Bruno Baird blickte die Stewardeß gedankenvoll an. Seine blaugrauen Augen strömten eine gelassene Ruhe aus, doch sein Geist überschlug blitzschnell die Situation und wog mit der Gewohnheit von Jahren eine Möglichkeit gegen die andere ab.
Baird griff nach der Hand des Mädchens. „Schön. Wir wollen unsere Folgerungen nicht überstürzen", sagte er wie zu sich selbst. Dann, energischer: „Sie suchen jetzt meinen Koffer - so schnell Sie können. Und ehe ich nach Mrs. Childer sehe, will ich noch ein Wort mit dem Captain sprechen."
Die Maschine flog nun ruhig und gleichmäßig oberhalb der Schlechtwetterzone. Über die Schulter des Piloten hinweg sah der Arzt den weißen, kalten Mondschein, der die schwere Wolkendecke unter dem Flugzeug in eine scheinbar uferlose Eislandschaft verwandelte. Hier und dort sah es aus, als seien die Wolkenberge wasserumgischtete Eisberge; ein traumhafter Anblick. „Captain", sagte er, indem er sich über den Copilotensitz vorbeugte. Dun sah sich um. Im Mondlicht wirkte sein Gesicht verzerrt und farblos. „Captain, es muß schnell gehen. Hinten sind ein paar sehr kranke Leute, die dringend Hilfe brauchen." Dun nickte. „Ja, Doktor. Und?"
„Ich nehme an, Sie haben später gegessen als der Copilot?"
„Ja."
„Um wieviel später?"
Duns Augen wurden schmal. „Etwa eine halbe Stunde, glaube ich. Vielleicht etwas später, aber nicht viel." Die Bedeutung der Frage, die der Arzt gestellt hatte, ging ihm plötzlich auf. Mit einem Ruck setzte er sich aufrecht und schlug mit der Hand gegen die Steuersäule. „Heiliger Himmel - Sie haben recht. Ich habe ja auch Fisch gegessen..."
„Fühlen Sie sich wohl?" Der Captain nickte. „Ja, völlig in Ordnung."
„Gut." Die Stimme des Doktors klang erleichtert. „Sobald wir meinen Koffer haben, werde ich Ihnen ein Brechmittel geben. "
„Sie glauben, das hilft?"
„Das kommt darauf an. Möglich, daß Sie das Zeug noch nicht verdaut haben. Im übrigen ist noch nicht bewiesen, daß es jeden packt, der von dem Fisch gegessen hat. In solchen Dingen kann man selten logisch folgern. Sie könnten der einzige sein, der dieser Krankheit entgeht."
„Das wäre mir auch lieber", murmelte Dun und starrte in das Mondlicht.
„Hören Sie", sagte Baird eindringlich, „gibt es eine Möglichkeit, jederzeit die Kontrolle über das Flugzeug zu behalten?"
„Warum? Ja", sagte Dun, „mit dem Autopiloten, der automatischen Steuerung. Aber der Autopilot bringt uns nicht hinunter... "
„Ich schlage vor, Sie schalten ihn ein, für alle Fälle. Wenn Sie sich krank fühlen, holen Sie mich sofort. Ich weiß nicht, ob ich viel machen kann, aber wenn Sie irgendwelche Symptome fühlen, wird es verdammt schnell gehen."
Die Gelenke an Duns Fingern schimmerten weiß, als er die Steuersäule umklammerte. „Okay", sagte er leise.
„Was macht die Stewardeß, Miß Benson?"
„Ihr geht's gut. Sie hat auch Fleisch gegessen."
