Der Captain hatte seine Runde im Passagierraum fast beendet und war froh, sich einige Augenblicke lang in Ruhe mit einem kleinen Mann unterhalten zu können, der schon ein paarmal mit ihm geflogen war. „Ich weiß", sagte er und strich sich über den buschigen Schnurrbart, „das sieht ein bißchen nach Air Force aus. Aber ich hab ihn nun schon so lange, ich könnte mich nicht mehr von ihm trennen. Er ist ein alter Freund geworden, wissen Sie."
„Ich bin überzeugt, daß man mit solch einem Bart bei den Mädchen Bombenerfolg hat", sagte der kleine Mann. „Wie nennt man Sie? Biber?"
„Aber nein", meinte Dun mit dem Anflug eines Grinsens. „Wir sind bei unserer Linie alle ein bißchen eingebildet. Die meisten sagen ,Dun' zu mir, oft auch ,Dunsinande'."
„Wie?" fragte der kleine Mann erstaunt. „Dunsinande", wiederholte der Captain bedächtig. „Das kennen Sie doch sicher? Wo haben Sie Ihren Macbeth gelassen?"
Der kleine Mann starrte ihn verständnislos an. „Wo ich meinen Macbeth gelassen habe?" wiederholte er unsicher. „Was wollen Sie damit sagen?" Der Captain stand auf. Während der Unterhaltung hatte er die Stewardeß beobachtet, die ein wenig weiter vorn über eine Dame gebeugt stand und ihr die Hand auf die Stirn legte. Als Dun neben sie trat, klammerte sich die Dame eher liegend als sitzend in ihren Sessel. Ihr Kopf war gegen das Polster zurückgefallen, und sie schnitt merkwürdige Grimassen. Qualvoll zogen sich ihre Augen zusammen.
Der Captain berührte die Stewardeß leicht am Arm.
„Ist was los, Miß Benson?"
Janet richtete sich auf. „Die Dame verträgt das Wetter nicht besonders, Captain", sagte sie leise. „Ich werde ihr ein Aspirin geben. Ich komme gleich wieder."
Dun trat näher und beugte sich über die Frau und den Mann, der neben ihr saß. „Es tut mir leid, das zu hören", sagte er mitfühlend. „Woran kann das nur liegen?"
Die Dame starrte ihn an. „Ich - ich weiß nicht", sagte sie mit schwacher Stimme. „Mir ist plötzlich gar nicht gut. Erst seit ein paar Minuten. Ich fühle mich krank und zerschlagen, und ich habe abscheuliche Schmerzen hier..." Sie deutete auf ihren Magen. „Es tut mir leid, daß ich Ihnen Umstände mache. Ich... "
„Na, na, Süße", murmelte der Mann daneben. „Bleib still liegen, dann wird's bestimmt besser." Er blickte den Captain an: „Ein bißchen Luftkrankheit vermutlich? "
„Vermutlich, Sir", bestätigte Dun. Gedankenvoll sah er auf die Dame hinunter und bemerkte, daß sich auf ihrer Stirn kleine Schweißperlen bildeten. Ihr Haar war wirr.
Als sie mit einer Hand nach der Sessellehne griff und sich mit der anderen an ihren Mann klammerte, sah Dun, daß ihre Handgelenke schneeweiß waren.
„Es tut mir schrecklich leid, daß es Ihnen nicht gut geht", wiederholte er. „Aber ich bin sicher, die Stewardeß kann Ihnen gleich helfen. Versuchen Sie, sich, so gut es geht, zu entspannen. Wenn es Sie beruhigt, kann ich Ihnen versichern, daß es so aussieht, als würden wir gleich einen ganz ruhigen Flug haben."
Er trat beiseite, um Janet Platz zu machen. „Jetzt haben wir's gleich", sagte die Stewardeß und reichte der Dame die Tabletten. „Nehmen Sie." Sie stützte der Dame den Kopf, um ihr beim Trinken des Wassers behilflich zu sein. „So, fein. Nun wollen wir es uns ein bißchen bequemer machen, ja?" Damit breitete sie eine Decke über die Frau. „Besser?" Die Dame nickte dankbar. „Ich komme gleich zurück, um zu sehen, wie es Ihnen geht", sagte die Stewardeß. „Bitte genieren Sie sich nicht, die Tüte zu nehmen, wenn Sie merken, daß Ihnen schlecht wird.
