Annähernd vier Meilen über der Erde hielt das Flugzeug seinen Kurs.
So weit das Auge reichte, erstreckte sich das wallende Wolkenmeer. Es zog so langsam vorbei, daß es schien, als stünde das Flugzeug still. Es war eine kalte, leere, völlig verlassene Welt - und die silberne Wüste warf den Herzschlag der Maschinen grollend zurück. Normalerweise würden die kraftvollen Pulsschläge der Motoren durch die einsamen Täler der Rocky Mountains schallen. Heute nacht aber war ihr Gedröhn wegen des Bodennebels nicht laut genug, um jene, die dort unten in ihren Gehöften schliefen, zu stören. Hätte wirklich jemand das Flugzeug gehört - er würde es nicht beachtet haben, ja, es wäre keines Gedankens wert gewesen. Oder er hätte sich vielleicht gewünscht, selbst dort oben nach einem fernen Ort zu fliegen und die Aufmerksamkeiten der Besatzung zu genießen, deren erste Aufgabe seine Sicherheit und Bequemlichkeit war. Nicht im Traum hätte er sich vorstellen können, daß in diesem Flugzeug praktisch jeder gern und voller Dankbarkeit mit ihm den Platz getauscht hätte... Wie ein riesenhaftes Schlinggewächs schlug die Angst in den meisten Passagieren Wurzeln. Vielleicht waren einige darunter, die noch nicht ganz begriffen, was hier vorging. Aber die meisten - und vor allem jene, die das Stöhnen und Ächzen der Kranken hörten, fühlten die schreckliche Gefahr. Die Worte, die der Arzt über die Bordsprechanlage gesprochen hatte, gaben zu denken. Die Aufregung, die ihnen folgte, war bald abgeflaut und hatte Geflüster und unbehaglichen Gesprächen Platz gemacht, die nur in Bruchstücken laut wurden. Baird hatte Janet zwei Tabletten gegeben. „Für den Captain", sagte er mit tiefer Stimme. „Sagen Sie ihm, er soll soviel Wasser wie möglich trinken. Wenn er Gift im Körper hat, wird das Wasser es verdünnen. Anschließend soll er die Pillen nehmen. Sie werden Übelkeit verursachen - aber dazu sind sie da." Als Janet in die Pilotenkabine trat, war Dun gerade dabei, eine Radiodurchsage zu beenden. Er schenkte Janet ein verzerrtes Lächeln. Aber keiner von ihnen konnte den anderen täuschen.
„Hallo, Jan", sagte er. Seine Hände zitterten leicht. „Das kann noch eine nette Reise werden! Vancouver hat gerade nach Einzelheiten gefragt. Ich glaube, was sie gehört haben, wird sie ein wenig aufscheuchen. Wie steht's hinten?"
„Einigermaßen", sagte Janet so unbefangen wie möglich. Dann hielt sie ihm die Tabletten hin: „Der Doktor sagt, Sie sollen möglichst viel Wasser trinken und dann diese Pillen nehmen. Es wird Ihnen danach wahrscheinlich etwas grün werden..."
„Schöne Aussichten", sagte Dun. Er griff tief in die Sitztasche an seiner Seite und zog eine Wasserflasche hervor. „Also schön - dann mal runter damit." Nach einem langen Zug aus der Flasche schluckte er die Pillen und verzog das Gesicht. „Ich habe solche Dinger noch nie nehmen können. Und die hier schmecken einfach scheußlich." Janet blickte ihn besorgt an, wie er vor dem Instrumentenbrett mit den zitternden Zeigern und Uhren saß, vor den beiden Steuersäulen, die sich unter dem Einfluß des automatischen Piloten ruckartig vorwärts und rückwärts bewegten.
Sie berührte seine Schulter. „Wie fühlen Sie sich jetzt?" fragte sie.
Seine Blässe und die Schweißtropfen auf der Stirn entgingen ihr nicht. Sie redete sich selbst ein, daß es nur eine vorübergehende Überanstrengung sei. „Ich?" Sein Ton war unnatürlich herzlich. „Ich fühle mich wohl. Wie steht's mit Ihnen? Haben Sie auch schon Pillen geschluckt?"
„Ich brauche keine; ich habe Fleisch gegessen."
