In strömendem Regen bog ein Taxi, den Strahl der Scheinwerfer vor sich herjagend, in die Auffahrt zum Flughafen von Winnipeg ein. Heulend kreischten die Reifen in der Kurve, als wollten sie gegen die schlechte Behandlung protestieren. Der Chauffeur trat auf die Bremsen. Die Federn knirschten, als der Wagen unter den breiten Neonlampen des Empfangsgebäudes hielt. Ein Mann stieg aus, warf dem Fahrer ein paar Banknoten hin, griff nach seinem kleinen Koffer und hastete durch die Schwingtüren.
Angesichts der Wärme und des hellen Lichtes in der großen Halle verhielt er für einen Augenblick den Schritt. Mit einer Hand klappte er den Kragen seines feuchten Mantels nach unten, dann warf er einen Blick auf die große elektrische Wanduhr. Halb gehend, halb laufend eilte er zum Schalter der Cross Canada Airlines, der, fast wie eine Bar anzusehen, in einer Ecke klebte. Ziemlich verlassen stand ein Schalterbeamter dahinter, der eine Passagierliste prüfte. Als der Mann den Schalterbeamten erreichte, nahm dieser gerade ein kleines Mikrophon zur Hand, bedeutete dem Ankommenden zu schweigen, indem er die Augenbrauen hob, und begann mit wohlabgewogener Präzision zu sprechen:
„Flug 98 - Flug 98. Direkter Flugdienst nach Vancouver mit Anschlüssen nach Victoria, Seattle und Honolulu. Alle Passagiere für Flug 98 sofort zum Flugsteig vier, bitte. Bevor das Flugzeug in der Luft ist, wollen Sie bitte nicht mehr rauchen."
Einige Leute erhoben sich aus den Sesseln oder kamen vom Zeitungsstand. Aufatmend durchquerten sie die Halle. Der Mann im nassen Übermantel öffnete den Mund, um den Schalterbeamten anzusprechen, als er von einer älteren Dame, die sich an ihm vorbeidrängelte, energisch zur Seite geschoben wurde. „Junger Mann", wandte sie sich an den Schalterbeamten, „ist Flugzeug 63 von Montreal schon angekommen?"
„Nein, Madame", sagte der junge Mann hinter dem Schalter lächelnd. Dann warf er einen Blick auf seine Liste. „Es ist noch unterwegs und wird etwa 37 Minuten Verspätung haben."
„Oh, dear", jammerte die Dame, „ich habe schon für meine Nichte ausgemacht, daß..."
„Bitte", sagte der Mann im Übermantel eilig, „haben Sie noch einen Platz für Flug 98 nach Vancouver?"
Der junge Mann hinter dem Schalter schüttelte den Kopf und sagte: „Bedaure. Nicht einen einzigen. Haben Sie schon beim Reservationsbüro nachgefragt?"
„Keine Zeit gehabt. Ich kam direkt zum Flugplatz und hoffte auf eine Streichung." Der Mann wischte mit der Hand über das Pult. „Manchmal hat man Glück damit... "
„Sehr richtig", sagte der Mann hinter dem Pult. „Aber wegen des großen Spiels morgen in Vancouver ist alles überfüllt. Alle Flüge sind restlos gebucht, und vor morgen nachmittag werden Sie kaum etwas bekommen können."
Der Mann fluchte vor sich hin, stellte sein Köfferchen auf den Boden und schob sich den triefenden Hut ins Genick. „Verdammt noch mal", sagte er aufgeregt, „- aber ich muß morgen früh in Vancouver sein!"
„Seien Sie nicht so ruppig", schnappte die alte Dame. „Jetzt bin ich an der Reihe! Und nun hören Sie gut zu, junger Mann", wandte sie sich wieder an den Mann hinter dem Pult, „meine Nichte bringt... "
„Einen Moment, Madame", mischte sich der Agent ein. Er lehnte sich über das Pult und tippte mit dem Bleistift auf den Ärmel des aufgeregten Mannes. „Sehen Sie, es ist nicht meine Sache, Ihnen das zu sagen... "
„Ja, was?" „Na, so etwas!" explodierte die alte Dame.
„Es gibt einen Charterflug von Toronto", sagte der Mann hinter dem Pult unbewegt zu jenem im Übermantel, „der speziell für dieses Spiel angesetzt ist. Ich glaube, es waren noch ein paar Plätze frei, als die Maschine ankam. Vielleicht können Sie da einen ergattern."
„Großartig", sagte der Mann im Übermantel und angelte nach seinem kleinen Koffer. „Glauben Sie, ich habe dort eine Chance?"
„Probieren Sie's."
„Und wo ist der Mann, an den ich mich wenden muß?"