Und wenn Sie mich brauchen, dann drücken Sie bitte nur auf den Knopf dort am Fenster. "
„Danke, Miß", sagte der Ehemann. „Ich bin sicher, sie wird sich bald wieder wohl fühlen. " Mit einem kleinen Lächeln sah er seine Frau an, um sie zu beruhigen. „Versuch zu schlafen, Liebste, es wird vorübergehen."
„Ich hoffe auch", sagte der Captain. „Ich weiß, wie unangenehm so etwas sein kann. Hoffentlich geht es Ihnen bald besser, Madame. Ich wünsche, daß Sie trotzdem noch eine angenehme Nacht haben." Er ging vollends durch den Gang und erwartete Janet in der Kombüse. „Wer sind diese Leute?" fragte er, als die Stewardeß kam.
„Mr. und Mrs. Childer - John Childer. Bis vor einer Viertelstunde war sie kerngesund."
„Hm. Ich glaube, es ist gut, wenn Sie mir - falls es schlimmer wird - sofort Bescheid sagen, damit ich über Funk versuchen kann... "
Janet blickte ihn kurz an. „Warum? Woran denken Sie eigentlich, Captain?"
„Weiß nicht. Mir gefällt's nicht, wie die Frau aussieht. Es kann Luftkrankheit sein oder nur ein Gallenanfall möglich. Aber es sieht so aus, als ginge es ihr verdammt schlecht." Der Captain sah beunruhigt aus. Seine Finger trommelten geistesabwesend auf den Metallbeschlag des Tisches. „Haben wir einen Arzt an Bord?"
„In der Liste ist niemand als Doktor eingetragen", antwortete Janet, „aber ich könnte ja herumfragen." Dun schüttelte den Kopf. „Machen Sie jetzt niemanden nervös. Die meisten sind im Begriff, einzuschlafen. Lassen Sie mich in einer halben Stunde wissen, wie es ihr geht." Als er sich zum Gehen wandte, senkte er die Stimme. „Das Dumme ist, daß wir noch über vier Stunden fliegen müssen, bis wir die Küste erreichen." Im Vorbeigehen blieb er nochmals einen Moment bei der kranken Dame stehen und lächelte ihr aufmunternd zu. Sie versuchte, zurückzulächeln, aber die Schmerzen verkrampften ihre Augenlider. Wieder sank sie in sich zusammen. Dun blieb ein paar Sekunden stehen und beobachtete sie genau. Dann ging er weiter, schloß die Tür des Cockpit hinter sich und schlüpfte auf seinen Sitz. Er nahm die Mütze ab, dann griff er nach Kopfhörer und Mikrophon.
Pete flog selbst. Er hatte die automatische Steuerung wieder ausgeschaltet. Zerrissene Wolkenbänke fegten an den Fenstern vorüber, bedeckten sie einen Moment und ließen sie dann wieder frei.
„Cumulus-Nimbus, sehr hübsch aufgebaut", kommentierte der Erste Offizier die Art der Wolken. „Wird ' ne rauhe Sache", meinte Dun. „Sieht ganz danach aus."
„Ich übernehme jetzt wieder das Steuer. Es wird besser sein, wir gehen darüber. Fragen Sie nach, ob wir auf 20000 Fuß fliegen dürfen, ja?"
„Okay." Pete drückte auf den Mikrophonknopf und schaltete damit die Sendeanlage ein. „714 an Regina Radio", rief er.
„Sprechen Sie, 714", kam eine krächzende Stimme aus dem Kopfhörer.
„Wir sind mitten in schwerem Wetter. Bekommen wir die Erlaubnis, auf 20 000 Fuß zu steigen? - Ende."
„714 - warten Sie! Ich frage bei ATC[1] nach."
„Danke", gab Pete zurück.
Der Captain lugte in die turbulenten Wolkenaufbauten. „Es ist am besten, wir sagen Janet, daß sich die Passagiere anschnallen sollen, Pete", meinte er, während er konzentriert, aber ganz automatisch die Tendenz des Flugzeugs, auf und ab zu holpern, ausglich. „Okay", sagte Pete und griff nach dem Bordtelefon, das hinter ihm hing. Das Flugzeug schüttelte sich kurz, als es einen Wolkenturm verließ, um gleich wieder in einen anderen einzutauchen.
