Dokument 20
Arbeitsfonogramm
Datum: 16. Mai’99
Gesprächsteilnehmer: M. Kammerer, Leiter der Abteilung BV;
T. Glumow, Inspektor
Projekt: -
Betr.: -
GLUMOW: Was passierte in diesen Lücken?
KAMMERER: Bravo. Du hast Nerven, Junge. Als ich begriff, was los war, bin ich eine halbe Stunde lang die Wände hochgegangen.
GLUMOW: Also, was passierte in den Lücken?
KAMMERER: Unbekannt.
GLUMOW: Was heißt: unbekannt?
KAMMERER: Das heißt: Komow und Gorbowski können sich nicht erinnern, was in den Lücken passierte. Sie haben keinerlei Lücken bemerkt. Und das Fonogramm zu rekonstruieren ist unmöglich. Es ist nicht gelöscht, es ist einfach vernichtet. In den Bereichen mit den Leerstellen ist die Molekularstruktur zerstört.
GLUMOW: Eine seltsame Art, Verhandlungen zu führen.
KAMMERER: Wir werden uns daran gewöhnen müssen. Pause.
GLUMOW: Und was soll jetzt werden?
KAMMERER: Vorläufig wissen wir zu wenig. Und überhaupt gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder wir lernen, neben ihnen zu koexistieren. Oder wir lernen es nicht.
GLUMOW: Es gibt eine dritte Möglichkeit.
KAMMERER: Bleib ruhig. Es gibt keine dritte Möglichkeit.
GLUMOW: Doch, es gibt eine! Sie werden nicht lange mit uns fackeln!
KAMMERER: Das ist kein Argument.
GLUMOW: Es ist ein Argument! Sie haben den Weltrat nicht um Erlaubnis gefragt! Sie befassen sich seit vielen Jahren insgeheim mit der Verwandlung von Menschen in Nichtmenschen! Sie führen Experimente an Menschen durch! Und sogar jetzt, wo sie entlarvt wurden, kommen sie zu Verhandlungen und erlauben sich …
KAMMERER (unterbricht ihn): Das, was du vorschlagen willst, kann man entweder offen tun - dann wird die Menschheit Zeuge ganz abscheulicher Gewalttaten - oder insgeheim, niederträchtig und hinter dem Rücken der Öffentlichkeit.
GLUMOW (unterbricht ihn): Worte, nichts als Worte! Es geht aber darum, dass die Menschheit keine Brutstätte für Nichtmenschen sein darf. Und erst recht kein Versuchsobjekt für ihre verdammten Experimente! Verzeihen Sie, Big Bug, aber Sie haben einen Fehler gemacht. Sie hätten weder Komow noch Gorbowski in diese Sache einweihen sollen.
KAMMERER: Toivo, woher hast du diese Xenophobie? Das sind doch keine Wanderer oder Progressoren.
GLUMOW: Ich habe das Gefühl, dass sie noch schlimmer als Progressoren sind. Sie sind Verräter, Parasiten. Wie die Wespen, die ihre Eier in Raupen ablegen. Pause.
KAMMERER: Rede nur. Sprich dich aus.
GLUMOW: Ich werde nichts weiter sagen. Es hat keinen Sinn. Seit fünf Jahren bin ich unter Ihrer Leitung mit dieser Angelegenheit befasst, und seit fünf Jahren irre ich wie blind umher. Sagen Sie mir doch wenigstens jetzt: Wann haben Sie die Wahrheit erkannt? Wann haben Sie begriffen, dass es nicht die Wanderer sind? Vor sechs Monaten? Vor acht?
KAMMERER: Vor weniger als zwei.
GLUMOW: Trotzdem: vor ein paar Wochen. Ich verstehe, Sie hatten Ihre Gründe, wollten mich nicht in alle Einzelheiten einweihen. Aber wie konnten Sie mir verheimlichen, dass sich das Objekt selbst geändert hatte? Wie konnten Sie sich erlauben, mich dazu zu bringen, dass ich mich zum Narren machte? Dass ich mich vor Gorbowski und Komow zum Narren machte. Ich möchte vor Scham in den Boden versinken, wenn ich nur daran denke!
KAMMERER: Kannst du dir nicht vorstellen, dass es auch dafür einen Grund gab?
GLUMOW: Kann ich. Aber das hilft mir nicht. Ich kenne den Grund nicht und kann ihn mir nicht einmal vorstellen. Und Sie, Big Bug, sehen nicht so aus, als wollten Sie ihn mir mitteilen! Nein, ich habe genug. Ich bin für die Arbeit mit Ihnen nicht geeignet. Lassen Sie mich gehen; ich gehe sowieso.
Pause.
KAMMERER: Ich konnte dir nicht die Wahrheit sagen - zuerst, weil ich nicht wusste, was wir mit dieser Wahrheit anfangen sollten. In Klammern: Ich weiß es zwar auch jetzt noch nicht, aber die Last der Entscheidungen liegt jetzt bei anderen.