Der Agent wies quer durch die Halle. „Dort drüben rechts, am Schalter der Maple Leaf Air Charter. Aber bitte, sagen Sie nicht, daß ich Sie hingeschickt habe."
„Es ist wirklich ein Skandal", wütete die alte Dame. „Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, junger Mann, daß meine Nichte..."
„Vielen Dank", sagte der Mann im Mantel und ging munter davon, auf ein schmales Pult zu, hinter dem ein anderer Agent, diesmal im dunklen Anzug anstelle der smarten Uniform der Cross Canada Airlines, saß. Als der Mann auf den Schalter zukam, blickte er auf, erhob sich und nahm den Bleistift schreibbereit in die Hand. „Sir?"
„Vielleicht können Sie mir helfen. Haben Sie zufällig einen Sitz für den Flug nach Vancouver frei?"
„Vancouver? Moment, da muß ich erst nachsehen." Der Bleistift fuhr eine Passagierliste herunter. „Ja", sagte er dann, „tatsächlich, gerade einen. Aber die Maschine startet sofort, sie hat ohnehin schon Verspätung..."
„Fein", sagte der Mann im Mantel. „Und ich kann den Platz haben?"
Der Schalterbeamte griff nach dem Billettblock. „Ihr Name, bitte?"
„George Spencer." Schnell war alles eingetragen.
„Das macht 65 Dollar für den einfachen Flug, Sir. Danke -freut mich, daß ich Ihnen helfen konnte. Haben Sie Gepäck?"
„Nur dieses Ding hier. Ich nehme es mit in die Kabine." In ein paar Sekunden war das Gepäck gewogen und mit dem Gepäckzettel versehen.
„Hier, bitte, Sir. Das Billett ist Ihr Passierschein. Gehen Sie auf Flugsteig 3 und fragen Sie nach Flug Nummer 714. Bitte beeilen Sie sich. Das Flugzeug ist wirklich schon im Begriff zu starten."
Spencer nickte, drehte sich nach dem Cross-Canada Schalter um, winkte seinem hilfsbereiten Freund zu, der - über die Schulter der alten Dame hinweg - strahlend zurücklächelte. Dann eilte er durch das Ausgangstor.
Draußen mischte sich die Kälte der Nacht mit dem Heulen der Flugzeugmotoren. Wie auf allen Flugplätzen der Welt schien auch hier einige Konfusion zu herrschen. Doch das täuschte. In Wirklichkeit ging alles nach einer strengen Ordnung vor sich. Irgendein Mann wies Spencer quer durch das helle Licht, das den Regen sichtbar machte, auf ein wartendes Flugzeug zu, dessen vier Propeller blitzende Silberscheiben in die Dunkelheit zauberten. Männer waren schon damit beschäftigt, die Treppe von diesem Flugzeug wegzurollen. Mit großen Sätzen über die Pfützen hinwegspringend, erreichte Spencer die Männer, übergab seinen Billettabschnitt und rannte die Stufen hinauf. Der Luftstrom der bereits laufenden Motoren wirbelte ihm um den Kopf. Spencer bückte sich, betrat das Flugzeug und stand einen Moment still, um erst wieder zu Atem zu kommen. Die Stewardeß, die ein wasserdichtes Cape trug, begrüßte ihn lächelnd. Dann sicherte sie den Verschluß der schweren Tür.
„Ich bin nicht mehr besonders in Form", sagte Spencer entschuldigend und noch immer atemlos.
„Guten Abend, Sir", antwortete die Stewardeß freundlich. „Es freut mich, Sie an Bord zu haben... "
„Glücklicherweise habe ich's gerade noch geschafft."
„Dort vorn ist ein Platz frei", sagte das Mädchen.
Spencer schlüpfte aus dem Mantel, nahm den Hut ab und ging durch den Gang auf den freien Platz zu. Mit einiger Schwierigkeit konnte er den Mantel in das Gepäcknetz hineinzwängen. „Diese Dinger werden nie groß genug gemacht", bemerkte er zu seinem Nachbarn, der ihm zuschaute und seinerseits das Gepäck einfach unter dem Sitz verstaut hatte. Dann sank Spencer erlöst und aufatmend in die weichen Polster.
„Guten Abend", kam die Stimme der Stewardeß über den Lautsprecher. „Die Maple Leaf Air Charter Company heißt ihre neuen Passagiere von Flug 714 willkommen. Wir hoffen, daß Sie einen angenehmen Flug haben werden. Bitte schnallen Sie sich an; wir werden jeden Moment starten."
Während Spencer noch mit seinem Gurt beschäftigt war, grunzte sein Nachbar: „Schauen Sie. Das ist eine nette, nüchterne Einstellung, der man nicht oft begegnet." Dabei wies er auf eine kleine Tafel an der Rücklehne des vorderen Sitzes:
IHR RETTUNGSGURT IST UNTER DEM SITZ
Spencer lachte. „Ich wäre wahrscheinlich schon im Regen ersoffen, wenn ich diese Maschine nicht erreicht hätte."
