03 Uhr 00 - 03 Uhr 25

Mit anschwellendem Motorenlärm startete in Vancouver die letzte nach Osten fliegende Maschine in dieser Nacht. Sie raste mit wachsender Geschwindigkeit über den nassen, schimmernden Beton der Startbahn und stieg hinauf in die Dunkelheit. Die Positionslichter des Flugzeugs verschwanden im Nebel, als es den ihm vorgeschriebenen Kreis um den Flugplatz beschrieb. Einige andere Flugzeuge, die zurückgehalten worden waren, standen, mit Feuchtigkeit überzogen, längs des Abfertigungsgebäudes nebeneinander. Das Pistenpersonal verrichtete in gelbem Licht seine Arbeit. Die Männer schlugen die behandschuhten Hände um ihre Körper, um sich warm zu halten. Keiner von ihnen sprach mehr, als unbedingt nötig war.

Langsam rollte ein Flugzeug näher, stoppte und schaltete auf ein Zeichen des mit den Winkern vor ihm stehenden Mannes die Motoren ab.

Das Zischen der Propeller wirkte in der plötzlich eingetretenen Stille aufdringlich. In Vancouver schien alles nach dem eingespielten Schema zu verlaufen, und dennoch bereitete man sich auf den zu erwartenden Notfall vor.

Im hell erleuchteten Kontrollraum herrschte gespannte Konzentration. Der Kontrolleur legte den Telefonhörer auf die Gabel, zündete sich eine Zigarette an und hüllte sich in blaue Rauchschwaden, während er die Landkarte studierte.

Dann drehte er sich zu Burdick um. Der Manager der Maple Leaf Airline saß auf einer Tischecke und beendete gerade die Lektüre einer Meldung, die er in der Hand hielt.

„... richtig, Harr/', sagte der Kontrolleur. Sein Tonfall war so, als spreche er zu sich selbst und nicht, um die anderen zu informieren. „Von jetzt an sperre ich alle Starts nach Osten. Wir haben fast noch eine Stunde Zeit, in der wir die Maschinen nach den anderen Richtungen rauslassen können. Anschließend müssen alle planmäßigen Abflüge warten, bis... bis nachher."

Das Telefon klingelte. Er nahm den Hörer ab: „Ja? - Aha. Benachrichtigen Sie alle Stationen und Flugzeuge, daß wir nur noch die während der nächsten 45 Minuten hereinkommenden Maschinen annehmen können. Leiten Sie alles um, was später ankommt. Jeder Verkehr muß von der Ost-West-Linie zwischen Calgary und hier ferngehalten werden. Haben Sie das? Gut." Er warf den Hörer auf die Gabel und wandte sich an einen Assistenten, der ebenfalls vor einem Telefon saß. „Haben Sie den Chef der Feuerwehr geweckt? Rufen Sie bei ihm zu Hause an und sagen Sie ihm, er soll zu uns herauskommen. Es riecht nach einem großen Schauspiel. Und bitten Sie den diensthabenden Feuerwehroffizier, die Stadtfeuerwehr zu benachrichtigen. Die wird wahrscheinlich rechtzeitig genügend Geräte hierher bringen wollen."

„Das habe ich schon gemacht. - Vancouver Control hier", sprach der Mann in sein Telefon. Dann: „Moment, bitte." Er deckte die Hand über die Sprechmuschel. „Soll ich auch die Luftwaffe alarmieren?"

„Ja. Man soll die Zone von allen Flugzeugen freihalten." Burdick sprang vom Tisch. „Das ist eine Idee", sagte er.

Unter seinen Achseln hatten sich große Schweißflecken gebildet.

„Habt ihr Piloten auf dem Flugplatz?" fragte ihn der Kontrolleur.

Burdick schüttelte den Kopf. „Keinen einzigen. Wir müssen Hilfe organisieren. "

Der Kontrolleur dachte fieberhaft nach. „Versuchen Sie es bei Cross-Canada. Die haben meistens Leute hier. Erklären Sie die Situation. Wir brauchen einen Mann, der große Erfahrung mit diesem Flugzeugtyp hat und fähig ist, durch Funk genaue Anweisungen zu geben."

