3. JUNI’78

Der Wachtposten am Flusse Thelon

Durch das Plätschern des Regens hindurch hörte ich den Fluss rauschen, unsichtbar, aber irgendwo ganz in der Nähe. Unter dem Steilhang, direkt vor mir, glitzerte, nass vom Regen, eine leichte Metallbrücke, über der ein großes Tableau in Lincos leuchtete: Territorium des Volkes der Kopfler. Es sah sonderbar aus, wie die Brücke dort mitten im hohen Gras anfing - es gab keine Zufahrt zu ihr, nicht einmal einen Trampelpfad. Zwei Schritte von mir entfernt drang Licht aus dem einsamen kleinen Fenster eines flachen Rundbaus vom Typ Kaserne-Kasematte. Der Geruch, der von diesem Gebäude herüberwehte, erinnerte mich an den unvergessenen Planeten Saraksch: rostiges Eisen, Aas, lauernder Tod. Wirklich, seltsame Flecken findet man bei uns auf der Erde. Da scheint einem, als sei man zu Hause, kenne alles, und alles sei vertraut und nett - aber nein, früher oder später stößt man ganz sicher auf etwas, was in kein Bild passen will und nichts anderem ähnelt … Aber genug davon. Welche Gedanken weckt das Gebäude in

Der Journalist Kammerer hat in der gerundeten Wand eine Tür gefunden, sie entschlossen aufgestoßen und sich in einem Zimmer mit Deckengewölbe wiedergefunden. Es war leer - bis auf einen Tisch, an dem, den Kopf auf die Hände gestützt, ein junger Mann saß, der mit seinen langen Locken und dem sanften schmalen Gesicht Alexander Blok ähnelte. Seinem leuchtend bunten mexikanischen Poncho nach zu urteilen, hatte der Jüngling viel Phantasie. Seine blauen Augen begegneten dem Journalisten Kammerer mit einem Blick, dem jegliches Interesse fehlte und von einer gewissen Müdigkeit zeugte.

»Also, eine Architektur habt ihr hier!«, sagte der Journalist Kammerer und schüttelte die Regentropfen von den Schultern.

»Aber denen gefällt’s«, erwiderte Alexander B. gleichgültig, weiterhin den Kopf in die Hände gestützt.

»Nicht möglich!«, sagte der Journalist Kammerer sarkastisch und schaute sich nach einer Sitzgelegenheit um.

Freie Stühle gab es in dem Raum ebenso wenig wie Sessel, Sofas, Liegen oder Bänke. Der Journalist Kammerer blickte wieder zu Alexander B., der ihn noch immer vollkommen gleichgültig ansah und nicht das geringste Bemühen erkennen ließ, freundlich oder zumindest höflich zu sein. Das war seltsam, ungewohnt. Aber es entsprach anscheinend den hiesigen Gepflogenheiten.

Der Journalist Kammerer wollte gerade den Mund aufmachen, um sich persönlich vorzustellen, als Alexander B. plötzlich müde und ergeben seine langen Wimpern auf die bleichen Wangen senkte und begann, mechanisch und penetrant wie ein Transportkyber seinen auswendig gelernten Text aufzusagen: »Lieber Freund! Leider haben Sie den Weg hierher völlig vergeblich zurückgelegt. Sie werden hier absolut nichts

Die Mission der Kopfler repräsentiert ihr Volk als diplomatisches Organ und ist daher kein Ort für inoffizielle Kontakte oder gar eitle Neugier. Verehrter Freund! Das Beste, was Sie jetzt tun können, ist, zurückzukehren und all Ihren Bekannten den wahren Stand der Dinge darzulegen!«

Alexander B. verstummte und hob matt die Wimpern. Der Journalist Kammerer stand noch immer vor ihm, und offensichtlich verwunderte ihn das nicht im Geringsten.

»Bevor wir uns verabschieden, werde ich selbstverständlich Ihre Fragen beantworten.«

»Und aufstehen müssen Sie dabei nicht?«, erkundigte sich der Journalist Kammerer.