„Auch ein Fußballfan, eh?"
„Fan?" Spencer erinnerte sich, daß dies ja ein Charterflug war, der wegen eines Fußballspiels eingesetzt worden war. „Nee...", sagte er hastig. „Ich hatte nicht das Spiel im Kopf. Ich sag's nicht gern, aber ich muß nach Vancouver, um eine geschäftliche Verabredung einzuhalten. Ich würde das Match gern sehen. Aber ich fürchte, es kommt nicht in Frage."
Sein Nachbar sprach lauter, um den aufkommenden Motorenlärm zu übertönen: „Ich würde das an Ihrer Stelle nicht so laut sagen. Dies Flugzeug ist mit Querköpfen beladen, die nur mit einem Gedanken nach Vancouver gehen: fanatisch wie der Teufel zu ihren Jungen zu halten und den Gegner zu vernichten. Es ist nicht besonders ratsam, wenn Sie von diesem Naturereignis in so leichtem Ton sprechen... "
Spencer kicherte vor sich hin und beugte sich in seinem Sitz vor, um einen Blick in die Kabine zu werfen. Da saß eine Gesellschaft typischer, lauter, aufgeregter aber gutmütiger Sportfans, die alle mit dem einen Ziel unterwegs waren: die gegnerische Mannschaft zu vernichten und den Triumph zu feiern. Unmittelbar zur Rechten Spencers saß ein Mann mit einer Frau. Beide hatten die Nasen in die Blätter von Sportmagazinen gesteckt. Hinter ihnen saßen vier Männer, die damit beschäftigt waren, über die Verdienste verschiedener Spieler in den vergangenen Jahren zu diskutieren. Ein Teil ihrer Unterhaltung kam fetzenweise herüber: „Haggerty, Haggerty? Reden wir nicht von dem. Der kann Thunderbolt nicht das Wasser reichen. Aber da ist jetzt ein Mann..." Hinter den leicht angetrunkenen vier Männern war offensichtlich eine andere Gruppe der gleichen Clubfarbe placiert. Meist große, rotgesichtige Männer, die sich mit dem Spiel befaßten, das vor dem morgigen Vancouverspiel stattgefunden hatte.
Spencer drehte den Kopf wieder zu seinem Nachbarn hinüber. Gewöhnt, auf Kleinigkeiten zu achten, bemerkte er, daß der Mann einen vorzüglich geschnittenen Anzug trug. Keine Konfektion, nur ziemlich zerknittert. Die Krawatte paßte nicht dazu. Das langgeschnittene Gesicht, umrahmt von graumeliertem Haar, strahlte ein unbestimmbares Fluidum von Zuverlässigkeit und Autorität aus. Ein Charaktergesicht, konstatierte Spencer bei sich. „Ich fühle mich unter diesen Leuten wie ein Ketzer", bemerkte Spencer, das Gespräch erneut anknüpfend. „Aber ich muß zu meiner Schande gestehen, daß ich nur auf dem Weg zu einer Verkaufsreise an der Küste bin."
Sein Nachbar zeigte höfliches Interesse. „Und was verkaufen Sie?" fragte er.
„Lastwagen. Massenhaft Lastwagen."
„Aha, Lastwagen. Ich dachte, die würden durch normale Verkaufsgeschäfte an den Mann gebracht?"
„Normalerweise schon. Ich werde nur dann hingeschickt, wenn sich ein Geschäft anbahnt, bei dem es sich um dreißig, vierzig oder hundert Lastwagen handelt. Die örtlichen Verkaufsstellen lieben mich nicht sonderlich. Sie meinen, ich wäre der Scharfschütze vom Verkaufsbüro, der mit Sonderpreisen ankommt und einfach in ein Geschäft einhakt, für das sie vielleicht Wochen gebraucht hätten. Immerhin ist es ein ganz vernünftiges Leben." Spencer suchte nach seinen Zigaretten, hielt jedoch mitten in der Bewegung inne. „Ah - sind wir jetzt nicht schon in der Luft?"
„Wenn wir es sind, dann fliegen wir verdammt tief und mit null Meilen Tempo", scherzte der Nachbar.
„Hm." Spencer streckte seine Beine aus. „Mann, bin ich müde! Heute war einer dieser verfluchten Tage, an denen man die Wände hinaufgehen könnte. Wissen Sie, was ich meine?"
„Ich glaube ja."