„Glauben Sie, daß wir dort eine Chance haben?"

„Keine Ahnung. Aber wir müssen's versuchen. Oder können Sie etwas anderes vorschlagen?"

„Nein", sagte Burdick, „kann ich nicht. Aber beneide ihn nicht um die Arbeit... "

„Die Stadtpolizei ist wieder da", rief der Telefonist, „wollen Sie sprechen? "

„Geben Sie her", sagte der Kontrolleur. „Ich gehe inzwischen zu den Cross-Canada-Leuten", sagte Burdick. „Ich muß auch Montreal anrufen und dem Chef sagen, was los ist."

„Benützen Sie die Hauptleitung", sagte der Kontrolleur „Diese ist blockiert." Er nahm den Hörer ab, während Burdick aus dem Raum eilte. „Hier spricht der Kontrolleur. Ah -Inspektor - ich bin froh, daß Sie's sind. Ja... Ja... Das ist gut. Hören Sie, Inspektor, wir sind in einer verdammten Situation. Viel schlimmer, als wir dachten. Erstens wollen wir bei Ihnen anfragen, ob eines Ihrer Autos einen Piloten aus der Stadt holen und so schnell wie möglich herausbringen kann. Ja - ich lasse es Sie wissen. Zweitens besteht - außer der Notwendigkeit, die Passagiere sofort ins Krankenhaus zu bringen die große Wahrscheinlichkeit, daß das Flugzeug eine Bruchlandung machen wird. Ich kann es jetzt nicht näher erklären - aber wenn die Maschine ankommt, wird sie nicht gerade unter guter Führung stehen..." Er lauschte einen Moment auf die Stimme an der anderen Seite der Leitung. „Ja", fuhr er dann fort, „wir haben eben veranlaßt, daß Generalalarm gegeben wird. Die Feuerwehr wird alle Geräte bereitstellen, um zu helfen. Das Teuflische ist, daß die Häuser in der Nähe des Flugplatzes gefährdet sein können..." Er horchte wieder. „Schön." Ich bin froh, daß Sie es erwähnen. Ich weiß schon, es ist eine verdammt peinliche Sache, die Leute mitten in der Nacht zu wecken. Aber wir riskieren ja auch so schon genug. Ich kann absolut nicht dafür garantieren, daß die Maschine auf dem Flugplatz herunterkommt. Sie kann ebensogut zu kurz kommen oder drüber hinausschießen. Das ist, zusammengefaßt, etwa das, was geschehen kann. Wir haben Glück, daß nur die Häuser nach der Sealsland-Brücke zu gefährdet sind. Man kann die Leute doch auffordern, sich bereit zu halten, nicht wahr?" Wieder lauschte er einen Moment. „Ja. Wir werden die Maschine von der Stadt fernhalten. Wie? Nein, das kann ich jetzt noch nicht sagen. Wir werden wahrscheinlich versuchen, sie vom östlichen Ende der Hauptrollbahn aus hereinzubringen." Nochmals eine Pause, diesmal länger. „Danke, Inspektor. Ich denke natürlich daran, und ich würde es nicht verlangen, wenn ich es nicht für einen wirklichen Notfall hielte. Ich bleibe mit Ihnen in Verbindung." Der Kontrolleur legte den Hörer auf. Sein Gesicht war sorgenvoll. Er wandte sich an den Mann am Funksprechgerät: „Ist 714 noch da?" Der Mann nickte. „Das wird eine saubere Nacht geben...", bemerkte der Kontrolleur über den ganzen Raum hinweg. Er zog ein Taschentuch heraus und wischte sich über das Gesicht. „Der Chef der Feuerwehr ist unterwegs", sagte der Assistent. „Ich habe gerade die Air Force am Apparat. Sie fragen, ob sie helfen können."

„Wir werden ihnen Bescheid geben, aber ich glaube nicht. Danken Sie ihnen." Wieder studierte er die Landkarte an der Wand. Er steckte das Taschentuch ein. Geistesabwesend suchten seine Finger eine leere Zigarettenpackung. Dann warf er sie achtlos auf den Boden. „Hat jemand von euch was zu rauchen?"

„Hier, Sir."

