus Bärkühen ist auf ihrem Abfangkurs noch lange nicht in Reichweite. Sie können sich das auch morgen früh ansehen. Legen Sie sich wieder schlafen.«

Der Blick, den sie ihm daraufhin zuwarf, war ein wortloses Versprechen, dass sie sich irgendwann dafür rächen würde. »Sie wecken mich auf«, zählte Desjani auf, »sagen mir, dass Sie möglicherweise eine Lösung gefunden haben, und dann fordern Sie mich auf, ich solle weiterschlafen? Vielen Dank, Sir. Schicken Sie mir rüber, was Sie sich überlegt haben. Ich kann mich auch jetzt sofort damit beschäftigen, schließlich stehen die Chancen ziemlich schlecht, dass ich vor Beginn des Schiffstags noch mal einschlafen werde.«

Vielleicht würde sie ihm verzeihen können, wenn sich seine Idee als umsetzbar entpuppte.

Die Armada der Bärkühe wuchs weiter an, da sich ihr immer wieder einzelne Schiffe anschlossen, die alle auf dem Weg waren, die Allianz-Flotte abzufangen. Die hatte ihren Flugvektor bislang nicht geändert und folgte immer noch einer Kurve am äußersten Rand des Systems, ihr Ziel war nach wie vor der nächstgelegene Sprungpunkt. Wenn niemand seine Geschwindigkeit oder den Kurs änderte, würde die Flotte in zweiunddreißig Stunden in die Reichweite der Raketen kommen, die von der Festung der Aliens abgefeuert würden. Drei Stunden später würde die Armada der Aliens auf das treffen, was dann noch von der Allianz-Flotte überlebt hatte.

Geary saß da und betrachtete das Display, während er sich fragte, was Desjani von seiner Idee hielt. Zumindest hatte sie sie nicht sofort als völlig unbrauchbar abgetan. Da bislang niemand einen Gegenvorschlag vorgelegt hatte, konnte er nur weiter hoffen, dass sein Plan umsetzbar war.

Erschöpft, aber zugleich zu aufgedreht, als dass er hätte schlafen können, verließ er sein Quartier und spazierte durch die Korridore der Dauntless, während die Crew der Morgenschicht sich daranmachte, ihren Dienst anzutreten.

Die Leute mussten ihn sehen, sie mussten sehen, dass der Admiral Ruhe und Gelassenheit ausstrahlte. In Wahrheit fühlte er sich weder ruhig noch gelassen, aber es gehörte mit zu seinen wichtigsten Aufgaben als befehlshabender Offizier, nach außen hin diesen Eindruck zu erwecken. Machen Sie sich keine Gedanken darüber, ob die Matrosen Sie hin und wieder ein wenig besorgt dreinschauend sehen, hatte eine seiner Chief Petty Officers zu Geary gesagt, als er noch Lieutenant gewesen war. Das zeigt den Leuten, dass Sie klug genug sind zu wissen, wann es angebracht ist, ein wenig besorgt zu sein. Aber schauen Sie auch nicht zu besorgt drein, sonst werden sie glauben, dass Sie keine Ahnung haben, was Sie tun. Und vermeiden Sie bei all Ihren Vorfahren den Eindruck, als würden Sie sich nie über irgendetwas Sorgen machen. Dann wird die Crew Sie für einen Idioten halten. Diese Leute wissen, dass Offiziere auch nur Menschen sind, und jeder Mensch, der auch nur annähernd bei Verstand ist, weiß, dass es Situationen gibt, in denen man sich einfach Sorgen machen muss. Aber solange Sie den Anschein erwecken, dass Sie wissen, was Sie tun, werden sie Ihnen auch folgen.

Der Gedanke an diese Frau, die vermutlich vor achtzig oder mehr Jahren in den ersten Jahrzehnten des Kriegs gegen die Syndiks ihr Leben verloren hatte, ließ Geary wehmütig lächeln. Master Chief Gionnini hier in der Flotte trug zwar einen anderen Nachnamen, dennoch konnte er ein Nachfahre von Senior Chief Voss sein. Auf jeden Fall schien er die gleichen Gene zu besitzen, die Voss für den damaligen Lieutenant Geary so unverzichtbar — aber auch zu einer ständigen Quelle der Unruhe — gemacht hatte.

Die Crewmitglieder im Korridor sahen Gearys Lächeln, und sofort wich ihre besorgte Miene einem siegesgewissen Gesichtsausdruck. Der Admiral hatte die Situation offenbar im Griff. Schon gut, dass auf diesem Schiff lediglich Desjani meine Gedanken lesen kann, überlegte er ironisch.