„Zuerst sagte dieser Vogel, daß er die Lastwagen des Konkurrenten schließlich doch lieber nehmen würde. Dann, als ich ihm meine verkauft hatte und gerade glaubte, daß ich morgen abend bei Frau und Kindern sitzen könnte - kam ein Telegramm, das mich für morgen mittag nach Vancouver zitierte. Dort droht ein großer Abschluß flöten zu gehen. Also muß ich fliegen und den schönen Tag in den Mond schreiben. " Spencer seufzte und setzte sich aufrecht. „He, wenn Sie vierzig oder fünfzig Lastwagen wollen, kann ich Ihnen einen passablen Rabatt geben. Würden Sie sich nicht wie ein Admiral fühlen, der eine Flotte befehligt?"
Der Mann neben ihm lachte. „Danke nein. Ich kann so viele Lastwagen kaum brauchen, fürchte ich. Es läge ein bißchen außerhalb meines Interessenkreises."
„Was machen Sie?" fragte Spencer.
„Medizin", kam es lakonisch.
„Arzt?"
„Ja, Arzt. Und deshalb bin ich für Sie zum Lastwagenverkauf kaum das geeignete Objekt. Ich könnte mir nicht mal leisten, einen einzigen zu kaufen - ganz abgesehen von vierzig. Die einzige Extravaganz, die ich mir erlauben kann, ist Fußball. Dafür reise ich überallhin, sofern ich die Zeit finde. Siehe auch dieser heutige Flug..."
Spencer legte den Kopf an die Lehne zurück und sagte: „Es ist nett, Sie neben sich sitzen zu haben, Doktor. Wenn ich nicht schlafen kann, bekomme ich doch von Ihnen ein Schlafmittel?"
Während er sprach, donnerten die Motoren plötzlich mit voller Lautstärke los. Das Flugzeug vibrierte, während es sich gegen die Bremsklötze stemmte.
Der Doktor brachte seine Lippen an Spencers Ohr und bemerkte: „Ein Schlafmittel wäre für Ihr Geschäft nicht besonders gut. Übrigens konnte ich nie verstehen, weshalb diese Flieger jedesmal vor dem Start all den Lärm machen müssen."
Das Dröhnen klang langsam ab, und Spencer konnte ohne Anstrengung sagen: „Das ist das normale Abbremsen der Motoren. Es muß sein, bevor eine Maschine startet. Jeder Motor hat zwei Magnete, damit sofern einer versagt - der andere noch arbeitet. Und während des Abbremsens - Sie wissen ja, das geschieht für jeden Motor einzeln - prüft der Pilot mit Vollgas und kann dabei feststellen, ob alle Magnete richtig arbeiten. Erst wenn der Pilot sich überzeugt hat, daß alles in Ordnung ist, startet er. Vorher nicht. Die Luftlinien müssen davon gottlob allerhand Aufhebens machen."
„Das hört sich an, als verstünden Sie eine Menge davon", meinte der Doktor.
„Nicht so schlimm. Ich war während des Krieges Kampfflieger. Aber das ist zehn Jahre her, und ich bin ziemlich verrostet, ich habe das meiste vergessen."
„Jetzt starten wir endlich", konstatierte der Doktor, als die Motoren plötzlich einen Ton tiefer orgelten. Starker Druck preßte die Passagiere in ihre Sitze, als sich die Maschine in Bewegung setzte. Allmählich wurde die Geschwindigkeit auf der Betonbahn schneller und schneller. Kurz darauf gab es einen sanften Ruck, der anzeigte, daß man nun in der Luft war. Der Motorenlärm ging in ein gleichmäßiges Geräusch über. Das Flugzeug stieg langsam, und Spencer beobachtete, wie unterhalb des in der Kurve geneigten Flügels die Flugplatzlichter nochmals aufblitzten.
„Sie können sich nun losschnallen", verkündete der Lautsprecher. „Sie dürfen jetzt auch rauchen, wenn Sie wollen."
„Ich bin immer froh, wenn dieses Manöver endlich vorbei ist", murrte der Doktor, öffnete seinen Gurt und nahm eine Zigarette von Spencer an. „Danke. Übrigens - ich heiße Baird, Bruno Baird."
„Freut mich, Doktor", sagte Spencer. „Ich bin Spencer, George Spencer von der Fulbright Motor Company." Eine Zeitlang schwiegen sie. Abwesend sogen sie an ihren Zigaretten und verfolgten die Rauchwölkchen, die langsam durch die Kabine zogen, bis sie vom Frischluftstrom erfaßt und abgesaugt wurden. Spencer träumte vor sich hin. Er sah, wie er zum Hauptbüro zurückkommen würde. Obwohl er die Sache telefonisch schon dem örtlichen Vertreter von Winnipeg erklärt hatte, ehe er das Taxi zum Flugplatz bestellte, würde diese Vancouver-Sache allerhand Mühe bereiten. Spencer rechnete sogar mit einem Mordstheater. Aber wenn er bei diesem Auftrag Erfolg hatte, würde er vielleicht eine Gehaltserhöhung bekommen - oder gar befördert werden. Vielleicht könnte er den Posten als Leiter der Verkaufsabteilung erhalten, den sein Chef schon oft erwähnt hatte. Aber nie war etwas daraus geworden. Mary und er, Bobsie und Klein-Kit könnten vielleicht aus dem scheußlichen Haus in die Parkway Hights umziehen. Oder man könnte alle Rechnungen bezahlen für den neuen Wasserboiler, das Schulgeld, die Installation des Kühlschranks oder die Krankenhausrechnungen, die für Marys letzte Niederkunft noch offen waren. Oder doch nicht alles, überlegte Spencer. Nein, das täte er nicht einmal am Zahltag.