Er nahm eine Zigarette und zündete sie an. „Schicken Sie jemanden nach unten, der für uns alle Kaffee organisiert. Wir werden ihn brauchen können." Laut schnaufend kam Burdick zurück. „Cross-Canada sagt, daß ihr bester Mann, Captain Treleaven, gerufen würde. Er ist zu Hause im Bett, glaube ich."

„Ich habe schon für einen Polizeiwagen gesorgt."

„Sie werden selbst dafür sorgen. Ich habe gesagt, daß wir ihn sofort brauchen. Kennen Sie Treleaven?"

„Ich habe ihn schon gesehen. Er ist ein feiner Kerl. Wir können froh sein, daß er erreichbar ist."

„Hoffen wir's", grunzte Burdick. „Wir können ihn dringend brauchen."

„Was ist mit Ihrem hohen Tier?"

„Ich habe meinen Präsidenten angerufen - Gott steh mir bei!"

Der Telefonist fuhr dazwischen: „Ich habe Seattle und Calgary hier, Sir. Sie wollen wissen, ob wir die Meldungen von 714 einwandfrei empfangen haben"

„Sagen Sie ihnen, ja", antwortete der Kontrolleur. „Wir bleiben selbst in Verbindung mit der Maschine. Aber es wäre gut, wenn sie mithören würden... für den Fall, daß irgendwelche Empfangsstörungen auftreten."

„Allright, Sir."

Der Kontrolleur ging zum Funkgerät und nahm das Standmikrophon zur Hand. Er nickte dem Abfertigungsbeamten zu, der den Schalter auf „Sendung" stellte. „Vancouver Control an Flug 714", rief er.

Spencers Stimme wurde, als er antwortete, durch einen hoch in der Ecke des Raumes hängenden Lautsprecher verstärkt. Seit seinem Mayday-Ruf wurden alle Durchsagen durch diesen Lautsprecher mit übertragen. „714 an Vancouver. Ich dachte schon, wir seien verloren... "

„Vancouver an 714. Hier spricht der Kontrolleur. Wir sind dabei, Hilfe zu holen. Wir rufen Sie bald wieder an. Verändern Sie in der Zwischenzeit nichts an der automatischen Steuerung. Haben Sie alles verstanden? Bitte kommen."

Die Schroffheit in Spencers Stimme, die scharf wie ein Messer erschien, war durch eine Störung hervorgerufen: „714 an Vancouver, Ich dachte, ich hätte es Ihnen gesagt. Ich habe in meinem Leben noch keinen solchen Job gehabt wie diesen. Ich werde mich hüten zu probieren, wie es sich mit den verfluchten Narrentricks dieses Autopiloten spielt. Bitte kommen. "

Der Kontrolleur machte den Mund auf, als wollte er etwas sagen. Aber dann änderte er seine Absicht. Er beendete das Gespräch und sagte zu seinem Assistenten: „Sagen Sie dem Empfangsbüro, es soll Treleaven so schnell wie möglich heraufschicken, wenn er eintrifft."

„Gut, Sir. - Der diensttuende Feuerwehroffizier rief gerade an", sagte der Assistent. „Er hat alle Landebahnfahrzeuge und Benzinwagen für die Ankunft der 714 bereit. Die Stadtfeuerwehr bringt alle verfügbaren Geräte in die Nähe."

„Ausgezeichnet. Wenn der Chef der Feuerwehr hier ist, möchte ich mit ihm sprechen. Wenn wir die Maschine überhaupt herunterbringen, dürfte sie kaum noch aus einem Stück bestehen... "

Burdick sagte nachdenklich: „Mit der Polizei wird ja vermutlich auch die Presse erscheinen." Er tupfte sich mit dem fetten Zeigefinger gegen die Zähne, als er daran dachte.