„Flug714", kam die Stimme aus dem Kopfhörer. „ATC gibt Ihnen die Erlaubnis, auf 20 000 Fuß zu gehen - Ende."
„714", bestätigte Pete vorschriftsmäßig. „Danke - aus."
„Dann wollen wir mal", sagte der Captain. Das Geräusch der Motoren wurde tiefer und intensiver, als das Flugzeug zu steigen begann. Die Nadel am Variometer, einem Gerät, das die Steiggeschwindigkeit anzeigt, pendelte ein wenig und zeigte dann bald das Steigen der Maschine um 500 Fuß pro Minute. Der langarmiga Scheibenwischer pendelte rhythmisch von einer Seite zur anderen.
„Ich hätte nichts dagegen, wenn wir endlich aus diesem verdammten Dreck heraus wären", meinte der Erste Offizier.
Dun antwortete nicht. Seine Augen starrten in die Wolkenfront, die vor ihnen lag. Keiner der Piloten hörte, daß die Stewardeß eintrat. Sie berührte den Captain an der Schulter.
„Captain", sagte sie eindringlich, jedoch mit beherrschter Stimme, „die Frau! Es geht ihr immer noch nicht besser. Und jetzt ist ein zweiter Passagier krank geworden - einer der Männer."
Dun wandte sich nicht um. Er streckte einen Arm aus und schaltete die Landescheinwerfer an. Ihr greller Strahl bohrte sich scharf in das Gemisch aus Regen und Schnee. Dann drehte er die Lichter wieder aus und begann die Motoren zu regulieren und die Enteisungsanlage in Betrieb zu setzen.
„Ich kann jetzt momentan nicht kommen, Janet", sagte er und hantierte weiter. „Sie sollten doch schauen, ob nicht ein Arzt unter den Passagieren ist. Und sorgen Sie dafür, daß sich die Leute anschnallen. Es kann ziemlich bockig werden. Ich komme, sobald ich kann. "
„Ja, Captain."
Als Janet aus dem Cockpit kam, sagte sie mit einer Stimme, die gerade laut genug war, daß die Passagiere, an denen sie vorüberging, sie hörten: „Bitte schnallen sie sich an. Es wird ein wenig böig werden." Sie beugte sich über die ersten beiden Passagiere zu ihrer Rechten. „Entschuldigen Sie", sagte sie leise, „aber ist einer der Herren zufällig Arzt?"
Der Mann, der ihr am nächsten saß, schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, nein", grunzte er. „Ist was nicht in Ordnung?"
„Es ist nichts Besonderes."
Ein Schmerzensschrei ließ sie herumfahren. Sie eilte über den Gang zu dem Platz, auf dem die kranke Frau im Arm ihres Mannes lag. Sie hatte die Augen geschlossen. Janet beugte sich hinab und tupfte ihr den glitzernden Schweiß von der Stirn. Childer starrte sie an. Auf seinem Gesicht lagen jetzt sorgenvolle Falten. „Was können wir nur machen, Miß? Was ist nur mit ihr los?"
„Warm halten, Sir", sagte Janet. „Ich versuche inzwischen, einen Arzt an Bord ausfindig zu machen."
„Ich dachte auch eben daran, ob vielleicht einer an Bord wäre. Was machen wir aber, wenn keiner da ist?"
„Machen Sie sich keine Gedanken, Sir. Ich komme gleich wieder." Janet sah die Frau prüfend an, dann ging sie weiter und wiederholte mit leiser Stimme ihre Frage nach einem Arzt.
„Ist jemand krank?" wurde sie gefragt. „Ein wenig", sagte sie. „Das kommt beim Fliegen ja öfters vor. Bitte entschuldigen Sie, daß ich Sie geweckt habe."
Plötzlich klatschte eine Hand auf ihren Arm. Sie gehörte einem der Vier des Whisky-Quartetts, dessen Gesicht gelb und durchscheinend wirkte. „Entschuldigen Sie, wenn ich Ihnen Arbeit mache, Miß. Aber ich fühle mich, als säße ich in der Hölle. Bitte, haben Sie ein Glas Wasser für mich?"
„Aber selbstverständlich", sagte Janet. „Ich bringe es Ihnen sofort."