„Wenigstens ein Trost. Bringen Sie um Himmels willen rasch dieses Brechmittel. Ich kann nichts riskieren. Ich muß dieses Schiff hier fliegen. "
„Miß Benson beeilt sich schon. Wahrscheinlich liegen hinten inzwischen zwei Leute bereits in tiefster Ohnmacht. Noch etwas...", sagte Baird, während er den Captain musterte. „Sind Sie absolut sicher, daß es keinerlei Möglichkeit gibt, irgendwo zwischenzulanden? "
„Absolut", bestätigte Dun. „Ich habe alles versucht. Dicke Wolken und Bodennebel bis zur anderen Seite der Berge. Calgary, Edmonton, Lethbridge - jeder Verkehr gesperrt. Das ist üblich, wenn die Bodensicht null Meilen beträgt. Normalerweise würde uns das nichts ausmachen."
„Aber jetzt macht's uns was aus."
Baird wollte gehen, aber Dun rief ihn zurück: „Moment, Doktor. Ich bin für diesen Flug verantwortlich und muß die Lage genau kennen. Sagen Sie offen: Wie stehen die Chancen, daß ich okay bleibe?" Baird schüttelte ärgerlich den Kopf; einen Augenblick lang verließ ihn die Ruhe. „Ich weiß es nicht", sagte er mitleidlos. „Es gibt für solche Dinge keinerlei Regeln." Bevor er das Cockpit verlassen konnte, wurde er nochmals aufgehalten: „Doktor..." Ja?"
„Ich bin froh, daß Sie an Bord sind." Ohne ein weiteres Wort ging Baird hinaus. Dun holte tief Luft, als er über all das, was sie gesagt hatten, nachdachte, und er suchte nach einem Ausweg. Es war nicht das erstemal in seiner Fliegerlaufbahn, daß er sich plötzlich einer unvorhergesehenen Situation gegenüberfand. Diesmal aber kam ihm seine Verantwortung für die Sicherheit eines großen, vollbesetzten Flugzeuges mit annähernd sechzig Leben an Bord schreckhaft zum Bewußtsein - verbunden mit der plötzlichen, eisigen Warnung vor einer Katastrophe. Was sollte er tun? Ältere Piloten, die im Krieg gewesen waren, hatten immer gemeint: Wenn man das Spiel lange genug spielt, muß man es schließlich gewinnen... Wie konnte im Verlauf einer halben Stunde ein normaler, alltäglicher Routineflug mit einer Gesellschaft glücklicher Fußballfans an Bord, vier Meilen über der Erdoberfläche, zum Alpdruck werden, zu etwas, das unter Umständen die Schlagzeilen Hunderter von Tageszeitungen füllen würde...
Er schob die ihm wild durch den Kopf schießenden Gedanken beiseite. Jetzt waren andere Dinge zu tun, die seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen. Er streckte die rechte Hand aus, betätigte die Schaltungen des Autopiloten und wartete jeweils, bis sich die Steuer eingespielt hatten und eine aufglimmende Lampe die nächste Schaltphase erlaubte. Zuerst mußten die Querruder etwas nachgestellt werden, um sie voll unter die elektrische Kontrolle zu bringen, dann wurden Seiten-und Höhensteuer eingestellt - bis die Lämpchen oben am Instrumentenbrett zu flackern aufhörten und gleichmäßig leuchteten.
Endlich war Dun zufrieden und lehnte sich zurück, um sämtliche Instrumente zu prüfen.
Einem ungeschulten Auge hätte der Führerstand einen gespenstischen Anblick geboten. Die beiden Steuersäulen bewegten sich, als säßen zwei unsichtbare Männer in den Pilotensitzen: zurück - vor, zurück. Sie glichen die Böen aus, die das Flugzeug immer wieder schüttelten. Auch die Seitensteuerpedale bewegten sich auf geheimnisvolle Weise hin und her. Dutzende von Nadeln, die über das Instrumentenbrett verstreut und aus Sicherheitsgründen jeweils doppelt vorhanden waren, registrierten jene Dinge, die ihnen zugeteilt waren: die Höhe, die Geschwindigkeit, die Drehzahl der Propeller, den Öldruck, Temperaturen und vieles andere.