„Sie waren klug. Von jetzt an werde ich Vegetarier. Das ist auf jeden Fall sicherer." Er drehte sich im Sitz und schaute zum Ersten Offizier hinüber, der nun am Boden lag, den Kopf auf ein Polster gebettet. „Armer alter Pete", murmelte er. „Ich hoffe, alles geht noch gut!"
„Das hängt von Ihnen ab, nicht wahr, Captain?" sagte Janet mit eindringlicher Stimme. „Je schneller Sie die Maschine nach Vancouver bringen, um so schneller werden Sie ihn und die anderen ins Krankenhaus schaffen können." Sie beugte sich über Pete und zog seine Decke zurecht. Sie gab sich Mühe, die Tränen zurückzuhalten. Sie tat Dun leid, als er sie ansah. „Sie mögen ihn ganz gern, nicht wahr, Jan? " sagte er. Ihr blonder Kopf bewegte sich ein wenig. „Ich glaube schon", sagte sie. „Seit er im letzten Monat zur Besatzung kam. Und nun diese... diese... schreckliche Sache..." Sie nahm sich zusammen und sprang auf. „Ich habe noch viel zu tun. Ich muß eine Anzahl Nasen zuhalten, während der Doktor Wasser in die Kehlen schüttet. Es ist kein gerade angenehmes Geschäft..." Sie lächelte ihm flüchtig zu und öffnete die Tür zur Passagierkabine. Baird hatte inzwischen die Hälfte der Patienten auf der linken Seite verarztet und sprach gerade mit einem Ehepaar mittleren Alters, das nervös zu ihm aufblickte.
„Doktor", sagte die Frau eindringlich, „diese junge Dame, die Stewardeß - ich sehe sie ständig in die Pilotenkabine gehen. Geht es den Leuten dort gut? Ich meine, wenn die auch krank sind - was wird dann aus uns?" Sie klammerte sich an ihren Mann. „Hector, ich habe Angst! Ich wollte, wir hätten diese Reise nie gemacht."
„Liebste, nimm' s nicht so schwer", sagte ihr Mann mit einer Sicherheit, die zweifellos nicht ganz echt war. „Es besteht keine Gefahr. Ich bin sicher! Und bis jetzt ist ja nichts passiert." Mit großen Augen musterte er den Arzt: „Haben die Piloten nicht auch Fisch gegessen?"
„Nicht der ganze Fisch war unbedingt infiziert", antwortete Baird beruhigend. „Außerdem wissen wir noch gar nicht sicher, ob tatsächlich der Fisch die Ursache war. Sie brauchen sich deswegen nicht zu beunruhigen. Wir tun alles für die Besatzung, was möglich ist. Und nun zu Ihnen, Sir. Haben Sie Fisch oder Fleisch gegessen?" Die runden Kulleraugen des Mannes schienen fast aus den Höhlen zu treten. „Fisch", antwortete er gepreßt, „wir haben alle beide Fisch gegessen." Plötzlich wallte Entrüstung in ihm auf. „Es ist eine Schande, daß so etwas überhaupt passieren kann. Das sollte man anzeigen.."
„Ich kann Ihnen versichern, daß das auf jeden Fall geschehen wird - was auch passieren mag", sagte Baird und gab jedem von ihnen eine Tablette, die sie so zimperlich entgegennahmen, als seien sie hochexplosiv. „Man wird Ihnen gleich Wasser bringen. Bitte trinken Sie jeder drei Glas - wenn möglich vier. Anschließend nehmen Sie die Pille. Es wird Ihnen zwar schlecht werden - aber das ist ja der Zweck der Pillen. Machen Sie sich also keine Sorgen. Hier in den Sitztaschen sind die Papiertüten."
Er verließ das Paar, das wie hypnotisiert auf die Pillen starrte. Nach einigen Minuten erreichte der Arzt seinen eigenen leeren Platz neben Spencer. „Fleisch", sagte Spencer prompt, bevor Baird ihm eine Frage stellen konnte.
„Da haben Sie Glück", sagte der Doktor. „Einer weniger, um den man sich sorgen muß."