„So miserabel war mir noch nie zumute", sagte der Mann. Er lehnte sich zurück und blies die Backen auf, als wäre es sehr heiß. Einer seiner Freunde erwachte, öffnete die Augen und setzte sich aufrecht. „Was ist denn los?" grölte er.
„Irgendwas mit meinen Innereien", versuchte der Kranke zu scherzen. „Es fühlt sich an, als kämen sie gleich allesamt heraus..." Seine Hand fuhr an den Magen, als ihn ein neuer Anfall überkam.
Janet rüttelte Spencer leise an der Schulter. Er öffnete erst ein Auge, dann alle beide. „Es tut mir schrecklich leid, Sir, Sie wecken zu müssen", sagte sie. „Aber ist einer von Ihnen Arzt?"
Spencer begann aufzuwachen. „Ein Arzt? Nein, ich denke nicht, Miß."
Sie nickte und wollte gerade weitergehen, als sie von Spencer zurückgehalten wurde: „Halt, Moment: ich erinnere mich jetzt erst - ja, klar ist einer hier. Der Herr neben mir ist Arzt."
„Gott sei Dank", seufzte die Stewardeß. „Würden Sie ihn bitte wecken, Sir?"
„Sicher." Spencer schaute auf die Gestalt neben sich. „Ist jemand krank, Miß?" fragte er vorsorglich. „Ja, jemand fühlt sich nicht ganz wohl", meinte Janet. „Hallo, Doktor, aufwachen!" sagte Spencer eindringlich. Der Doktor schüttelte den Kopf, grunzte und verschluckte sich. „Natürlich kann keine Nacht vergehen, ohne daß ich gerufen werde... "
„Sie sind Arzt, Sir?" fragte Janet begierig. „Ja, ja, ich bin Dr. Baird. Warum? Was ist los?"
„Wir haben zwei Passagiere an Bord, die ziemlich krank sind. Könnten Sie bitte einmal nach ihnen sehen?"
„Krank? Ja, natürlich. "
Spencer erhob sich, um den Arzt an sich vorbeizulassen. „Wo sind die Leute?" fragte Baird und rieb sich die Augen.
„Ich glaube, Sie sehen am besten zuerst nach der Dame", sagte Janet und ging voran. Dann sprach sie wieder lauter: „Bitte schnallen Sie sich an, meine Herrschaften, es wird ein wenig böig."
Mrs. Childer lag nun soweit ausgestreckt, wie es der Sitz erlaubte. Ihr Körper wurde von Krämpfen geschüttelt. Sie atmete schwer und mit langen, keuchenden Stößen. Ihr Haar war naß von Schweiß. Baird sah sie einen Augenblick aufmerksam an. Dann bückte er sich und griff nach ihrem Handgelenk. „Der Herr ist Arzt", sagte Janet beruhigend zu der Kranken.
„Ich bin froh, daß Sie da sind, Doktor", sagte Mr. Childer aufatmend.
Die Frau öffnete die Augen. „Doktor...", stammelte sie und versuchte weiterzusprechen. Aber ihre Lippen zitterten und schlossen sich wieder. „Bitte entspannen Sie sich", sagte Baird, die Augen auf den Sekundenzeiger seiner Armbanduhr gerichtet. Er zählte den Puls, ließ ihr Handgelenk los, griff in sein Jackett und nahm einen Augenspiegel heraus. „Machen Sie die Augen weit auf", befahl er sanft und prüfte beide Augen in dem breiten Lichtstrahl des Instruments. „Jetzt - Schmerzen?" Die Frau nickte mühsam.
„Wo? Hier - oder hier?" Als er ihren Leib berührte, zuckte sie zusammen und schrie auf. Der Arzt steckte den Spiegel zurück und erhob sich. „Ist die Dame Ihre Frau?" fragte er Childer. „Ja, Doktor."
„Hat sie außer über diese Schmerzen noch über irgend etwas anderes geklagt?"
„Sie war sehr krank und hat alles erbrochen."
„Wann fing es an?"
„Es ist noch nicht lange her." Childer schaute Janet hilflos an. „Es kam ganz plötzlich. "
Baird nickte nachdenklich. Er trat beiseite, nahm Janet am Arm und sprach leise, damit die anderen in der Nähe nichts hören konnten, auf sie ein: „Haben Sie ihr etwas gegeben?"