Alle Instrumente zeigten richtig an, und Dun lehnte sich befriedigt in seinen Sitz zurück. Dann griff er nach dem Mikrophon, das seitlich von seinem Kopf hing, und klemmte sich den leichten Bügel um den Hals. Angriffslustig blies er durch seinen Schnurrbart, der sich aufstellte und fast die Nase berührte. Jetzt geht's also los, dachte er. - Der Schalter stand auf „Sendung". Dann sprach er ruhig und ohne Hast ins Mikrophon:
„Vancouver Control! Hier ist Maple Leaf Charter Flight 714. Ich habe eine Notmeldung. Ich habe eine Notmeldung. Maple Leaf Charter Flight 714. - Bitte kommen..."
Unverzüglich meldete sich eine krächzende Stimme im Mikrophon: „Maple Leaf Charter Flight 714 - bitte kommen..."
„Vancouver Control", gab Dun zurück, „hier ist Flug 714. Hören Sie, wir haben drei ernste Fälle von Lebensmittelvergiftung an Bord, darunter den Copiloten. Wahrscheinlich auch noch weitere. Wenn wir landen, brauchen wir sofort Ambulanzen und ärztliche Hilfe. Benachrichtigen Sie bitte die Krankenhäuser in der Nähe des Flugplatzes. Es ist noch nicht gewiß, aber wir nehmen an, daß die Vergiftung durch einen im Flugzeug servierten Fisch verursacht wurde. Am besten verhängen Sie sofort eine Sperre über alle aus derselben Quelle kommenden Nahrungsmittel, bis die Ursache endgültig geklärt ist. Wegen unserer verspäteten Ankunft in Winnipeg bekamen wir die Lebensmittel nicht von den regulären AirlineLieferanten. Bitte prüfen Sie alles nach. Haben Sie verstanden?"
Er lauschte auf die Bestätigung. Seine Augen wanderten über das gefrorene Wolkenmeer unter und vor ihm. „Vancouver Control" klang so steif und unpersönlich wie eh und je. Dennoch konnte Dun recht gut ermessen, daß die aus einfachen Worten gebildete Bombe, die er dort unten an der fernen westlichen Küste explodieren ließ, eine emsige Tätigkeit auslösen würde. Fast erschöpft beendete Dun seine Durchsage und lehnte sich in den Sitz zurück. Er fühlte sich seltsam schwer und müde, als ob Blei durch seine Glieder flösse. Als seine Augen automatisch über die Instrumente wanderten, schienen diese plötzlich vor ihm zurückzuweichen, bis sie weit, weit weg waren. Dun nahm auf seiner Stirn kalten Schweiß wahr. Er erschauerte in einem plötzlichen, heftigen Krampf. In seinem wachsenden Zorn über die Schwäche seines Körpers in diesem kritischen Moment zwang er sich mit aller Energie dazu, erneut den Flugweg zu überprüfen, die voraussichtliche Ankunftszeit, den erwarteten Seitenwind in den Bergen und den Pistenplan von Vancouver. Er hatte keine Ahnung, ob einige Minuten oder längere Zeit verstrichen waren, als er diese Arbeiten beendete. Er griff nach dem Logbuch, öffnete es und schaute auf die Armbanduhr. Träge und mit quälender Langsamkeit begann sein Gedächtnis die herkulische Aufgabe zu bewältigen und die Zeiten der nächtlichen Vorkommnisse zu fixieren. Hinten in der Kabine breitete Doktor Baird um Mrs. Childer neue, trockene Decken und warf die anderen in den Gang. Die Frau lag hilflos zurückgelehnt mit geschlossenen Augen, halboffenen, zitternden, trockenen Lippen und ächzte leise. Der obere Teil ihres Kleides war beschmutzt und feucht. Während Baird sie noch betrachtete, wurde sie von einem neuen Krampf übermannt. Ihre Augen blieben geschlossen. Baird sprach mit ihrem Mann: „Halten Sie sie warm und trocknen Sie sie ab. Vor allem muß sie Wärme haben."