Sein Spaziergang führte ihn an den Gebetsräumen vorbei, wo die Matrosen und Offiziere in Ruhe ihren Glauben praktizieren konnten. Er entschied sich für eine der winzigen Kammern und setzte sich, dann zündete er die bereitstehende Kerze an. Vorfahren, helft mir, die richtige Entscheidung zu treffen. Welche Bitte konnte er sonst noch äußern? Aber vielleicht sollte er nicht immer nur um irgendetwas bitten, wenn er herkam. Ich danke euch dafür, dass ihr uns geholfen habt, so weit vorzustoßen.

Eben wollte er aufstehen, da fiel Geary noch etwas ein und er blieb sitzen. Commander Michael Geary. Wir wissen noch immer nicht, ob Sie ums Leben gekommen sind, als Ihr Schiff Repulse zerstört wurde. Sind Sie jetzt bei unseren Vorfahren? Er versuchte eine Antwort wahrzunehmen, doch er spürte nichts. Ihre Schwester, meine Großnichte, verhält sich sonderbar, und ich habe keine Ahnung, was mit ihr los ist. Das ist bei ihr mehr als nur ein leicht aggressiveres Verhalten, wie es sonst schon mal üblich ist. Es ist ein Symptom für irgendetwas anderes — bloß was? Wenn Sie es wissen sollten, helfen Sie mir bitte, es zu verstehen.

Und wenn Sie noch leben und sich in der Gefangenschaft der Syndiks befinden, dann werde ich Sie finden und befreien. Ich werde nichts unversucht lassen, das verspreche ich Ihnen.

Anschließend kehrte Geary in sein Quartier zurück. Er fühlte sich noch immer wie gerädert. Die Gedanken an seine Großnichte und seinen sehr wahrscheinlich toten Großneffen, beides Nachfahren seines Bruders, der vor langer Zeit als alter Mann gestorben war, hatten Erinnerungen an damals wach werden lassen. Einmal mehr lastete die Vergangenheit zentnerschwer auf seinen Schultern, ihm verging das Lächeln, weil er an all jene denken musste, die in dem Jahrhundert gestorben waren, das er im Kälteschlaf verbracht hatte. Zum Glück lag noch viel Arbeit vor ihm, die ihn von diesen düsteren Gedanken ablenken konnte.

In seinem Quartier eingetroffen, blätterte Geary in den Nachrichten, die seit dem letzten Abruf aufgelaufen waren und darauf warteten, von ihm gelesen zu werden. Als Befehlshaber der Flotte erreichten ihn jeden Tag gleich Hunderte von Mitteilungen, doch nur ein Bruchteil davon betraf wirklich wichtige Dinge, die eine Entscheidung von seiner Seite erforderten. Um aber die großen Entscheidungen zu treffen, musste er so viel wie möglich über die kleinen Dinge wissen. Daher wurden zahlreiche Informationen und Berichte an ihn weitergeleitet oder in Kopie an ihn geschickt, damit er auf sie zugreifen konnte, wenn das erforderlich war. Er überflog die Betreffzeilen, hin und wieder warf er einen Blick auf den eigentlichen Inhalt der Nachricht, und nur gelegentlich nahm er sich die Zeit, um etwas zu lesen, das tatsächlich von Interesse für ihn war.

Die unbemannten Sonden, die in den Trümmern der zerstörten gegnerischen Schiffe auf der Suche nach Überresten der Besatzung gewesen waren, hatten auch ein paar Proben der Trümmerteile geborgen. Der Bericht über die Analyse, den Captain Smythe ihm geschickt hatte, fasste die bisher gewonnenen Erkenntnisse zusammen, die bedauerlicherweise sehr spärlich ausfielen. Keine ungewöhnlichen Mischungen aus Legierungen und Verbundstoffen… Strukturanalyse der Legierungen ergibt einige interessante Anzeichen für unübliche Gussmethoden… Verbundstoffe neigen deutlich stärker zu Silizium denn zu Kohlenstoff, was ein reiches Vorkommen dieses Stoffs auf der Heimatwelt der Aliens vermuten lässt… es wurden keine ausreichend großen Überreste von Ausrüstungsgegenständen gefunden, die Hinweise auf ihre Funktion oder ihre Bauweise liefern könnten.