„Nur Aspirin und Wasser", antwortete Janet. „Oh, da fällt mir ein, daß ich dem Mann, der sich ebenfalls nicht wohl fühlt, ein Glas Wasser bringen wollte..."
„Warten Sie einen Moment", flüsterte Baird. Seine Schläfrigkeit war inzwischen völlig verflogen. Er war wach und in seinem Auftreten respekteinflößend. „Wo haben Sie Krankenpflege gelernt?" Janet errötete über seinen Ton. „Warum? In der Stewardessenschule der Linie natürlich. Aber..."
„So! Es ist aber nicht üblich, jemand Aspirin zu geben, der sich erbricht - Sie machen es damit nur noch schlimmer. In diesem Fall gibt man nur Wasser, sonst nichts."
„Es...es tut mir leid, Doktor", stammelte Janet. „Ich glaube, es ist besser, wenn Sie jetzt zum Captain gehen", sagte Baird. „Sagen Sie ihm, er möchte schnellstens landen. Die Frau muß sofort in ein Krankenhaus. Sagen Sie ihm, er soll einen Krankenwagen zum Flugplatz bestellen. "
„Wissen Sie, was ihr fehlt, Doktor?"
„Hier kann man keine präzise Diagnose stellen. Aber die Sache ist dringend genug, um auf dem nächsten Platz zu landen, von dem aus ein Krankenhaus erreichbar ist. Sagen Sie das dem Captain."
„Gut, Doktor. Würden Sie bitte so nett sein und auch nach dem anderen kranken Passagier sehen? Er hat dieselben Beschwerden und Schmerzen." Baird sah sie scharf an. „Dieselben Schmerzen, sagen Sie? Wo ist er?"
Janet führte ihn zu dem kranken Mann. Er saß - von seinem Freund im Nachbarsitz gestützt - vornübergeneigt und würgte, Baird beugte sich herab, um dem Kranken ins Gesicht zu sehen.
„Ich bin Arzt. Würden Sie bitte Ihren Kopf zurücklehnen?" Nach einer kurzen Untersuchung sagte er: „Was haben Sie in den letzten vierundzwanzig Stunden gegessen?"
„Das Übliche", murmelte der Mann. „Zum Frühstück Schinken und Eier... Zum Mittagessen Salat... Auf dem Flugplatz ein Sandwich und dann hier das Abendessen." Ein kleiner Speichelfaden lief an seinem Kinn herab. „Diese Schmerzen, Doktor, und meine Augen... "
„Was ist mit Ihren Augen?" fragte Baird schnell. „Ich kann nicht deutlich sehen. Ich sehe alles doppelt." Sein Freund begann, es komisch zu finden: „Der Schnaps hat ihn solide erwischt, Sir", bemerkte er. „Seien Sie still", sagte Baird. Er erhob sich, um Janet zu suchen, und fand den Captain neben ihr stehen. „Packen Sie ihn warm ein - legen Sie ihm mehr Decken um", ordnete der Doktor, zu Janet gewandt, an. Der Captain winkte ihm, mit in die Kombüse zu kommen. Nachdem sie allein waren, fragte der Doktor: „Wie schnell können wir landen, Captain?"
„Das ist's ja gerade", sagte Dun kurz. „Wir können nicht."
Baird starrte ihn an. „Warum nicht?"
„Wegen des Wetters. Ich habe gerade über Funk angefragt. Über den ganzen Prärien hier auf dieser Seite der Berge liegen tiefe Wolken und Nebel. Wir müssen zur Küste."
Baird dachte einen Moment nach. „Und wie ist es, wenn wir zurückfliegen?"
Dun schüttelte den Kopf. Sein Gesicht straffte sich im sanften Licht der Glühlampen. „Dazu ist es ebenfalls zu spät. Winnipeg hat wegen Nebel dichtgemacht - unmittelbar, nachdem wir raus waren. Aber ich will versuchen, jetzt ein bißchen schneller voranzukommen." Baird zog eine Grimasse, wobei er mit den Fingernägeln gegen eine kleine Lampe klopfte. „Wie schnell, glauben Sie, werden wir landen können? "
„Etwa fünf Uhr Pazifik Time", sagte Dun. Als er sah, daß der Doktor unwillkürlich auf seine Armbanduhr blickte, fügte er hinzu: „Das heißt, wir werden in dreieinhalb Stunden landen, Doktor. Dieses Charterflugzeug ist nicht gerade das schnellste der Welt." Baird faßte einen Entschluß. „Dann muß ich tun, was ich für diese Leute tun kann, bevor wir in Vancouver landen. Ich brauche dazu mein Gepäck. Glauben Sie, man kann es erreichen? Ich gab es in Toronto auf."