Childer packte den Doktor am Handgelenk. „Um Gottes willen, was ist los?" Seine Stimme klang schrill. „Geht es ihr ernsthaft schlecht?"
Baird sah die Frau erneut an. Ihr Atem ging schnell und flach. „Ja", sagte er, „allerdings."
„Können wir denn nichts für sie tun? Geben Sie ihr etwas! "
Baird schüttelte den Kopf. „Sie braucht Mittel, die wir nicht haben. Antibiotika. Wir können jetzt nichts anderes tun, als sie warmhalten."
„Aber doch wenigstens ein bißchen Wasser..."
„Nein, sie könnte daran ersticken. Ihre Frau ist nahezu bewußtlos, Childer. Halt -", fügte er hastig hinzu, als sich der Mann erregt halb aufrichtete. „Es ist das Betäubungsmittel der Natur. Haben Sie keine Angst; sie wird sich schon erholen. Ihre Aufgabe ist es jetzt, sie zu beachten und warmzuhalten. Selbst wenn sie ganz bewußtlos ist, wird sie wahrscheinlich ständig versuchen, aufzustehen. Ich bin gleich zurück." Baird ging ein paar Schritte weiter zur nächsten Sitzreihe. Hier saß ein Mann mittleren Alters mit zerknittertem Kragen, die Hände über dem Magen verkrampft. Er war halb aus dem Sitz gerutscht, hatte den Kopf zurückgedreht und warf ihn von einer Seite zur anderen. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß. Er schaute zum Doktor auf. Seine Lippen waren im Schmerz verzogen. „Es ist mörderisch", murmelte er. „Ich habe mich in meinem ganzen Leben noch nie so miserabel gefühlt."
Baird nahm seinen Bleistift aus der Jackentasche und hielt ihn dem Mann vor die Augen. „Hören Sie", sagte er, „ich möchte, daß Sie diesen Bleistift nehmen."
Der Mann hob mit Anstrengung den Arm. Unsicher versuchten seine Finger, den Bleistift zu fassen - trafen ihn aber nicht. Bairds Augen verengten sich. Er hob den Kranken in eine bequemere Stellung, nahm eine Decke und legte sie um ihn herum. „Ich kann mich nicht mehr aufrecht halten", sagte der Mann, „und mein Kopf fühlt sich an, als wäre er in einem Schraubstock."
„Doktor", warf jemand ein, „können Sie bitte hierher kommen? "
„Warten Sie einen Moment", rief Baird zurück, „ich werde jeden, der mich braucht, ansehen." Die Stewardeß eilte mit einem Lederkoffer in der Hand auf den Arzt zu.
„Braves Mädchen", sagte Baird, „das ist der richtige. Ich kann zwar nicht viel tun..." Seine Stimme wurde unsicher, als er darüber nachdachte, was er unternehmen konnte. „Wo ist die Bordverständigungsanlage?" fragte er dann.
„Ich zeige sie Ihnen", sagte Janet, ging in die Kombüse und nahm das Wandtelefon ab. „Wie geht es Mrs. Childer?" fragte sie dabei.
Baird verzog den Mund. „Sie ist verdammt krank. Und wenn ich mich nicht irre, sind noch andere da, denen es bald genauso schlecht geht."
„Glauben Sie immer noch, daß es sich um eine Fischvergiftung handelt?" fragte Janet, die sehr blaß aussah.
„Ich bin ziemlich sicher. Staphylokokken, die sich auch noch schlimmer auswirken können. Andererseits könnte die Vergiftung auch durch Salmonella-Bazillen ausgelöst worden sein. Aber wer kann das ohne genaue Untersuchung wirklich sagen?"
„Wollen Sie allen ein Brechmittel geben?"