Captain Tulev hatte Bericht über alles erstattet, was am Schauplatz der Raumschlacht eingesammelt worden war. Wenigstens mussten sie sich keine allzu großen Sorgen machen, dass die Aliens aus den Überresten allzu viel über die Menschen herausfinden könnten. Was nach Tulevs Säuberungsaktion noch verblieben war, bot erheblich weniger Anhaltspunkte über die Menschen als das, was sie an Informationen über die Aliens hatten gewinnen können.

Gearys Blick fiel auf eine Zusammenfassung der Disziplinarmaßnahmen an Bord der Dragon. Ein Petty Officer war dabei erwischt worden, wie er aus gestohlenen Medikamenten hergestellte Drogen verkauft hatte. Es gab sechs Fälle von Insubordination, außerdem drei Schlägereien, bei einer davon waren gleich mehrere Matrosen beteiligt gewesen. Hatte Captain Bradamont Schwierigkeiten, ihre Crew unter Kontrolle zu halten?

Er forderte vom System eine Zusammenstellung aller Disziplinarmaßnahmen an, die zudem nach den Durchschnittswerten für jeden Schiffstyp aufgeschlüsselt war. Wie sich daraufhin zeigte, lag die Dragon eigentlich ein wenig unter dem Durchschnitt, während sich sogar an Bord der Dauntless mehr Fälle als üblich ereignet hatten.

Nachdenklich betrachtete Geary die Zahlen, von denen er nur zu gut wusste, was sie bedeuteten. Schlägerei, Insubordination, nicht ausgeführte Befehle — allesamt Anzeichen für Ärger, der immer weiter um sich griff. Die Matrosen waren unzufrieden mit ihrer Situation, aber sie hatten keine Möglichkeit, diese Unzufriedenheit an einem Gegner auszulassen, also gingen sie in den eigenen Reihen aufeinander los. Kleinigkeiten eskalierten dadurch rasend schnell, bis ein offizielles Eingreifen nötig wurde. All das bewegte sich noch auf einem sehr harmlosen Niveau, aber er musste aufpassen, dass die Lage nicht mit einem Mal bedrohlich wurde.

Und das hieß, er musste bald nach Hause zurückkehren.

Schließlich schlief er im Sitzen ein und wachte erst Stunden später wieder auf. Vor sich sah er einen Bericht, in dem es um die Fortschritte bei der Qualifizierung der Junioroffiziere in der Flotte ging, und mit einem Mal wurde ihm klar, wieso ihm die Augen zugefallen waren.

Ein Blick auf das Sternendisplay zeigte ihm, dass in diesem Sonnensystem nichts Nennenswertes vorgefallen war. Seine Flotte und die Armada der Aliens waren ein Stück näher zusammengerückt, außerdem hatten sie sich weiter der Orbitalfestung genähert, die den anvisierten Sprungpunkt bewachte, doch das war auch schon alles.

Er schaltete das Display aus, überprüfte sein Erscheinungsbild und überlegte, ob er sich so auf der Brücke sehen lassen sollte, als hätte er eine wilde, stürmische Nacht hinter sich gebracht. Aber dann malte er sich aus, wie Tanya darauf reagieren würde, und er nahm prompt wieder Abstand von dieser Idee. Stattdessen nahm er sich Zeit, sich zu waschen und eine frisch gereinigte Uniform anzuziehen.

Desjani befand sich auf der Brücke, als er dort eintraf. Ihre Uniform saß wie immer tadellos, doch ihr Gesicht ließ Anzeichen für Ermüdung erkennen. Gähnend winkte sie Geary zu, als er sich seinem Sessel näherte. »Konnten Sie sich noch ausruhen, Admiral?«

»Ein wenig.«

»Gut. Als Belohnung für dieses vernünftige Verhalten möchte ich Ihnen etwas zeigen.«

Er nahm Platz und sah sie von der Seite an. »Einen brauchbaren Plan?«

»Einen brauchbaren Plan? Oh nein, Admiral, ich werde Ihnen einen großartigen Plan zeigen.« Sie tippte einige Befehle ein, dann erwachte Gearys Display zum Leben.