„Das ist das Schlimmste, was der Maple Leaf je passiert ist", fuhr er schnell fort. „Stellen Sie sich nur vor überall wird es auf der ersten Seite erscheinen: ,Vollbesetztes Flugzeug - Viele Passagiere schwerkrank - Pilot ausgefallen. ' Vielleicht noch ,Evakuierung von Zivilisten aus ihren Häusern an der Brücke... ' Nicht auszudenken! " „Es ist am besten, Sie lassen es die Presse von Anfang an miterleben", warf der Kontrolleur ein. „Bringen Sie Howard her - so schnell wie möglich. Das Amt wird seine Privatnummer kennen. "

Burdick nickte dem Telefonisten zu, dessen Finger gleich eine Notliste entlangfuhren. Dann wählte er. „Bei einer solchen Sache können wir die Presse nicht übergehen, Harry. Es ist ein zu großes Ereignis. Cliff wird schon wissen, wie das zu schaukeln ist. Sagen Sie ihm, er soll uns die Zeitungen vom Halse halten - wir hätten zu arbeiten."

„Das ist eine Nacht!" stöhnte Burdick und nahm ungeduldig den Telefonhörer ab. „Was ist mit Doktor Davidson?" fragte er den Telefonisten. „Unterwegs. Nachtruf. Ist nicht erreichbar. Aber er soll bald zurück sein. Ich habe Nachricht hinterlassen."

„Hab ich's nicht gesagt? Heute muß aber auch alles schiefgehen. Wenn er nicht innerhalb von zehn Minuten anruft, dann verlangen Sie das Krankenhaus. Dieser Arzt in 714 hat vielleicht Anweisungen nötig. Fix fix!" Burdick blies ungeduldig ins Telefon. „Wachen Sie auf, Cliff, um Himmels willen. Es gibt kaum eine Entschuldigung dafür, wenn jemand bei solch einem Ereignis noch schläft."

Am Rande der Stadt läutete ununterbrochen ein Telefon, das den Frieden eines kleinen, hübschen Hauses durch sein grelles Schrillen störte. Ein weicher, weißer Arm kam zögernd unter einer Bettdecke hervor, blieb einen Augenblick regungslos auf dem Kissen liegen und tastete dann langsam nach dem Schalter der Nachttischlampe. Das Licht ging an. Die Augen vor dem grellen Schein schließend, griff eine attraktive rothaarige Frau nach dem Telefon. Sie nahm den Hörer ab, hielt ihn ans Ohr und legte sich auf die Seite. Sie schaute auf die Zeiger eines kleinen Weckers und murmelte: „Ja...?"

„Ist Mrs. Treleaven am Apparat?" fragte eine klare Stimme.

„Ja", wisperte sie. „Wer ist dort?"

„Kann ich Ihren Mann sprechen, Mrs. Treleaven?"

„Er ist nicht hier."

„Nicht dort? Wo kann ich ihn finden, bitte? Es ist sehr dringend."

Sie richtete sich in den Kissen auf und versuchte, ganz wach zu werden. Sie glaubte, noch zu träumen. „Sind Sie noch da?" fragte die Stimme am anderen Ende. „Mrs. Treleaven, wir haben minutenlang versucht, Sie zu erreichen."

„Ich habe eine Schlaftablette genommen", sagte sie. „Wer ruft mich um diese Zeit eigentlich an? "

„Verzeihen Sie, daß ich Sie wecken muß. Aber es ist wichtig, wir müssen Captain Treleaven unverzüglich erreichen. Hier ist die Cross-Canada am Flughafen. "

„Oh", sie riß sich zusammen. „Er ist zu seiner Mutter gegangen. Sein Vater ist krank, und mein Mann hilft ihr, bei ihm zu wachen."

„Ist er in der Stadt?"

„Ja, nicht weit vor hier." Sie gab die Telefonnummer. „Danke. Wir werden ihn dort anrufen."

„Was ist denn los?" fragte sie.

„Verzeihung - aber jetzt ist keine Zeit für Erklärungen. Nochmals: danke."

Der Apparat schwieg. Sie legte den Hörer auf und schwang die Beine aus dem Bett. Als Frau des Chefpiloten einer Luftlinie war sie jederzeit auf unerwartete Rufe zur Pflicht gefaßt. Aber obwohl sie daran gewöhnt war, solche Anrufe als einen unabänderlichen Teil ihres Lebens zu betrachten - sie ärgerte sich doch jedesmal darüber. War Paul eigentlich der einzige Pilot, an den sie immer dachten, wenn sie in der Klemme waren? Wenn er eilig irgendein Flugzeug übernehmen mußte, würde er wohl gleich anrufen, damit seine Uniform und alles andere bereit lag.