Ein Funke von Leben erschien in den blauen Augen. »Offen gestanden, ja«, bekannte Alexander B. »Aber ich habe mich gestern am Knie gestoßen, es tut noch immer höllisch weh, also entschuldigen Sie bitte.«

»Gewiss«, sagte der Journalist Kammerer und setzte sich auf die Tischkante. »Wie ich sehe, haben Sie viel unter den Neugierigen zu leiden.«

»Sie sind die sechste Gruppe während meiner Schicht.«

»Ich bin mutterseelenallein!«, widersprach der Journalist Kammerer.

»Gruppe ist ein Sammelbegriff«, erläuterte Alexander B. und wurde dabei noch etwas lebhafter. »Zum Beispiel wie ein Kasten. Ein Kasten Bier. Ein Ballen Baumwolle. Oder eine Schachtel Pralinen. Es kann vorkommen, dass in der Schachtel nur eine Praline übrig geblieben ist. Mutterseelenallein.«

»Ihre Erklärung hat mich vollauf zufriedengestellt«, sagte der Journalist Kammerer. »Aber ich bin nicht aus Neugier hier. Ich habe zu tun.«

»Dreiundachtzig Prozent aller Gruppen«, antwortete Alexander B. ohne Zögern, »haben hier zu tun. Die letzte Gruppe - bestehend aus fünf Exemplaren einschließlich der minderjährigen Kinder und eines Hundes - wollte mit den Leitern der Mission eine Vereinbarung über Unterricht in der Kopflersprache treffen. Aber die meisten sind Sammler von Xenofolklore. Das ist gerade sehr modern! Alle sammeln Xenofolklore. Ich sammle auch Xenofolklore. Aber die Kopfler kennen gar keine Folklore! Das ist eine Ente! Der Spaßvogel Long Müller hat ein Büchlein in der Manier Ossians herausgebracht, und alle sind ganz verrückt geworden … ›O struppige Bäume, tausendschwänzige, die ihr verbergt eure Gedanken voll Gram in warmen und flaumigen Stämmen! Tausendmal tausend Schwänze habt ihr und nicht einen einzigen Kopf …‹ Dabei kennen die Kopfler den Begriff des Schwanzes überhaupt nicht! Der Schwanz ist bei ihnen ein Orientierungsorgan, und wenn man schon adäquat übersetzen wollte, käme man nicht auf Schwanz, sondern auf Kompass … ›O tausendkompässige Bäume!‹ Aber ich sehe, Sie sind kein Folklorist …«

»Nein«, gestand der Journalist Kammerer aufrichtig. »Ich bin etwas viel Schlimmeres. Ich bin Journalist.«

»Sie schreiben ein Buch über die Kopfler?«

»Ja, in gewissem Sinne. Und?«

»Nichts. Bitte sehr. Sie sind nicht der Erste und nicht der Letzte. Haben Sie die Kopfler jemals zu Gesicht bekommen?«

»Ja, natürlich.«

»Auf dem Bildschirm?«

»Nein. Es ist nämlich so, dass ich seinerzeit die Kopfler auf dem Saraksch entdeckt habe.«

Alexander B. erhob sich. »Dann sind Sie Kammerer?«

»Zu Diensten.«

»Nicht doch, ich bin zu Ihren Diensten, Doktor! Befehlen Sie, fordern Sie, ordnen Sie an.«

Augenblicklich fiel mir das Gespräch mit Abalkin wieder ein, und ich beeilte mich klarzustellen: »Ich habe sie bloß entdeckt, weiter nichts. Ich bin kein Fachmann auf diesem Gebiet. Und im Moment interessieren mich nicht die Kopfler als solche, sondern nur ein einziger - der Missionsdolmetscher. Wenn Sie also nichts dagegen haben … Gehe ich jetzt zu ihnen?«

»Aber Doktor, ich bitte Sie!« Alexander B. schien verwundert. »Glauben Sie etwa, wir sitzen hier auf Wache? Nichts dergleichen! Bitte, gehen Sie nur! Das machen überhaupt viele. Man erklärt ihnen, dass die Gerüchte übertrieben sind, sie nicken, verabschieden sich, und kaum sind sie draußen - husch über die Brücke.«