„Sie haben's nicht leicht, Doktor", kommentierte Spencer. „Könnten Sie meine Hilfe brauchen? "
„Ich könnte die Hilfe der ganzen Welt brauchen", grollte Baird. „Aber hier kann man nichts machen außer, Sie würden Miß Benson und dem anderen Burschen mit dem Wasser zur Hand gehen. "
„Gut." Spencer senkte die Stimme. „Da hinten scheint es jemandem mächtig schlecht zu gehen."
„Das scheint nicht nur so. Der Teufel soll's holen!" sagte Baird bitter. „Ich habe nichts dabei, das wirklich helfen könnte. Da fliegt man zu einem harmlosen Fußballspiel - wer denkt schon daran, daß ein Dutzend Leute unterwegs eine schwere Nahrungsmittelvergiftung bekommen könnten? Ich habe eine Spritze und Morphium bei mir - ich reise nie ohne diese Dinge -, aber hier würde es mehr Unheil anrichten als Gutes tun. Gott weiß, warum ich eine Packung Brechmittelpillen mitnahm. Aber ich glaube, es war gut so. Einige Dramamin wären jetzt nützlicher."
„Wozu sind die gut?"
„Bei dieser Krankheit ist das Gefährlichste die Tatsache, daß die Leute ihre Körperflüssigkeit verlieren. Eine Injektion Dramamin würde dazu beitragen, die Flüssigkeit zu erhalten."
„Das heißt, daß diese Krankheit einen Menschen systematisch austrocknet?"
„Genau." Spencer rieb sich das Kinn, als er diese Auskunft erhielt.
„Hm", sagte er. „Danken wir Gott für das Lammfleisch! Ich bin noch nicht darauf vorbereitet, meinen Körper ausdörren zu lassen."
Baird blickte ihn finster an. „Vielleicht sehen Sie etwas Komisches an der Situation", sagte er säuerlich. „Was ich sehe, ist die völlige Hilflosigkeit diesen kranken Leuten gegenüber, denen es immer schlechter geht."
„Nun knurren Sie mich nicht gleich an", protestierte Spencer. „Ich bin froh, daß wir nicht auch das Fisch-Dinner erwischt haben wie die anderen armen Teufel."
„Na ja, Sie mögen recht haben." Baird fuhr sich mit der Hand über die Augen. „Ich bin schon zu alt für so etwas", murmelte er halb zu sich selbst. „Was meinen Sie damit?"
„Nichts - nichts."
Spencer stand auf. „Doktor", sagte er. „Sie machen Ihre Sache großartig. Es ist ein Glück für die Leute, daß Sie an Bord sind."
„Schon gut, Junior", gab Baird sarkastisch zurück. „Sie können sich Ihr Verkaufsgespräch sparen. Ich falle nicht auf Ihre Komplimente herein."
Der Jüngere blinzelte ein bißchen. „Gut. Sagen Sie mir, was ich tun kann. Ich habe schön meinen Sitz gewärmt, während Sie hart arbeiten mußten. Sie sind müde."
„Müde? Nein." Baird legte die Hand auf Spencers Arm. „Sorgen Sie sich nicht um mich. Ich wollte Sie auch nicht kränken. Wenn man weiß, was getan werden müßte - es aber nicht tun kann -, dann wird man ein wenig grob."
„Okay", sagte Spencer grinsend. „Ich bin froh, daß ich doch noch zu etwas nützlich bin."
„Ich werde Miß Benson sagen, daß Sie ihr helfen wollen. Wenn aber alles Wasser schon ausgegeben ist, dann bleiben Sie lieber, wo Sie sind. Im Gang spielt sich ohnehin schon viel zuviel Verkehr ab."
„Wie Sie wollen. Ich bin jederzeit bereit, wenn Sie mich brauchen", sagte Spencer und setzte sich wieder. „Aber sagen Sie: Wie ernst ist die Sache eigentlich?" Baird schaute ihm in die Augen. „Schlimmer, als Sie es sich je wünschen würden", antwortete er kurz. Er ging zu den Fußballfans, die den Abend mit Whisky begonnen hatten. Das Quartett war nun auf drei zusammengeschmolzen. Einer von ihnen war in Hemdsärmeln und hüllte sich fröstelnd in eine Decke. Seine Gesichtsfarbe war grau.