Sie wußte: jetzt ist es an der Zeit, eine Thermosflasche Kaffee und ein paar Sandwiches vorzubereiten. Sie warf ihren Morgenrock über und schlüpfte, immer noch schläfrig, aus dem Schlafzimmer, die Treppe hinunter in die Küche.

Zwei Meilen davon entfernt lag Paul Treleaven in tiefem Schlaf. Sein langer Körper war auf der Couch im Wohnzimmer seiner Mutter ausgestreckt. Die energische alte Dame hatte darauf bestanden, daß sie nun an der Seite ihres kranken Gatten bleiben wolle, und dem Sohn förmlich befohlen, die restlichen Nachtstunden zu ruhen. Die Äußerungen des Hausarztes hatten am vorangegangenen Abend beruhigend geklungen: Der alte Herr hatte das gefährliche Stadium der Lungenentzündung überwunden. Nun war es nur noch eine Frage der guten Pflege.

Treleaven war sehr dankbar dafür, daß er schlafen konnte. Sechsunddreißig Stunden vorher war er von einem Flug nach Tokio zurückgekehrt. Er hatte von dort eine Parlamentsabordnung zurückgebracht, die nach Ottawa weiterreiste. Und seither hatte er nur wenig geschlafen, da die Krankheit seines Vaters gerade in ihr kritisches Stadium getreten war.

Er erwachte, als er fest am Arm gerüttelt wurde. Treleaven war sofort hellwach und sah seine Mutter über sich gebeugt.

„In Ordnung, Mutter", sagte er schnell, „jetzt übernehme ich wieder die Nachtwache."

„Nein, Junge - darum handelt es sich nicht. Daddy schläft wie ein Kind. Der Flughafen ist am Telefon. Ich sagte ihnen schon, daß du gerade versuchst, ein wenig Ruhe zu finden. Aber sie wollten nichts davon wissen. Ich finde, es ist eine Schande. Als ob sie nicht eine vernünftigere Zeit am Morgen abwarten könnten! "

„Okay", sagte Treleaven nur, „ich komme." Er sprang auf und fragte sich, ob er wohl jemals zu normalen Schlaf kommen würde. Er war bereits halb angekleidet, da er ohnehin nur Jacke und Krawatte abgelegt hatte. In Socken ging er in die Diele. Seine Mutter folgte ihm besorgt. „Treleaven", meldete er sich.

„Gott sei Dank, Paul. Hier ist Jim Bryant", sagte der Anrufende sofort. „Ich war wirklich in Sorge. Wir brauchen dich, Paul, dringend! Kannst du gleich herüberkommen?"

„Warum? Was ist los?"

„Wir stecken in einer wirklich schlimmen Sache. Eine Maple Leaf Charter - es ist eine Empress C6 -, eines dieser ausgebesserten Dinger, ist von Winnipeg her unterwegs. Eine Anzahl Passagiere und beide Piloten liegen wegen ernster Lebensmittelvergiftung flach... "

„Was? - Beide Piloten??"

„Genau. Ganz schwerer Notfall. Irgendeiner ist am Steuer, der seit Jahren nicht geflogen hat. Glücklicherweise ist das Schiff auf Autopilot geschaltet. Maple Leaf hat keinen Mann hier, und wir möchten, daß du kommst und sie heruntersprichst. Glaubst du, du kannst es machen?"

„Großer Gott - ich weiß nicht. Das ist ein verdammt schwerer Auftrag." Treleaven schaute auf seine Armbanduhr. „Wie ist die errechnete Ankunftszeit? "

„Fünf Uhr fünf."

„Aber das sind ja kaum noch zwei Stunden! Wir müssen uns beeilen. Ich bin im Süden der Stadt..."

„Wie ist die Adresse?" Treleaven gab sie durch.

„Wir haben einen Polizeiwagen, der dich in ein paar Minuten holt. Wenn du hier ankommst, geh bitte sofort zum Kontrollraum hinauf. "

„Gut. Bin schon unterwegs."