Doktor Baird versuchte sich zu entscheiden, ob er jetzt lieber schlafen oder einen Blick in die Bordzeitung der B. M. J. werfen sollte. Schließlich entschied er sich weder für das eine noch für das andere. Er dachte über die Kleinstadt nach, die er für ein paar Tage verlassen hatte. Ob Evans wohl allein durchkommen würde? Ein vielversprechender Junge - aber noch schrecklich jung. Er hoffte zu Gott, daß diese Mrs. Lowrie, die immer wieder kam, um ihre unsinnigen Patentmedizinen zu offerieren, ihm nichts aufhängen würde. Immerhin war ja Doris da, seine Frau, die den jungen Evans schon im Auge behalten würde. Die Frau des Doktors verstand so etwas wunderbar. Lewis würde im Laufe der Zeit auch die richtige Frau finden müssen... Der Doktor nickte ein bißchen ein. Als ihm die Zigarette die Finger verbrannte, schreckte er wieder hoch. Das Paar in den gegenüberliegenden Sitzen saß noch immer über den Sportzeitungen. Statt Joe Greer zu beschreiben, hätte man genausogut auch Hazel Greer schildern können. Beide hatten dieselbe rosige Haut und helle Augen, klar wie der blaue Himmel. Aber viel mehr ließ sich auch nicht von ihnen sagen. Ebensowenig könnte man die Geheimnisse des Universums beschreiben. „Barley-Zucker?" fragte Joe seine Frau, als das Bonbontablett präsentiert wurde. „Mhm", meinte Hazel. Mit vollen Backen kauend, ließen die beiden ihre braunhaarigen Köpfe wieder über die Magazine sinken. Die vier Männer dahinter tranken ihre dritte Runde Scotch aus Papierbechern. Drei von ihnen waren vom normalen Typ: kräftig, redselig, angriffslustig und nicht in der Lage, sich über zwei sicher bemerkenswerte Tage ein wenig zu freuen. Der vierte war ein kleiner, dünner, armseliger Mann von geradezu kläglichem Aussehen und undefinierbarem Alter. Er sprach einen kräftigen Lancashire-Akzent. „Auf morgen", sagte er und stieß mit den Freunden den Papierbecher an. Die anderen pflichteten bei. Einer von ihnen zog sich den Rockaufschlag zurecht, dann reichte er sein Zigarettenetui herum und bemerkte: „Kein Gedanke daran, daß wir das Spiel nicht machen. Aber als wir in Toronto in diesem verdammten Nebel warten mußten, sagte ich mir: ,Andy', sagte ich, ,das ist eine dieser gräßlichen Sachen, die du dir ersparen mußt.' Immerhin haben wir nur ein paar Stunden Verspätung und können im Flugzeug ja immer noch etwas schlafen."
„Aber nicht, bevor wir gegessen haben", warf einer der anderen ein. „Ich sterbe vor Hunger. Wann bringen sie denn hier endlich was zu futtern?"
„Wird wohl bald soweit sein. Normalerweise gibt's um acht Uhr Essen, aber durch den Aufenthalt sind sie natürlich auch in Rückstand gekommen."
„Macht nichts. Trinkt einen Schluck in der Zwischenzeit", sagte der Lancashire-Mann, der auf den Spitznamen Otpot hörte, und reichte eine Flasche herum. „Langsam, Boy. Wir haben nicht mehr allzuviel davon. "
„Ach - dort, wo der herkommt, gibt's noch eine ganze Menge. Trinkt nur. Ihr werdet danach gut schlafen. " Die übrigen 56 Passagiere, darunter drei oder vier Frauen, lasen oder unterhielten sich. Alle freuten sich auf das große Spiel von morgen. Und alle waren ein wenig ungeduldig, die letzte Etappe der transkontinentalen Reise bald hinter sich zu bringen. Durch die Fenster der rechten Seite war das blinkende Blau und Gelb der Lichter der letzten Vorstädte von Winnipeg zu sehen, ehe das Flugzeug, das immer weiter stieg, in den Wolken verschwand.