„Halten Sie ihn warm", sagte Baird. „Hatte er schon was zu trinken? "
„Daß ich nicht lache! " sagte ein Mann hinter ihm, der ein Päckchen Spielkarten mischte. „Er hat sogar allerhand hinter die Binde gekippt, wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf."
„Vor oder nach dem Essen?"
„Beides, glaube ich."
„Das stimmt", bestätigte ein anderer der Gruppe. „Und ich dachte, Harry würde den Schnaps bei sich behalten."
„In diesem Fall war es gut für ihn", sagte Baird. „Tatsächlich hat er damit das Gift verdünnt. Hat jemand von Ihnen noch Schnaps?"
„Meiner ist alle", sagte der Mann mit den Karten. „Moment", meinte der andere, beugte sich vor und griff nach seiner Gesäßtasche. „Es kann noch was in der Flasche sein. Aber während wir in Toronto warteten, haben wir uns rangehalten... "
„Geben Sie ihm ein paar Schluck", sagte Baird. „Aber vorsichtig! Ihr Freund ist sehr krank."
„Sagen Sie, Doktor", fragte der Mann mit den Karten, „was ist eigentlich los? Sind wir noch fahrplanmäßig?"
„Soviel ich weiß, ja."
„Andy muß einen hohen Preis für das Fußballspiel zahlen, was?"
„Sicher. Wir werden ihn in ein Krankenhaus bringen müssen, sobald wir gelandet sind."
„Armer alter Andy", sagte der Mann mit der Taschenflasche, während er den Deckel aufschraubte. „So oder so - er hat immer Pech. He -", unterbrach er sich, als ihm ein Gedanke kam, „Sie sagten, es geht ihm sehr schlecht. Aber er wird doch wieder?"
„Ich hoffe. Sie würden gut daran tun, etwas auf ihn aufzupassen, wie ich schon sagte. Und geben Sie acht, daß er sich nicht aus den Decken wickelt."
„Komisch, daß Andy das passieren muß. Was macht Otpot, der Lancashire-Bursche? Konnten Sie ihn brauchen?"
„Ja, er hilft uns." - Als Baird wegging, mischte der Mann gedankenvoll das Kartenspiel, das er in der Hand hielt, und wollte von seinem Freund wissen: „Wie findest du unsere Ferienreise?"
Weiter hinten fand Baird Janet besorgt über Mrs. Childer gebeugt. Er hob ein Augenlid der Frau. Sie war bewußtlos.
Ihr Mann fragte sofort: „Wie geht es ihr?"
„Es ist auf jeden Fall besser so, als wenn sie die Schmerzen mit vollem Bewußtsein ertragen müßte", sagte Baird. Er hoffte, daß sein Tonfall überzeugend wirkte. „Wenn der Körper etwas nicht mehr ertragen kann, läßt die Natur den Vorhang herunter."
„Ich habe Angst, Doktor. Ich habe sie noch nie so krank erlebt. Was ist eigentlich eine Fischvergiftung? Wozu führt sie? Ich weiß nur, daß es Fisch war - aber warum? "
Baird zögerte. „Tja", sagte er langsam, „ich glaube, ich muß es Ihnen sagen. Es ist eine sehr erns thafte Krankheit, die man möglichst frühzeitig behandeln muß. Wir tun hier alles, was im Augenblick in unseren Kräften steht."
„Ich weiß, Doktor, und ich bin Ihnen dankbar dafür. Sie wird doch sicher wieder gesund, nicht wahr? Ich meine... "
„Bestimmt", sagte Baird vorsichtig. „Versuchen Sie, sich nicht aufzuregen. Am Flugplatz stehen Krankenwagen, die Ihre Frau sofort ins Krankenhaus bringen werden. Und dann ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis sie wieder ganz gesund ist."
„Mein Gott", sagte Childer mit einem tiefen Atemzug, „es tut gut, das von Ihnen zu hören!" Ja, dachte Baird, - wenn ich den Mumm hätte, ihnen die Wahrheit zu sagen... „Hören Sie", schlug Childer vor, „können wir nicht abbiegen - Sie verstehen? Ich meine, auf einem nähergelegenen Flugplatz landen?"