„Und viel Glück, Paul!"

„Kann ich brauchen! " - Treleaven legte auf und ging ins Wohnzimmer zurück, um sich die Schuhe anzuziehen und die Schuhbänder zu knüpfen. Seine Mutter hielt ihm die Jacke hin.

„Was ist los, Junge?" fragte sie besorgt. „Unannehmlichkeiten auf dem Flughafen, Mutter. Schwere Unannehmlichkeiten, fürchte ich. Gleich kommt ein Polizeiwagen, der mich abholt."

„Polizei..."

„Na, na!" Einen Moment legte er beruhigend den Arm um sie. „Es ist nichts, worüber du dich aufregen müßtest. Aber sie brauchen meine Hilfe. Für den Rest der Nacht muß ich wegbleiben." Er sah sich nach seiner Pfeife und dem Tabak um und steckte beides in die Tasche. „Moment mal...", sagte er plötzlich nachdenklich. „Woher wußten die, daß ich hier bin?"

„Keine Ahnung. Vielleicht haben sie zuerst bei Dulcie angerufen."

„Ach ja, das ist möglich. Würdest du sie bitte anrufen, Mutter, und ihr sagen, daß alles in Ordnung ist?"

„Natürlich mache ich das. Aber was ist eigentlich los, Paul?"

„In einem Flugzeug, das hier bald landen muß, ist ein Pilot krank geworden. Sie wollen, daß ich ihn herunterspreche, wenn ich kann."

Seine Mutter blickte ihn verwirrt an. „Was meinst du mit heruntersprechen?" fragte sie. „Wenn der Pilot krank ist, wer wird dann steuern?"

„Ich, Mutter. Vom Boden aus. Zumindest werde ich es versuchen... "

„Das verstehe ich nicht."

Ich vielleicht auch nicht, dachte Treleaven fünf Minuten später, als er im Rücksitz des Polizeiwagens saß, der aus der Seitenstraße sofort in rasendem Tempo davonschoß. Die Straßenlichter flitzten immer rascher vorüber. Die Tachometernadel stand auf ungefähr 75 Meilen, als die Sirene durch die Nacht heulte.

„Sieht so aus, als gäb's auf dem Flughafen eine heitere Nacht", bemerkte der Polizeisergeant, der neben dem Fahrer saß, über die Schulter hinweg. „Das glaube ich auch", sagte Treleaven. „Können Sie mir eigentlich genau sagen, was passiert ist?"

„Da bin ich überfragt", sagte der Sergeant und spie aus dem Fenster. „Ich weiß nur, daß jeder verfügbare Wagen zum Flughafen gebracht wurde, damit man ihn von dort aus einsetzen kann, falls Bridge Estate geräumt werden muß. Wir waren gerade dorthin unterwegs, als wir gestoppt wurden und zurück mußten, um Sie zu holen. Ich glaube, sie rechnen mit einer scheußlichen Bruchlandung."

„Wissen Sie was?" warf der junge Fahrer ein. „Ich glaube, es ist ein Düsenbomber, der mit einer Nuklear-Ladung hereinkommt... "

„Nun tu mir bloß den Gefallen...", sagte der Sergeant mit gequälter Stimme. „Dein Verstand hat wohl unter dem Lesen von zu vielen Comics gelitten, was?" Nie, dachte Treleaven grimmig, bin ich so schnell zum Flughafen gekommen. Nach wenigen Augenblicken, schien es, hatten sie Marpole erreicht und fuhren über Oak Bridge nach Lulu Island. Dann bogen sie rechts ab, kreuzten die Flußmündung nach Sea-Island und fuhren gelegentlich an Polizeiwagen vorüber, deren Besatzungen mit bestürzten Hausbewohnern sprachen. Dann rasten sie das letzte Stück der Flughafenstraße entlang, während ihnen die Lichter der langen, niedrigen Flughafengebäude schon zuwinkten. Plötzlich bremste der Fahrer. Die Reifen kreischten protestierend. Vor ihnen drehte gemächlich eine Feuerspritze um, der sie ausweichen mußten. Der Sergeant fluchte kurz, aber gefühlvoll vor sich hin. Vor dem Hauptempfangsgebäude sprang Treleaven aus dem Wagen und war schon durch die Türen und die Schalterhalle, bevor die Sirene des Wagens schwieg. Er winkte dem Bevollmächtigten ab, der auf ihn zueilte, und ging direkt zum Kontrollraum im Verwaltungsgebäude. Trotz seiner massigen Statur konnte er sich bemerkenswert schnell fortbewegen. Vielleicht war es gerade diese leichtfüßige Behendigkeit, die ihn - verbunden mit seinem kräftigen Körperbau, den hellen Haaren und harten, hageren Gesichtszügen - für manche Frau interessant machte. Sein Gesicht wirkte fast eckig und war durchfurcht, als sei es aus Holz gemeißelt. Treleaven war als Pedant bekannt, und manches Besatzungsmitglied, das einmal einen Fehler gemacht hatte, fürchtete den kalten Blick seiner hellen, beinahe wasserblauen, klaren Augen.