„Ja. Natürlich nur denen, die schon krank sind. Mehr kann ich nicht tun. Was wir wahrscheinlich brauchen, sind Antibiotika wie Chloramphenicol. Aber es ist sinnlos, jetzt daran zu denken." Er nahm den Hörer ab. „Ich würde vorschlagen, daß Sie sich so schnell wie möglich nach einer Hilfe umsehen, um hier sauberzumachen. Nehmen Sie genügend Desinfektionsmittel, sofern Sie welche an Bord haben. Und wenn Sie mit den kranken Passagieren sprechen, dann sagen Sie ihnen, daß sie sich mal über den guten Ton hinwegsetzen und die Toilettentür nicht hinter sich zuschließen sollen. Wir wollen keinen da drin haben..." Er dachte einen Augenblick nach, dann drückte er auf den Knopf der Lautsprecheranlage und sagte: „Meine Damen und Herren, darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten? Ihre Aufmerksamkeit, bitte", wiederholte er eindringlich. Er hörte, wie die Gespräche abstarben. Übrig blieb nur das gleichmäßige Dröhnen der Motoren.
„Zuerst möchte ich mich Ihnen vorstellen. Mein Name ist Baird, ich bin Arzt. Sie werden sich fragen, was die Krankheit, die einige unserer Mitpassagiere befallen hat, bedeutet. Ich glaube, es ist jetzt Zeit, daß Sie alle erfahren, was geschehen ist und was ich zu tun gedenke. Soweit ich mit den beschränkten Mitteln, die mir zur Verfügung stehen, feststellen konnte, haben wir mehrere Fälle von Lebensmittelvergiftung an Bord. Aber die Bestätigung dafür steht noch aus. Ich glaube, daß sie von dem Fisch herrührt, der zum Dinner gegeben wurde."
Ein aufgeregtes Murmeln entstand nach diesen Worten unter den Passagieren.
„Hören Sie bitte weiter", sagte Baird. „Es ist kein Grund zur Aufregung vorhanden. Ich wiederhole - es gibt keinen Grund zur Aufregung. Die Passagiere, die unter den Anfällen leiden, werden von der Stewardeß und von mir betreut, und der Captain hat bereits durch Funk um ärztliche Hilfe nach der Landung gebeten. Auch wenn Sie zum Dinner Fisch gegessen haben, ist noch nicht unbedingt gesagt, daß Sie krank werden müssen. Selten gibt es in solchen Fällen eine allgemeingültige Regel, und es ist absolut möglich, daß Sie immun sind. Wie dem auch sei -wir ergreifen einige Vorsichtsmaßnahmen, und die Stewardeß und ich kommen zu Ihnen allen. Bitte sagen Sie uns unbedingt, ob Sie Fisch gegessen haben. Wenn ja, dann sagen wir Ihnen, wie Sie sich selbst helfen können. Wenn Sie sich jetzt alle wieder beruhigt haben, werden wir sofort beginnen." Baird nahm den Finger vom Mikrophonknopf. Dann wandte er sich an Janet. „Wir können jetzt nichts anderes tun, als sofort Erste Hilfe geben." Janet nickte. „Sie meinen die Tabletten, Doktor?"
„Wir können zweierlei tun. Wir wissen noch nicht unbedingt, wo die Quelle der Vergiftung liegt, aber es steht fest, daß es eine rein innere Erkrankung ist. Wir lassen zunächst jeden, der Fisch gegessen hat, ein paar Glas Wasser trinken. Natürlich nur diejenigen, die noch nicht allzu krank sind. Das wird das Gift verdünnen und die Vergiftungserscheinungen mildern. Anschließend werden wir ein Brechmittel geben. Falls nicht genug Tabletten in meinem Koffer sind, nehmen wir Salz. Haben Sie genügend an Bord?"
„Ich habe nur ein paar kleine Päckchen, die sonst zum Essen gereicht werden. Aber wir können sie ja aufmachen."