„Wir haben auch daran gedacht", antwortete Baird. „Aber wir haben Bodennebel, der eine Landung auf einem anderen Platz höchst gefährlich machen würde. Außerdem sind wir schon über den Rocky Mountains. Am schnellsten bringen wir Ihre Frau in gute Obhut, wenn wir direkt nach Vancouver fliegen."
„Aha. - Sie glauben immer noch, es war der Fisch, Doktor?"
„Momentan kann ich noch keine sicheren Schlüsse ziehen. Aber ich nehme es an. Lebensmittelvergiftung kann entweder durch verdorbene Speisen an sich hervorgerufen werden - der medizinische Name dafür ist Staphylokokken-Vergiftung - oder dadurch, daß während der Zubereitung ein Giftstoff hineingeriet. "
„Doktor", fragte ein Passagier, der sich aufgerichtet hatte, um Bairds Worte zu hören, „was glauben Sie, könnte es sein?"
„Ich bin nicht sicher, aber die Symptome, die sich bei den Leuten hier zeigen, erwecken den Verdacht, daß das zweite wahrscheinlicher ist als das erstere. Eine Giftsubstanz..."
„Sie wissen nicht, was es ist?"
„Keine Ahnung. Wir wissen nichts, bevor wir keine exakten Versuche im Labor machen können. Bei den modernen Methoden und besonders bei der Sorgfalt, mit der die Luftlinien die Speisen zubereiten, ist die Möglichkeit, daß etwas Derartiges passiert, nicht größer als eins zu einer Million. Wir hatten einfach Pech. Ich kann Ihnen nur versichern, daß unser heutiges Abendessen nicht vom üblichen Lieferanten stammte. Irgend etwas ist schiefgegangen, weil wir in Winnipeg so spät eintrafen, und so hat uns eine andere Firma beliefert. Das kann -vielleicht - die Ursache sein." Childer nickte. Er dachte über das Gespräch nach. Eigenartig, daß sich Leute durch die Worte eines Mediziners beruhigen lassen, überlegte der Arzt seinerseits selbstkritisch. Selbst wenn man als Arzt schlechte Nachrichten bringt, ist die Tatsache, daß sie von ihm kommen, beruhigend: Er ist der Arzt! Er wird also dafür sorgen, daß nichts Schlimmes geschieht! Vielleicht sind wir gar nicht soweit vom Hexenglauben entfernt, dachte Baird. Er spürte leisen Ärger darüber in sich aufsteigen. Immer ist es der Arzt mit seinen »Zauberkräften«, der wieder eine Art Aberglauben erweckt. Den größten Teil seines Lebens hatte er, Baird, damit verbracht, zu pflegen, einzurenken, leichter darzustellen, als es wirklich war, schönzutun, Angst zu nehmen und Vertrauen zu erwecken, auf sein Können zu hoffen und auf seine Geschicklichkeit. Dies aber konnte der Augenblick der Wahrheit sein, die letzte, unabänderliche Aufgabe, von der er immer gewußt hatte, daß er ihr eines Tages gegenüberstehen würde.
Baird spürte plötzlich Janet neben sich. Er sah sie fragend an und bemerkte, daß sie unmittelbar vor einem hysterischen Ausbruch stand.
„Zwei weitere Passagiere sind krank geworden - dort hinten."
„Sind Sie sicher, daß es nicht nur an den Pillen liegt?" fragte er zurück.
„Ja, ziemlich sicher."
„Okay. Ich gehe gleich hin. Würden Sie nochmals nach dem Ersten Offizier sehen, Miß Benson? Vielleicht will er noch etwas Wasser haben."
Schnell hatte er die beiden neuen Kranken erreicht und begann seine Untersuchung, bevor Janet zurückkam. „Doktor", sagte sie, „ich bin schrecklich beunruhigt. Ich glaube, Sie sollten... "
Das Summen in der Bordverständigungsanlage durchschnitt messerscharf ihre Worte. Sie stand wie am Boden angenagelt. Baird war es, der sich zuerst rührte. „Erschrecken Sie nicht", stieß er hervor. „Schnell!" Baird raste mit einer ihm selbst fremden Schnelligkeit an den Sesselreihen vorbei und stürzte in die Pilotenkabine. Dort hielt er einen Augenblick inne, während sich Augen und Gehirn bemühten aufzunehmen, was hier geschehen war. Dann begriff er, und eine Stimme in ihm sagte: ,Du hast recht gehabt. - Jetzt ist es soweit...'