In der kleinen, aber gut eingerichteten Kombüse bereitete die Stewardeß, Janet Benson, alles für das Essen vor, das eigentlich schon vor zwei Stunden hätte serviert werden sollen. Der Spiegel über dem Gläserschrank reflektierte ihr vergnügtes Gesicht. Immer beim Beginn eines Fluges empfand sie eine dankbare Überschwenglichkeit. Doch sie war stets bemüht, sie in den vier Wänden ihrer kleinen Kombüse zu verbergen. Sie nahm das nötige Geschirr aus den eingebauten Haltevorrichtungen und summte leise vor sich hin. Das Servieren war der letzte Teil ihrer Pflichten als Stewardeß, und Janet wußte, daß es für ein Flugzeug voll hungriger Mägen ziemlich spät war. Trotzdem war sie zufrieden und glücklich. Viele ihrer Fluggäste sahen ihr nach und beobachteten das lockere Spiel ihrer blonden Haare, die unter dem Mützchen hervorlugten. Die graziösen Bewegungen ihres schlanken Körpers erweckten in ihr, während sie eifrig den Gang auf und ab eilte, regelrechtes Selbstvertrauen. Janet, einundzwanzig Jahre alt, begann gerade erst zu leben. Sie fand es herrlich.
Vorn in der Pilotenkabine herrschte nur ein einziger Ton: das gleichmäßige Gedröhn der Motoren. Beide Piloten saßen, abgesehen von einer gelegentlichen Arm- oder Beinbewegung, völlig regungslos. Ihre Gesichter waren nur vom schwachen Lichtschein der Armaturen erhellt. Aus den Kopfhörern, die ihre Ohren halb bedeckten, tönte das Krächzen der Unterhaltung zwischen einem anderen Flugzeug und einer Bodenfunkstation. Um die Nacken der beiden Piloten lag ein kleiner Haltearm, an dem das Mikrophon befestigt war. Captain Dunning streckte sich im Sitz aus, ließ einen Moment die Muskeln spielen und blies durch den Schnurrbart, der überall bekannt war. Dunning schien älter als nur 31 Jahre.
„Wie ist die Zylinderkopftemperatur von Motor drei, Pete?" fragte er, und seine Augen streiften flüchtig den Ersten Offizier.
Pete starrte auf das Instrumentenbrett. „Okay, Captain. Ich habe in Winnipeg alles geprüft, konnte aber nichts feststellen. Es sieht so aus, als hätte sich's von selbst geregelt. Er wird jetzt nicht mehr zu warm."
„Gut." Dun starrte in den nächtlichen Himmel. Dünner Mondschein blinkte durch die Wolkenbänke, die aussahen wie zerzauste Baumwollballen. Gelegentlich tauchte das Flugzeug in grauweiße Wolken ein, um nach ein oder zwei Sekunden wie ein aus dem Wasser steigender Spaniel, der sich schüttelt, wieder aufzutauchen. „Mit ein bißchen Glück werden wir durchkommen", kommentierte er. „Der Wetterbericht war annehmbar. Bei diesen Vergnügungsreisen kann man sich meistens nicht genau an den Flugplan halten. "
„Sicher", bestätigte der Erste Offizier. „In einem Monat wird es anders werden."
Das Flugzeug begann zu stampfen und zu ächzen, als es durch Böen flog, und der Captain konzentrierte sich darauf, die Maschine in der richtigen Lage zu halten. Dann bemerkte er: „Schaust du dir in Vancouver das Spiel an, wenn du Zeit dazu hast?" Der Erste Offizier zögerte mit der Antwort. „Ich weiß noch nicht. Mal sehen, wie's läuft."
Der Captain warf ihm einen scharfen Blick zu. „Was heißt das? Wie was läuft? - Wenn du die Augen auf Janet geworfen haben solltest, kannst du sie getrost wieder wegnehmen. Sie ist zu jung, um unter den miserablen Einfluß eines Windhundes, wie du einer bist, zu kommen." Es gab jedoch Leute, die über den netten jungen Mann mit den verträumten Augen, der noch in den zwanziger Jahren war, anders dachten. „Langsam, Captain", protestierte er und wurde rot. „Ich habe in meinem ganzen Leben noch keinen Menschen verdorben."
„Das klingt zu schön, um wahr zu sein. Also fang mit Janet nichts an!" Der Captain grinste. „Das halbe Luftpersonal von Canada versucht unentwegt, von ihr ein Rendezvous zu bekommen. Mach dir das Leben nicht schwer, du Dummkopf."
Vier Meter von ihnen entfernt, auf der anderen Seite der Schiebetür, nahm das Objekt dieser Unterhaltung die Bestellungen für das Abendessen entgegen.