Er trat gerade in den Kontrollraum, als Burdick ehrerbietig ins Telefon sprach:

„...Nein, Sir, er ist nicht fähig dazu. Er hat im Krieg einmotorige Jagdflugzeuge geflogen. Nichts seitdem... Ich habe das auch gefragt. Dieser Doktor an Bord sagt..."

Schnell trat der Kontrolleur an Treleaven heran, um ihn zu begrüßen. „Ich bin heilfroh, Sie zu sehen, Captain", sagte er.

Treleaven nickte zu Burdick hinüber: „Spricht er über den Burschen in der Empress-Maschine?"

„Ja. Er hat gerade seinen Präsidenten in Montreal aus dem Bett geholt. Der alte Herr schien nicht gerade begeistert - und mir geht's genauso. Der Anruf hätte hier nicht hereinkommen sollen. - Beeilen Sie sich, Harry!"

„Was bleibt uns anders übrig?" plädierte Burdick ins Telefon. Er schwitzte furchtbar. „Wir werden ihn heruntersprechen müssen. Ich habe den Cross Canada Chefpiloten, Captain Treleaven, aufgestöbert, er kommt gerade zur Tür herein. Wir werden uns mit einer Prüfliste ans Funkgerät setzen und versuchen, ihn herunterzubringen. Wir tun unser Möglichstes, Sir... Natürlich.. Es ist ein furchtbares Risiko - aber können Sie uns etwas Besseres raten?"

Treleaven nahm die Meldungen der 714 zur Hand und las sie sorgfältig durch. Ruhig verlangte er: „Wetter!" - Dann studierte er die letzten Wettermeldungen. Nachdem er auch dies getan hatte, legte er die Papiere aus der Hand, hob die Augen mit düsterem Blick zum Kontrolleur und begann, seine Pfeife zu füllen. Burdick sprach noch immer ins Telefon. „.. Ich habe daran gedacht, Sir. Howard wird die Presse hier bearbeiten. Bis jetzt sind sie noch nicht draufgekommen... Ja, ja, wir haben alle Lebensmittel der Flüge Winnipeg gesperrt. Sonst wissen wir vorläufig nichts... Ich werde Sie sofort anrufen..."

„Was halten Sie von der Sache?" fragte der Kontrolleur den Captain.

Treleaven zuckte die Achseln. Er nahm den Nachrichtenblock zur Hand. Über sein Gesicht zogen sich tiefe Falten, als er die Meldungen noch einmal las. Er sog ständig an seiner Pfeife.

Ein junger Mann betrat den Raum. Er hielt die Tür mit einem Fuß offen und balancierte ein Tablett mit Papierbechern voller Kaffee herein. Er gab dem Kontrolleur einen Becher und setzte einen anderen Treleaven vor, doch dieser achtete nicht darauf.

„...ETA[2] ist 05.05 Pazifikzeit." Burdick sagte es mit wachsender Erbitterung. „Ich habe jetzt eine Menge zu tun, Sir... Ich werde Sie anrufen... Ich werde Sie anrufen, sobald ich Näheres weiß... Ja, ja... Auf Wiedersehen!"