„Wir wollen sehen, wie weit die Tabletten reichen. Ich fange hier hinten damit an, und Sie bringen den Leuten Wasser, die bereits Krankheitserscheinungen zeigen. Bringen Sie dem Ersten Offizier auch welches. Sie werden Hilfe brauchen." Als Baird aus der Küche trat, stieß er fast mit dem kümmerlichen Lancashire-Mann, genannt Otpot, zusammen.
„Kann ich etwas für Sie tun, Doktor?" Seine Stimme klang jetzt ganz manierlich.
Baird erlaubte sich ein Lächeln. „Danke. Vor allem was haben Sie zum Dinner gegessen?"
„Fleisch, Gott sei Dank", seufzte Otpot mit Inbrunst. „Gut. Dann brauchen wir uns momentan nicht den Kopf über Sie zu zerbrechen. Wollen Sie der Stewardeß helfen, Wasser unter den kranken Passagieren zu verteilen? Ich möchte, daß jeder mindestens drei Glas trinkt - wenn möglich, mehr."
Otpot nickte und trat in die Kombüse. Sein Eintritt rief auf Janets Gesicht ein kleines, müdes Lächeln hervor. Unter normalen Umständen konnte ihr Lächeln den Pulsschlag des ganzen Luftlinienpersonals beschleunigen. Jetzt aber erkannte der Lancashire-Mann hinter ihrem Lächeln die langsam aufsteigende Furcht. Er zwinkerte ihr zu.
„Haben Sie keine Angst, Miß. Es wird schon alles wieder in Ordnung kommen. "
Janet sah ihn dankbar an. „Ich bin überzeugt davon, danke. Schauen Sie, hier ist der Wasserhahn, und dort sind die Becher, Mr.... "
„Meine Freunde nennen mich Otpot", sagte er. „Otpot?" wiederholte Janet ungläubig. „Ja, Lancashire-Otpot, wissen Sie." Janet brach in herzliches Lachen aus. „So gefallen Sie mir schon besser, Miß", sagte der Lancashire-Mann. „Wo sind die Becher, sagten Sie? Los, fangen wir an. - Das ist eine schöne Luftlinie... Erst gibt sie ihren Passagieren ein Nachtessen - und dann verlangt sie's wieder zurück!"
Es muß sich schon allerhand ereignen, um das Gleichgewicht eines großen Flughafens zu stören. Panik ist hier etwas Unbekanntes, und sie würde - falls sie wirklich einmal ausbrechen sollte - sofort beseitigt werden, denn sie wäre eine äußerst verderbliche Form der Aktivität.
Als Duns Notruf durchkam, entstand im Kontrollraum von Vancouver eine Atmosphäre gewaltsam unterdrückter Erregung. Vor dem Funkgerät saß ein Mann, der die Meldung Duns direkt in die Schreibmaschine übertrug und sich nur einmal kurz unterbrach, um die Alarmglocke auf seinem Pult zu bedienen. Er arbeitete weiter, als ein zweiter Mann von hinten zu ihm trat, sich über seine Schulter beugte und die Worte las, die auf dem Papier in der Schreibmaschine entstanden. Der Neuankömmling, den die Alarmglocke herbeigerufen hatte, war der Flughafenkontrolleur, ein großer, hagerer Mann, der sein Leben in der Luft verbracht hatte und die Flugbedingungen über der nördlichen Hemisphäre kannte wie seinen eigenen Gemüsegarten. Kaum hatte er die halbe Botschaft gelesen, so drehte er sich abrupt um und rief dem Telefonisten, der auf der anderen Seite des Raumes saß, einen Befehl zu: „Geben Sie mir sofort ATC. Dann machen Sie die Fernschreibleitung nach Winnipeg frei. Vordringliche Meldung." Der Kontrolleur nahm den Hörer ab, wartete einige Sekunden und sagte: „Hier ist der Vancouver Controller." Seine Stimme war absolut ruhig. „Maple Leaf Charter Flight 714 von Winnipeg nach Vancouver meldet Notfall. Ernsthafte Nahrungsmittelvergiftung bei den Passagieren. Offenbar wirklich ernst. Auch der Copilot ist erkrankt. Es ist angebracht, sämtliche Höhen unter ihnen freizumachen für bevorzugten Anflug und Landung. Können Sie's machen? Gut. Voraussichtliche Ankunftszeit ist 05.05."