„Möchten Sie jetzt essen, Sir?" fragte sie mit liebenswürdigem Lächeln.
„Äh - was ist? O ja, bitte." Baird fand in die Gegenwart zurück und stieß Spencer an, der eingeschlafen war. „Aufwachen! Wollen Sie nichts essen?" Spencer gähnte und kam langsam zu sich. „Klar! Sie sind ziemlich spät mit dem Essen dran, Miß, was? Ich dachte, ich hätte es längst verschlafen."
„Wir wurden in Toronto aufgehalten, Sir, und konnten das Abendessen nicht rechtzeitig servieren. Was wünschen Sie? Es gibt Lammfleisch oder gebackenen Salm."
„Ja, bitte."
Janet mußte ein Lächeln verbergen. „Was bitte, Sir?" fragte sie geduldig.
Endlich kam Spencer vollends zu sich. „Entschuldigen Sie, Miß, Lamm bitte."
„Ich auch", sagte Baird.
Janet war für die nächste halbe Stunde voll damit beschäftigt, das Essen vorzubereiten und allen zu servieren. Fast jeder hatte Hunger gehabt. Endlich war sie fertig und konnte das Bordtelefon abnehmen. Sie drückte auf den Knopf, der die Verbindung mit den Piloten herstellte.
„Pilotenkabine", kam die Stimme von Pete. „Ich bin mit dem Servieren fertig", sagte Janet. „Immer noch besser so spät als nie. Was soll's sein: Lamm oder gebackener Salm?"
„Moment." Sie hörte, wie Pete dem Captain die Frage weitergab. „Janet", meinte er dann, „der Captain sagt, er möchte Lamm. Nein - Moment, er hat sich's anders überlegt. Ist der Fisch gut?"
„Schaut gut aus", sagte Janet. „Ich habe jedenfalls keine Klage gehört."
„Für den Captain also Salm. Ich glaube, wir nehmen alle beide Salm. Es wird uns gut tun. Wir sind nämlich im Wachstum begriffene Knaben, die kräftiges Essen brauchen."
„Gut, also doppelte Portionen wie üblich. Zweimal Fisch."
Schnell machte sie die beiden Tabletts fertig und balancierte eins davon den Gang entlang nach vorn. Geschickt glich sie im Gehen die bockenden Bewegungen des Flugzeugs aus. Pete öffnete ihr die Tür und nahm ihr das Tablett ab. Der Captain hatte inzwischen die automatische Steuerung eingeschaltet und die erforderliche Sprechfunk-Meldung bereits halb durchgegeben. Er sprach mit der Luftraum-Kontrolle von Winnipeg: „... Höhe 16 000 Fuß. Rechtsweisender Kurs 285 Grad. Geschwindigkeit 210 Knoten. Geschwindigkeit über Grund 174 Knoten. Voraussichtliche Ankunftszeit in Vancouver 05.05 nach Pazifik Standard-Zeit - Ende." Er schaltete von Sendung auf Empfang, und sofort tönte ein deutlich hörbares Krächzen aus dem Kopfhörer: „Flug 714. Hier ist Winnipeg Control. Verstanden - aus."
Dun nahm das Logblatt, machte eine Eintragung, rutschte mit dem Sitz zurück, um von der Steuerung freizukommen und sie trotzdem jederzeit leicht erreichen zu können, falls es nötig wurde, wieder mit der Hand zuzugreifen. Pete begann zu essen. Geschickt balancierte er das Tablett auf den Knien. „Es dauert nicht lange, Captain", sagte er. „Wir haben keine Eile", sagte Dun und streckte die Arme über dem Kopf aus, soweit es die enge Kabine erlaubte. „Ich kann warten. Iß nur in Ruhe. Wie ist der Fisch?"
„Nicht schlecht", nuschelte der Erste Offizier mit vollem Mund. „Wenn wir drei- oder viermal soviel Zeit hätten, wär's sogar ein verteufelt gutes Essen."
Der Captain lachte vor sich hin. „Paß auf deine Figur auf, Pete." Dann drehte er sich zur Stewardeß um, die hinter dem Sitz wartete. „Hinten alles in Ordnung, Janet? Wie geht's den Fußball-Fans?" Janet lächelte. „Momentan sind sie ruhig. Das lange Warten in Toronto hat sie müde gemacht. Vier von ihnen sind vom Scotch so fertig, daß man nicht mit ihnen reden kann. Man muß ein bißchen auf sie aufpassen, wenn sie jetzt auch wie friedliche Nachtengel aussehen."
Pete zog gedankenvoll die Augenbrauen in die Höhe. „Oha, Mädchen. Das ist eine Nacht, in der man aufpassen muß, daß kein Malheur passiert."