„Wir können's versuchen", sagte der Captain. „Ich hoffe, es ist in der Nähe der Luke. Geben Sie mir Ihre Gepäcknummer, Doktor, damit ich's finde." Bairds schlanke Finger griffen in die Gesäßtasche und kamen mit der Brieftasche wieder zum Vorschein. Er nahm zwei Gepäckscheine heraus und reichte sie Dun. „Es sind zwei Koffer, Captain. Den kleineren von beiden brauche ich. Es ist nicht viel drin, bloß ein paar Dinge, die ich immer bei mir habe - aber sie würden helfen."
Er hatte noch nicht ganz ausgesprochen, als das Flugzeug plötzlich einen regelrechten Sprung machte, der die beiden Männer an die gegenüberliegende Wand schleuderte. Die Motoren heulten gequält auf. Der Captain war zuerst wieder auf den Beinen und am Bordtelefon. „Hier Captain", sagte er hastig, „was ist los, Pete?" Die Stimme des Ersten Offiziers war schwach und offenbar schmerzgequält: „Ich... ich... bin krank. Komm schnell."
„Am besten kommen Sie gleich mit", sagte Dun zum Doktor. Sie liefen so schnell es ging, ohne bei den Passagieren Aufmerksamkeit zu erregen, zum Cockpit vor. „Entschuldigen Sie den Stoß", sagte Dun eilig nach allen Seiten. „Wir durchfliegen nur ein etwas unruhiges Gebiet."
Als sie die Pilotenkabine betraten, war es nur zu offensichtlich, daß der Erste Offizier sehr krank war. Sein Gesicht wirkte im Licht der Instrumentenbeleuchtung wie eine Totenmaske. Er war in den Sitz zurückgefallen und hielt die Hände mit aller Kraft um die Steuersäule verkrampft.
„Nehmen Sie ihn dort weg", befahl der Captain eilig. Baird und Janet, die den beiden Männern gefolgt war, ergriffen den Copiloten und hoben ihn aus seinem Sitz weg von der Steuerung. Dun war bereits blitzschnell auf seinen Platz geschlüpft und hatte das Steuer übernommen.
„Bringt ihn hinten auf den Sitz, der sonst für den Bordfunker bestimmt ist", sagte er.
Unter krampfartigem Würgen erbrach sich Pete auf den Boden. Dann halfen ihm die beiden auf den Sitz. Baird öffnete Petes Kragen, löste die Krawatte und bemühte sich, es ihm so bequem wie möglich zu machen. Alle paar Sekunden klappte Pete bei den einsetzenden Krämpfen wie ein Taschenmesser zusammen. Immer wieder würgte er. „Doktor", rief der Captain mit gedämpfter Stimme. „Was um Himmels willen ist hier eigentlich los?"
„Ich bin noch nicht ganz sicher", sagte Baird grimmig, „aber offenbar besteht ein Zusammenhang zwischen all diesen Anfällen. Es muß einen Zusammenhang geben! Die einfachste Erklärung wäre es, wenn irgend etwas mit dem Essen nicht gestimmt hätte. Was hat's zum Dinner gegeben?"
„Lammfleisch und Fisch", sagte Janet. „Zur Wahl. Vielleicht erinnern Sie sich, Doktor. Sie hatten..."
„Fleisch", rief Baird. „Wann war das? Es muß etwa zwei bis drei Stunden her sein. Was hat er gegessen?" Er deutete auf den Copiloten.
Janets Gesicht drückte Bestürzung aus: „Fisch", flüsterte sie mit erschrockener Stimme.
„Und können Sie sich daran erinnern, was die beiden anderen Kranken gegessen haben?"
„Nein, ich weiß es nicht mehr."
„Gehen Sie schnell nach hinten und fragen Sie, ja?" Die Stewardeß hastete hinaus. Ihr Gesicht war blaß. Baird kniete neben dem Ersten Offizier nieder, der jede Bewegung des Flugzeuges schlaff mitmachte. Seine Augen waren geschlossen.