GLUMOW: Sie brauchen sich nicht zu rechtfertigen, Big Bug. KAMMERER: Schweig. Du schaffst es doch nicht, mich in Wut zu bringen. Du liebst die Wahrheit sehr? Jetzt bekommst du sie. Die ganze Wahrheit.
Pause.
KAMMERER: Dann schickte ich dich ins Institut der Sonderlinge. Und wieder musste ich warten.
GLUMOW (unterbricht ihn): Was hat hier …
KAMMERER (unterbricht ihn): Ich habe gesagt - schweig! Die Wahrheit zu sagen ist nicht leicht, Toivo. Ich meine damit nicht, sie jemandem schonungslos und geradeheraus ins Gesicht zu sagen, wie man das gern tut, wenn man jung ist. Nein, ich meine, sie jemandem wie dir beizubringen, einem zwar unerfahrenen, aber selbstsicheren jungen Mann, einem, der alles weiß und alles versteht. Schweig und hör zu. Pause.
KAMMERER: Dann erhielt ich die Antwort aus dem Institut. Sie war wie ein Schlag ins Gesicht. Ich hatte geglaubt, nur eine routinemäßige Vorsichtsmaßnahme durchzuführen, aber dann stellte sich heraus … Hör mal, du hast doch eben die Aufzeichnung gehört. Ist dir dabei nichts seltsam vorgekommen?
GLUMOW: Daran ist alles seltsam.
KAMMERER: Na los, schalt ein. Hör es dir noch einmal an, aber aufmerksam, von Anfang an, mitsamt dem Titelkopf. Na?
GLUMOW: »Nur für Mitglieder des Präsidiums …« Wie ist das zu verstehen?
KAMMERER: Na? Na?
GLUMOW: Sie haben ein Dokument mit der höchsten Vertraulichkeitsstufe an mich weitergereicht. Warum?
KAMMERER (langsam und beinahe einschmeichelnd): Wie du bemerkt hast, enthält das Dokument Lücken. Aber ich hege die Hoffnung, dass du, wenn deine Zeit gekommen ist, aus alter Freundschaft und eingedenk der alten Zeiten die Lücken für mich auffüllen wirst.
Lange Pause.
KAMMERER: So sieht nämlich die ganze Wahrheit aus, beziehungsweise der Teil der Wahrheit, der dich betrifft. Als ich erfuhr, dass man sich im Institut der Sonderlinge mit der Selektion befasst, habe ich euch alle, einen nach dem anderen, dorthingeschickt, unter den verschiedensten, idiotischsten Vorwänden. Einfach eine grundlegende Vorsichtsmaßnahme, verstehst du? Um dem Gegner keine Chance zu lassen, um sicher zu sein. Nein, sicher war ich mir ohnehin, aber um ganz genau zu wissen: Unter meinen Mitarbeitern sind nur Menschen.
Pause.
KAMMERER: Sie haben dort eine Apparatur … angeblich, um »Sonderlinge« ausfindig zu machen. Durch diese schleusen sie alle Besucher. In Wirklichkeit aber sucht dieses Gerät im Mentogramm nach der sogenannten T-Spitze, auch »Logowenko-Impuls« genannt. Wenn ein Mensch über ein drittes Impulssystem verfügt und somit für die Initiierung geeignet ist, taucht in seinem Mentogramm die T-Spitze auf. Also dann: Du hast diese Spitze.
Lange Pause.
GLUMOW: Das ist doch Unsinn, Big Bug.
Pause.
GLUMOW: Die führen Sie an der Nase herum!
Pause.
GLUMOW: Das ist eine Provokation! Sie wollen mich außer Gefecht setzen! Anscheinend habe ich etwas Wichtiges herausgefunden
Pause.
GLUMOW: Sie kennen mich von Kindheit an! Ich habe Tausende von Medkommissionen durchlaufen; ich bin ein ganz gewöhnlicher Mensch! Glauben Sie ihnen nicht, Big Bug! Wer liefert Ihnen die Informationen? - Nein, ich frage nicht nach dem Namen. Bedenken Sie aber, woher kann er das alles wissen? Er ist doch mit Sicherheit selbst einer von diesen … Wie können Sie ihm glauben? (Er schreit:) Es geht doch nicht um mich! Ich höre sowieso auf! Aber genauso können sie ohne einen einzigen Schuss die ganze KomKon erledigen! Haben Sie daran schon gedacht?
Pause.
GLUMOW (mit bedrückter Stimme): Was soll ich denn machen? Sie haben sich doch sicher etwas ausgedacht, was ich jetzt tun soll.