Er sah sich an, wie die Flugmanöver verliefen, und verfolgte die Simulation bis zu ihrem Ende, dann atmete er tief durch. »Es funktioniert.«

»Es könnte funktionieren«, berichtigte sie ihn. »Wenn die Bärkühe sich so verhalten, wie wir es vermuten. Falls sie das nicht tun, können wir dem Kontakt mit ihnen immer noch ausweichen und etwas anderes versuchen.« Desjani musterte stirnrunzelnd das Display. »Wahrscheinlich werden wir das können.«

»Wahrscheinlich?«

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir es können, Admiral.« Wieder musste sie gähnen. »Bei den Syndiks würden wir damit nicht durchkommen, aber ich habe mit Lieutenant Iger gesprochen, und er sagt, unsere Überlegungen passen zu dem, was auf den Videos zu sehen ist. Allerdings haben wir nur wenig Spielraum für irgendwelche Fehler. Es ist ein großartiger Plan, aber auch ein schrecklicher Plan.«

Geary musste sich zwingen, nicht die Brauen zusammenzuziehen. »Ein schrecklicher Plan?«

»Ja, Sir. Er basiert auf sehr vielen Vermutungen, und wenn sich der Feind anders verhält, als wir es vermuten, dann wird er nicht funktionieren. Und dann könnten wir ernsthaft in Schwierigkeiten stecken.«

Nun konnte er nicht anders, als die Stirn zu runzeln. Er verspürte eine Mischung aus Wut und Unzufriedenheit. Er hatte gehofft, eine Lösung gefunden zu haben, und Desjanis einleitende Worte hatten diese Hoffnung noch bestätigt. Aber wenn Tanya den Plan für so misslungen hielt… »Also müssen wir uns etwas anderes ausdenken.«

»Oh, nein, nein.« Sie schüttelte den Kopf, lehnte sich zurück und seufzte zufrieden. »Erstens habe ich schon viel zu viel Arbeit in diesen Plan gesteckt, und zweitens ist er zwar schrecklich, aber immer noch um Längen besser als alles, was aus der Flotte an Vorschlägen gekommen ist. Und was sich die Gefechtssysteme mit ihrem kleinen künstlichen Verstand ausgedacht haben, das wollen Sie sich gar nicht erst ansehen.«

»So übel?«, fragte er. Seine Verärgerung war wie weggeblasen.

»Die zu erwartenden Verluste liegen bei fünfzig Prozent.« Erneut schüttelte sie den Kopf, diesmal aber vor Entrüstung. »Ich kann nicht fassen, dass die Leute so was als künstliche Intelligenz bezeichnen.«

»Ohne die Systeme könnten wir unsere Waffen nicht auf ein Ziel richten«, hielt Geary dagegen. »Das geht nun mal nicht, wenn die Begegnung mit einem Feind innerhalb weniger Millisekunden vorüber ist. Und bei den Geschwindigkeiten, mit denen wir unterwegs sind, möchte ich auch nicht versuchen, ohne die automatischen Assistenten ein Schiff zu steuern.«

»Ja, aber das ist nichts weiter als Physik. Wenn wir erst mal die Grundlagen begriffen haben, können wir das auch selbst erledigen. Aber richtige Denkvorgänge? Innovative Lösungen? Hah! Schnell und dumm ergibt immer noch dumm. Die Systeme gelangen nur viel schneller zu einem dummen Vorschlag als wir Menschen. Was allerdings eine bemerkenswerte Leistung ist«, fügte sie hinzu, »wenn man bedenkt, wie gut wir darin sind, auf dumme Gedanken zu kommen.«

»Das ist etwas, worauf man stolz sein kann«, stimmte Geary ihr zu.

»Ich nehme, was ich kriegen kann«, meinte sie. »Außerdem ist Ihr Plan bei Weitem nicht so dumm wie eine beliebige Alternative. Meinen Glückwunsch.«

Wieder widmete er sich dem Display und untersuchte jede Ungewissheit und jede Mutmaßung, die Desjani in den Plan hatte einbeziehen müssen. Er sah jedes Falls und jedes Möglicherweise. Nun lag es an ihm, ob sie diesen Plan trotzdem umsetzen sollten. Aber selbst wenn sie noch einen Monat lang in diesem System blieben und ständig der feindlichen Armada auswichen, würden sie keine der offenen Fragen beantwortet bekommen. Sein Instinkt sagte ihm, dass sie schnell handeln mussten, bevor die Vorräte zu schwinden begannen und bevor es um die Moral in der Flotte noch schlechter bestellt wäre — und bevor die Bärkühe noch mehr Schiffe um sich scharten und mit ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit seine Flotte ernsthaft in Bedrängnis brachten.

»Wir machen es so.« Desjani nickte, dann schloss sie für einen Moment die Augen. »Ach, übrigens, Admiral, Sie haben eine Phase in diesem Plan übersehen.«

»Welche Phase soll ich übersehen haben?«

»Die, in der wir beten, dass das da auch funktionieren wird.«

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