Er blickte auf die Wanduhr und sah, daß es 2.15 Uhr war. „Wir halten Sie auf dem laufenden. " Er drückte die Telefongabel mit dem Daumen nieder und ließ ihn dort ruhen, während er sich an den Fernschreibmann wandte: „Haben Sie Winnipeg? Gut. Geben Sie diese Meldung durch:
,Controller Winnipeg. Dringend. Maple Leaf Charter Flight 714 meldet ernste Lebensmittelvergiftung bei den Passagieren. Die Besatzung nimmt an, daß sie durch ein zum Dinner serviertes Essen hervorgerufen wurde. Suchen Sie dringend die Quelle und verhindern Sie jegliche Nahrungsmittelausgabe durch Ihren örtlichen Essen-Service. Die Quelle liegt nicht - ich wiederhole: nicht bei den regulären Airline-Lieferanten. Ende.'" Er drehte sich wieder zum Telefonschaltbrett um. „Geben Sie mir den hiesigen Manager der Maple Leaf Charter. Sein Name ist Burdick. Anschließend will ich die Stadtpolizei haben. Den obersten diensthabenden Offizier."
Er lehnte sich wieder über den Mann, der Duns Meldung aufgeno mmen hatte, und las nun die Durchsage des Piloten zu Ende.
„Bestätigen Sie das, Crag. Sagen Sie ihnen, daß alle Höhen unter ihnen geräumt werden und daß wir ihnen später die Landeinstruktionen geben. Wir wünschen außerdem laufend weitere Nachrichten über das Befinden der Passagiere."
Im Stockwerk darunter drehte sich ein anderer Telefonist auf seinem Stuhl herum und rief in den Raum: „Was ist auf GRÜN EINS zwischen hier und Calgary los?"
„Westlich unterwegs: eine North Star der Luftwaffe auf 18 000 Fuß. Hat sich gerade über Penticton gemeldet. Maple Leaf 714..."
„714 hat Schwierigkeiten. Alle Höhen darunter sollen freigemacht werden."
„Die North Star ist weit voraus, und dahinter kommt nichts. Für östliche Richtung steht eine Constellation startbereit."
„Laß sie raus, aber halte allen nach Osten gehenden Verkehr vorläufig auf. Laß die North Star sofort herein, wenn sie ankommt. "
Im oberen Stockwerk hatte der Kontrolleur erneut den Telefonhörer abgenommen. Er hielt ihn in einer Hand - die andere fingerte an der Krawatte herum, um den Knoten zu lockern. Gereizt warf er das Stück rote Seide auf den Tisch. „Hallo - Burdick? Hier Controller. Wir haben einen Notruf von Luftstraßenbezeichnung einem eurer Flüge, 714 von Toronto nach Winnipeg. Wie? Nein, das Flugzeug ist in Ordnung. Der Erste Offizier und verschiedene Passagiere haben sich eine Lebensmittelvergiftung zugezogen. Ich habe Winnipeg sofort verständigt, damit sie dort die Quelle suchen. Immerhin war's nicht der normale Lieferant. Nein, das ist richtig. Es ist am besten, wenn Sie so schnell wie möglich herüberkommen..."