„Noch nicht", sagte Janet leichthin, „aber warnen Sie mich, wenn Sie das Steuer übernehmen, ich werde dann vorsorglich die Tüten zurechtlegen."
„Das geschieht dir recht", sagte der Captain schadenfroh. „Ich freue mich, daß Sie das gemerkt haben, Janet."
„Wie ist das Wetter?" fragte sie.
„Ordentlicher Nebel östlich der Berge, der sich fast bis Manitoba ausdehnt. Aber das stört uns nicht sonderlich, denke ich. Es wird ein relativ ruhiger Flug zur Küste werden."
„Gut. Halten Sie den Junior bitte vom Steuern ab, während ich den Kaffee serviere, ja?"
Bevor Pete etwas einwenden konnte, rauschte sie hinaus, ging durch den Passagierraum, nahm die Bestellungen für Kaffee auf. Kurze Zeit später brachte sie auch dem Captain sein Tablett. Dun nahm das Essen zu sich und schlürfte anschließend zufrieden und satt den Kaffee. Pete hatte die Steuerung übernommen und starrte auf die Instrumente, als der Captain sich schließlich erhob. „Schau zu, daß wir vorwärtskommen. Pete. Ich werde inzwischen mal unseren lieben Kunden gute Nacht sagen"
Pete nahm es zur Kenntnis, ohne sich umzudrehen. „Okay. Captain." Der Captain folgte Janet in das helle Licht der Passagierkabine, blinzelte und blieb zunächst bei Spencer und Baird stehen, die gerade ihre Tabletts an die Stewardeß zurückreichten. „Guten Abend", sagte Dun. „Alles in Ordnung?" Baird schaute auf. „Warum? Sicher, danke. Gutes Essen - wir hatten' s nötig."
„Das glaube ich. Es tut mir leid, daß es so spät wurde." Der Doktor schob die Rechtfertigung mit einer Handbewegung beiseite. „Nonsens. Blamage! Nur weil Toronto der Ansicht war, es hätte ein bißchen Nebel. Schön", er lehnte sich in die Polster zurück, „ich werde jetzt ein Nickerchen machen."
„Ich auch", schloß sich Spencer gähnend an. „Ich wünsche Ihnen eine angenehme Nacht", sagte Dun höflich und schaltete eigenhändig die Leselampe aus. „Die Stewardeß wird Ihnen Kissen bringen." - Er ging weiter nach hinten und wechselte hier und dort ein paar Worte mit den Passagieren. Einigen zeigte er, wie die Sitze verstellt werden konnten, anderen erklärte er etwas über die Fortbewegung von Flugzeugen, und wieder anderen gab er Auskunft über das Wetter.
„So", sagte Spencer. „Ich bin zum Schlafen bereit. Noch eins, Doktor: Sie haben's heute ganz gut getroffen. Wenigstens einmal sind Sie vor nächtlichen Telefonanrufen sicher..."
„Wie lange fliegen wir noch?" murmelte Baird schlaftrunken mit geschlossenen Augen. „Gute sieben Stunden. Am besten, man verschläft's. Gute Nacht."
„Gute Nacht, Doc", grunzte Spencer und schob sich das Kissen ins Genick. „Boy - bin ich müde!" Das Flugzeug dröhnte auf seinem Kurs vorwärts. Immer wieder wurde es von den dichten Wolken verschluckt. 16000 Fuß unter ihm schliefen die Prärien von Saskatchewan.
Dun hatte inzwischen das Whisky trinkende Quartett erreicht und verbot höflich für den Rest der Nacht den weiteren Konsum von Alkohol. „Sie wissen", sagte er mit entschuldigendem Lächeln, „daß es ohnehin nicht erlaubt ist. Lassen Sie bitte keine weiteren Flaschen mehr sehen - oder ich lasse Sie aussteigen und zu Fuß gehen!"
„Ist Kartenspielen auch verboten?" fragte einer der Vier und hob eine Taschenflasche gegen das nächste Lämpchen, um sie dann, an einen Mundwinkel gedrückt, vom letzten Tropfen zu befreien.
„Nicht unbedingt, sofern die anderen Passagiere nicht gestört werden", sagte Dun.
„Mir tut der arme Captain leid", sagte der Mann von Lancashire. „So was wie diese Nacht muß ein hartes Brot sein -he?"
„Übungssache", sagte Dun. „Nichts weiter als Gewohnheit."
„Kommt man wirklich eines Tages dahin, daß jeder Flug nur noch Routinearbeit ist?" fragte einer.
„Ja, sicher. Ich glaube schon. "
„Bis etwas passiert - eh?" meinte ein anderer. Es gab einen Heiterkeitsausbruch, während Dunning diese Vier wieder verließ. Nur der Lancashire-Mann erhitzt vom vielen Trinken, dachte noch einen Augenblick über seine eigenen Worte nach.