»Und?«

»Nach einer Weile kommen sie wieder. Sehr enttäuscht. Gesehen haben sie nichts und niemand. Wald, Hügel, Bodenspalten, eine bezaubernde Landschaft - das ist freilich alles zu sehen, nur eben keine Kopfler. Erstens haben die Kopfler eine nächtliche Lebensweise, zweitens leben sie unterirdisch, und die Hauptsache - sie treffen sich nur mit Leuten, die sie tatsächlich treffen möchten. Und für diesen Fall haben wir hier Dienst - sozusagen als Verbindungsleute …«

»Was heißt ›wir‹?«, erkundigte sich der Journalist Kammerer. »Die KomKon?«

»Ja, Praktikanten. Wir haben abwechselnd Dienst. Über uns geht die Verbindung nach beiden Seiten. Welchen von den Dolmetschern wollen Sie?«

»Ich brauche Wepl-Itrtsch.«

»Versuchen wir es. Kennt er Sie?«

»Wohl kaum. Aber sagen Sie ihm, dass ich mit ihm über Lew Abalkin sprechen möchte, den kennt er gewiss.«

»Das möchte ich meinen!«, sagte Alexander B. und zog den Selektor zu sich heran.

Der Journalist Kammerer (und, zugegeben, auch ich selbst) beobachtete mit einem Entzücken, das in andächtiges Staunen überging, wie dieser junge Mann mit dem Gesicht eines romantischen Dichters plötzlich wild die Augen verdrehte und die eleganten Lippen zu einer unglaublichen Röhre formte. Dann begann er zu schnalzen, zu krächzen und zu glucksen wie dreiunddreißig Kopfler auf einmal (in einem nächtlichen toten Wald, an einer aufgerissenen Betonstraße, unter dem trübe phosphoreszierenden Himmel des Saraksch). Und diese Töne schienen sehr gut in den gewölbten, kasemattenleeren Raum mit den rauen, nackten Wänden zu passen. Dann verstummte der junge Mann, neigte den Kopf und lauschte Serien von Antwortschnalzern und -glucksern; dabei bewegten sich seine Lippen mitsamt dem Unterkiefer weiter, als hielte er sich bereit, das Gespräch fortzusetzen. Da dies kein sonderlich schöner Anblick war, wandte der Journalist Kammerer - trotz seines andächtigen Staunens - diskret seinen Blick ab.

Das Gespräch dauerte nicht allzu lange. Alexander B. lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, massierte sich mit den schlanken blassen Fingern zart den Unterkiefer und erklärte ein wenig außer Atem: »Er scheint einverstanden zu sein. Ich will Ihnen freilich nicht zu viel Hoffnung machen. Ich bin nicht sicher, ob ich alles richtig verstanden habe. Zwei Sinnebenen habe ich erfasst, aber ich glaube, da war noch eine dritte. Kurzum, gehen Sie über die Brücke, dort finden Sie einen Pfad. Der Pfad führt in den Wald. Da wird er Sie treffen. Genauer, er wird Sie sich ansehen … Nein. Wie soll ich es sagen … Wissen Sie, es ist nicht so schwer, einen Kopfler zu verstehen. Schwerer ist es, ihn zu übersetzen. Zum Beispiel dieser Reklamespruch: ›Wir sind für das Wissen, aber nicht für die Neugier.‹ - übrigens eine sehr gelungene Übersetzung. ›Wir sind nicht für die Neugier‹ kann heißen ›wir sind nicht ohne Zweck neugierig‹, aber auch: ›Wir sind für euch nicht von Interesse.‹ Verstehen Sie?«

»Ich verstehe«, sagte der Journalist Kammerer und stand auf. »Er wird mich eine Weile ansehen und dann entscheiden, ob ich ein Gespräch wert bin. Vielen Dank für die Mühe.«

»Was denn für Mühe? Es ist mir eine angenehme Pflicht. Warten Sie, nehmen Sie meinen Umhang, draußen regnet es.«

»Danke, nicht nötig«, sagte der Journalist Kammerer und trat in den Regen hinaus.

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