„Versuchen Sie, sich ganz zu entspannen", sagte der Arzt nochmals. „In ein paar Minuten gebe ich Ihnen etwas gegen die Schmerzen." Er nahm eine Decke aus einem Regal. „Sie werden sich etwas besser fühlen, wenn es Ihnen warm ist." Pete öffnete die Augen einen Spalt und fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. „Sind Sie Arzt?" fragte er. Baird nickte. Pete versuchte zu lächeln. „Es tut mir leid, Doktor, daß ich Ihnen so viel Mühe mache. Ich dachte wirklich schon, ich kratze ab..."
„Sprechen Sie jetzt nicht", sagte Baird. „Versuchen Sie zu schlafen."
„Sagen Sie dem Captain, er kann sicher sein, daß..."
„Ich sagte: reden Sie nicht! Ruhen Sie sich aus, und Sie werden sich besser fühlen."
Janet kam zurück. „Doktor..." Sie sprach schnell, und man merkte ihr an, welche Mühe es sie kostete, deutlich zu reden. „Ich habe die beiden gefragt. Sie haben Salm gegessen. Und jetzt sind drei weitere Passagiere krank geworden und haben Krämpfe. Können Sie kommen?"
„Natürlich. Aber jetzt muß ich endlich meinen Koffer haben!"
Dun sagte über die Schulter: „Ich kann jetzt hier nicht weg, Doktor. Aber ich werde dafür sorgen, daß Sie ihn gleich bekommen. Janet, nehmen Sie die Gapäcknummern - hier. Bitten Sie einen Passagier, Ihnen zu helfen, und holen Sie den kleineren Koffer vom Doktor aus dem Frachtraum, ja?"
Janet nahm den kleinen Abschnitt an sich. Sie wollte gerade mit dem Arzt sprechen, aber Dun fuhr fort: „Ich versuche jetzt, mit Radio Vancouver Verbindung zu bekommen und zu berichten, was hier los ist. Haben Sie etwas Besonderes mitzuteilen, Doktor?"
„Ja", sagte Baird. „Melden Sie, wir hätten drei sehr ernste Fälle von Fischvergiftung, und es kämen wahrscheinlich noch weitere dazu. Wir wären nicht ganz sicher, aber vermutlich sei der Fisch an Bord serviert worden. Sagen Sie auch, es wäre angebracht, eine allgemeine Warnung durchzugeben für den Fall, daß auch an andere Maschinen verdorbene Lebensmittel ausgegeben wurden. Es steht zwar noch nicht fest, ob es tatsächlich Fischvergiftung ist - aber besser ist besser."
„Ich erinnere mich jetzt", sagte Dun. „Dieses Essen haben wir nicht von der Firma, die gewöhnlich die Luftlinien beliefert. Wir mußten es von einer anderen besorgen, weil wir so große Verspätung hatten, als wir in Winnipeg ankamen. "
„Sagen Sie das alles, Captain", meinte Baird. „Es ist genau das, was man dort unten wissen muß."
„Bitte, Doktor", unterbrach ihn Janet flehentlich, „bitte kommen Sie rasch. Es scheint, Mrs. Childer ist völlig zusammengebrochen. "
Baird ging zur Tür. Die Falten in seinem Gesicht hatten sich vertieft, aber seine Augen waren kristallklar, als er Janet musterte.
„Sorgen Sie dafür, daß die Passagiere sich nicht beunruhigen", sagte er. „Es liegt jetzt zu einem guten Teil an Ihnen, Miß! Versuchen Sie zuerst, meinen Koffer zu finden. Ich schaue inzwischen nach Mrs. Childer." Er öffnete ihr die Tür, hielt dann aber plötzlich inne. „Übrigens - was haben Sie eigentlich gegessen?"
„Fleisch", antwortete das junge Mädchen. „Gott sei Dank. „Der Arzt atmete auf. Janet lächelte und wollte gerade gehen, als Bairds Hand sie brutal herumriß: „Ich will hoffen, daß auch der Captain Fleisch gegessen hat?" Er schoß die Frage geradezu auf sie ab. Sie sah zu ihm auf und versuchte gleichzeitig, sich zu erinnern und die Tragweite seiner Frage zu erfassen. Dann zuckte sie plötzlich zusammen, und die Erkenntnis ließ sie fast gegen den Arzt taumeln. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie ihn an.