Wieder drückte er die Telefongabel mit dem Daumen nieder. Er wandte sich an den Telefonisten: „Haben Sie die Polizei? Gut. Geben Sie her. - Hallo, hier ist der Controller von Vancouver Airport. Mit wem spreche ich, bitte? Hören Sie, Inspektor, wir haben einen Notruf von einem Flugzeug. Ein paar Passagiere und eines der Besatzungsmitglieder sind an Lebensmittelvergiftung erkrankt. Wir brauchen dringend Ambulanzen und Ärzte auf dem Flugplatz. Wie? Drei schwere Fälle. Möglicherweise mehr. Seien Sie auf einiges gefaßt. Die Maschine landet gegen 5 Uhr Ortszeit, also in etwa zweieinhalb Stunden. Bitte, alarmieren Sie die Krankenhäuser und die Ambulanzwagen. Können Sie Begleitung stellen? Gut. Wir rufen Sie an, sobald wir mehr wissen."
Innerhalb von fünf Minuten traf keuchend Harry Burdick ein. Der örtliche Maple-Leaf-Manager war ein korpulenter kleiner Mann mit einem unerschöpflichen Vorrat an Schweiß. Niemand hatte ihn je ohne Schweißbäche gesehen, die ihm über das Gesicht liefen. Er stand in der Mitte des Raumes, hatte die Jacke über den Arm geworfen, rang nach Atem und wischte sich sein Mondgesicht mit einem großen, blaugepunkteten Taschentuch ab.
„Wo ist die Durchsage?" grunzte er. Seine Augen wanderten flink über das Blatt, das ihm der Funker reichte. „Wie ist das Wetter bei Calgary?" fragte er dann den Kontrolleur. „Es ginge rascher, wenn sie dort landen könnten."
„Nicht gut, fürchte ich. östlich der Rockies, bis nach Manitoba, ist überall Nebel bis zum Boden herunter. Sie müssen also durch."
Ein Angestellter rief von seinem Telefonapparat herüber: „Der Passagieragent will wissen, wann wir den Verkehr nach Osten einstellen. Er fragt, ob er die Passagiere in der Stadt zurückhalten oder hierher bringen soll."
Burdick schüttelte sorgenvoll den Kopf. „Wo ist die letzte Standortmeldung?" fragte er. Jemand reichte ihm einen Block, und er prüfte aufmerksam die Eintragungen.
Der Kontrolleur wandte sich an den Angestellten. „Die Passagiere sollen in der Stadt bleiben. Wir können hier keine Zuschauer brauchen. Sie sollen sich aber bereithalten. Sobald wir hier fertig sind, geben wir Bescheid."
„Sie sagten, daß ärztliche Hilfe kommt?" fragte Burdick.
„Ja", antwortete der Kontrolleur. „Die Stadtpolizei erledigt das. Sie benachrichtigt bereits die Hospitäler und arrangiert alles Weitere, sobald die Maschine gelandet ist."
Burdick schnippte mit den fetten Wurstfingern. „He j etzt zu dieser Meldung. Es heißt, der Erste Offizier sei vermutlich auch davon befallen, so daß der Captain die Meldung selbst übermittelt hat. Vergewissern Sie sich. Ich stelle inzwischen fest, ob ein Arzt an Bord ist. Man kann nie wissen. Sagen Sie ihnen, wir haben hier ärztliche Ratschläge bereit, sofern sie gebraucht werden." Der Kontrolleur nickte und nahm das Standmikrophon vom Radiopult. Bevor er beginnen konnte, rief Burdick noch: „Übrigens - glauben Sie, daß der Captain auch krank wird? Controller... Wer wird dann...?" Er brach mitten im Satz ab, als sein starrer Blick den seines Gegenübers traf.
„Ich glaube überhaupt nichts", sagte der Kontrolleur. „Ich bete - das ist alles. Lassen Sie uns hoffen, daß diese armen Teufel dort oben ebenfalls beten." Burdick atmete geräuschvoll aus und suchte in seiner Tasche nach Zigaretten. „Joe", sagte er zum Vermittler am Schaltbrett, „geben Sie mir Dr. Davidson, ja? Sie finden seine Nummer auf der Notliste."