Als er den Telefonhörer in die Gabel legte, atmete er sichtlich erleichtert auf. Dann drehte er sich nach Treleaven um und sagte: „Ich danke Ihnen vielmals, daß Sie gekommen sind, Captain. Sind Sie soweit im Bilde?"

Treleaven wies auf den Nachrichtenblock: „Ist dies die ganze Geschichte?"

„Das ist alles, was wir wissen. - Ich möchte, daß Sie ans Mikrophon gehen und den Mann heruntersprechen. Sie werden ihm das Gefühl für das Flugzeug vermitteln müssen. Sie werden ihn alle Kontrollen für die Landung machen lassen und ihn auf die Anflugachse dirigieren müssen. Und - Gott steh uns bei - Sie müssen ihn bis auf den Boden heruntersprechen. Können Sie das?"

„Ich kann kein Wunder vollbringen", sagte Treleaven ruhig. „Wissen Sie, daß die Chancen, ein viermotoriges Passagierschiff zu landen, für einen Mann, der nur Jagdflugzeuge geflogen hat, ziemlich mager sind - vorsichtig ausgedrückt?"

„Natürlich weiß ich das", brach Burdick aus. „Sie haben ja gerade gehört, was ich Banard erzählte. Aber fällt Ihnen was anderes ein?"

„Nein", sagte Treleaven bedächtig. „Ich glaube, nein. Ich wollte nur sicher sein, daß Sie wissen, was uns bevorsteht."

„Hören Sie", sagte Burdick ärgerlich, „dort oben ist ein Schiff voller Leute. Ein paar davon liegen im Sterben - einschließlich die Piloten. Die größte Flugzeugkatastrophe seit Jahren ist es -was uns da bevorsteht!"

„Behalten Sie die Ruhe", sagte Treleaven kalt. „Mit Schreien kommen wir nicht weiter." Er beugte sich wieder über die Meldungen und schaute dann auf die Wandkarte. „Das wird eine harte Arbeit und eine kritische Sache", sagte er. „Ich möchte, daß Sie sich darüber im klaren sind."

„Gut, meine Herren", sagte der Kontrolleur. „Sie haben absolut recht, das Risiko zu betonen, Captain. Wir erkennen das vollkommen an."

„Also", sagte Treleaven. „Fangen wir an." Er ging zum Funker: „Können Sie direkt mit der 714 arbeiten?"

„Ja, Captain. Der Empfang ist einwandfrei. Wir können sie jederzeit anrufen."

„Also tun Sie das." Der Funker schaltete auf »Sendung«. „Flug 714... Hier ist Vancouver... Hören Sie mich? Bitte kommen. "

„Ja, Vancouver", kam Spencers Stimme durch den Verstärker. „Wir hören Sie klar. Fahren Sie fort, bitte." Der Funker übergab Treleaven das Standmikrophon. „Okay, Captain - jetzt liegt's bei Ihnen."

„Bin ich mit der Maschine in Verbindung?"

„Ja, Sie können anfangen."

Treleaven nahm das Standmikrophon, dessen Kabel auf dem Boden lag, in die Hand und drehte den anderen Männern im Raum den Rücken zu. Die Beine aufgestützt starrte er, ohne etwas zu sehen, auf einen Punkt der Wandkarte. Seine kalten Augen schienen in der Konzentration zu erstarren. Seine Stimme klang ruhig und ohne Hast. Er sprach leichthin, ein Vertrauen einflößend - das er selbst nicht fühlte. Die anderen Männer entspannten sich sichtlich, als ob seine angeborene Autorität sie alle vorübergehend von der Last der Verantwortung entbunden hätte.

„Hallo-Flug 714", sagte er. „Hier ist Vancouver. Mein Name ist Paul Treleaven, und ich bin Cross Canada Airline Captain. Ich will Ihnen helfen, das Flugzeug hereinzubringen. Wir werden nicht allzuviel Mühe haben. Soviel ich weiß, spreche ich mit George Spencer. Ich würde gern über Ihre fliegerische Erfahrung ein bißchen mehr hören, George..." Die schlaffen Falten in Burdicks ehrlichem Gesicht begannen in einem unkontrollierbaren, nervösen Krampf zu zucken. Treleaven sah es nicht.

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