Der Captain war in seinem Sitz zusammengesunken. Schweiß bedeckte sein Gesicht und färbte den Kragen der Uniform dunkel. Eine Hand hielt er auf den Magen gepreßt, die andere drückte auf den Bordverständigungsknopf neben sich.
Mit zwei Schritten war der Doktor hinter ihm und beugte sich über die Lehne des Sitzes, wobei er ihn unter den Armen packte.
Dun fluchte mit zusammengebissenen Zähnen vor sich hin.
„Langsam, langsam", sagte Baird. „Wir nehmen Sie wohl am besten hier weg."
„Ich... Was sagten Sie?" Dun keuchte, schloß die Augen und preßte die Worte stoßweise hervor: „Es ist zu spät... Geben Sie mir was, Doktor... Geben Sie mir schnell was... Ich muß durchhalten... Ich muß uns doch runterbringen... Der Autopilot ist eingeschaltet, aber... Muß uns doch runterbringen... Muß der Control sagen... Muß melden..."
Seine Lippen bewegten sich in verzweifelter Anstrengung. Dann verdrehte er die Augen und wurde bewußtlos. „Schnell, Miß Benson", rief Baird. „Helfen Sie mir, ihn rauszuheben."
Mit Mühe zerrten sie den schweren Körper Duns vom Pilotensitz und legten ihn auf den Boden neben den Copiloten. Eilig zog Baird sein Stethoskop aus der Tasche und untersuchte ihn. In Sekundenschnelle hatte Janet Mäntel und Decken ausgebreitet, und sobald der Doktor fertig war, machte sie für Dun ein Lager zurecht und hüllte ihn ein.
Sie zitterte, als sie sich wieder erhob. „Können Sie tun, was er verlangte, Doktor? Können Sie ihn wieder zu sich bringen, damit er landen kann?" Baird steckte seine Instrumente in die Tasche. Er sah nach den Geräten und Schaltern, nach den Steuersäulen, die sich noch immer aus eigener Kraft bewegten. Im Schein des gedämpften Lichts der Instrumente sah er plötzlich viel älter und sehr beunruhigt aus. „Sie gehören zur Besatzung, Miß Benson, grob gesagt!" Seine Stimme war so hart, daß das Mädchen zusammenfuhr. „Können Sie sich vorstellen, was jetzt passiert...?"
„Ich glaube ja. Ich..." Sie schwankte. „Sehr gut. Wenn ich all diese Leute nicht schnell - sehr schnell - in ein Krankenhaus bringen kann, bin ich nicht sicher, ob sie zu retten sind."
„Aber das ist doch alles furchtbar..."
„Sie brauchen Stimulanzien, intravenöse Einspritzungen gegen Schocks. Der Captain auch. Er hat zu lange durchgehalten."
„Geht's ihm sehr schlecht?"
„Es wird bald kritisch werden. Das gilt auch für alle anderen."
Janet wisperte kaum hörbar: „Doktor - was sollen wir bloß machen? "
„Eine Frage: Wieviel Passagiere haben wir insgesamt an Bord?"
„Sechsundfünfzig", antwortete. Janet. „Wieviel Fisch-Dinners haben Sie serviert?" Janet versuchte sich zu erinnern. „Ungefähr fünfzehn, glaube ich. Der größte Teil der Passagiere hat Fleisch gegessen. Einige nahmen gar nichts, weil es schon so spät war."
„Aha."
Baird schaute sie an. Als er wieder sprach, war seine Stimme rauh, ja, fast kriegerisch: „Miß Benson, haben Sie schon mal was von ,long odds' gehört?" Janet versuchte zu begreifen: „Long odds? Ja, ich glaube. Aber ich weiß nicht, was es bedeutet."
„Ich will es Ihnen erklären", sagte Baird. „Wir haben nur eine Chance zum Überleben: nämlich dann, wenn sich an Bord dieses Flugzeuges ein Mensch befindet, der erstens nicht nur fähig ist, die Maschine zu landen, sondern obendrein auch keinen Fisch gegessen hat..." Seine Worte schienen zwischen ihnen zu hängen, während sie sich reglos gegenüberstanden und einander anstarrten.