KAMMERER: Hör zu. Du solltest dich nicht so aufregen. Noch ist nichts Schlimmes passiert. Warum hast du so aufgeschrien, als schwängen sie »schon ihre Messer wonnegrunzelnd«? Letzten Endes hast du es selbst in der Hand! Und wenn du nicht willst, bleibt alles, wie es ist!
GLUMOW: Woher wissen Sie das?
KAMMERER: Aber ich weiß ja gar nichts. Ich weiß genauso viel wie du, und du hast es eben selbst gehört: Das dritte Impulssystem ist nur potenziell angelegt. Es muss initiiert werden. Dann erst beginnt der Aufstieg von Niveau zu Niveau. Und ich möchte sehen, wie sie das ohne deinen Willen mit dir machen wollen!
Pause.
GLUMOW: Natürlich. (Er lacht hysterisch.) Sie haben mir vielleicht Angst eingejagt, Chef!
KAMMERER: Du hast es nur nicht sofort verstanden.
GLUMOW: Ich verschwinde einfach von hier! Sollen sie doch nach mir suchen! Aber wenn sie mich finden, werden sie mich nicht in Ruhe lassen, mich überreden wollen … Sagen Sie ihnen, dass sie das besser bleiben lassen!
KAMMERER: Sie werden sich kaum mit mir unterhalten wollen.
GLUMOW: Warum?
KAMMERER: Wir sind nicht maßgebend für sie. Wir müssen uns jetzt an eine völlig neue Situation gewöhnen. Nicht wir legen den Zeitpunkt von Gesprächen fest, nicht wir bestimmen das Thema. Überhaupt haben wir die Kontrolle über die Ereignisse verloren. Diese Situation hat nicht ihresgleichen: Bei uns auf der Erde, mitten unter uns, wirkt eine Kraft - und was für eine! Wir wissen nichts über sie. Um genau zu sein, wissen wir nur, was uns zu wissen erlaubt wird, und das ist fast schlimmer, als wenn wir gar nichts wüssten. Ein ungutes Gefühl, nicht wahr? Nein, ich kann nichts Schlechtes über diese Menten sagen. Aber es ist auch noch nichts Gutes über sie bekannt!
Pause.
KAMMERER: Sie wissen alles über uns, wir über sie aber nichts. Das ist demütigend. Jeder von uns, der mit dieser Situation in Berührung kommt, wird ein Gefühl der Demütigung empfinden. Jetzt steht uns bevor, zwei Mitglieder des Weltrates einer Tiefenmentoskopie zu unterziehen - und das nur, um zu rekonstruieren, wovon während der historischen Besprechung im »Leonidsheim« die Rede war. Und beachte, weder die Mitglieder des Weltrats noch wir wollen diese Mentoskopie. Sie ist eine Demütigung für uns alle, aber es bleibt uns keine Wahl - obwohl die Erfolgschancen, wie dir klar ist, mehr als fraglich sind.
GLUMOW: Aber Sie haben doch Agenten unter ihnen!
KAMMERER: Nicht »unter ihnen«, sondern nur in der Nähe. »Unter ihnen« - davon können wir nur träumen. Und dabei, fürchte ich, wird es auch bleiben. Wer von ihnen würde uns helfen wollen? Und warum sollte er? Was kümmern wir sie? Hm? Toivo!
Lange Pause.
GLUMOW: Nein, Maxim. Ich will nicht. Ich verstehe alles, aber ich will nicht!
KAMMERER: Hast du Angst davor?
GLUMOW: Ich weiß nicht. Nein, ich will einfach nicht. Ich bin ein Mensch, und ich will nichts anderes sein. Ich will nicht auf euch herabsehen. Ich will nicht, dass mir die Menschen, die ich achte und liebe, wie Kinder erscheinen. Ich verstehe Sie, Maxim: Sie hoffen, dass das Menschliche in mir erhalten bleibt. Vielleicht haben Sie sogar Grund zu dieser Hoffnung. Aber ich will es nicht riskieren. Ich will nicht!
Pause.
KAMMERER: Na ja. Letzten Endes ist das sogar lobenswert.
Ich war mir des Erfolges sicher gewesen. Aber ich hatte mich getäuscht.
Ich habe dich nicht so gut gekannt, wie ich dachte, Toivo Glumow, mein Junge. Du warst mir härter erschienen und besser gewappnet, vielleicht auch fanatischer.
Nun aber, endlich, ein paar Worte über das wahre Ziel meiner Memoiren.
Jene meiner Leser, die das Buch »Die fünf Biografien des Jahrhunderts« kennen, haben sicher erraten, dass es mir darum ging, die sensationelle Hypothese von P. Soroka und E. Braun zu widerlegen, dass Toivo Glumow schon als Progressor in Arkanar ins Blickfeld der Menten geraten und von Wanderer anzuheizen, indem er jeden falschen Schritt und jede Unachtsamkeit der Menten als Manifestation des Wirkens der verhassten Superzivilisation auslegte. Fünf Jahre lang habe er die gesamte Leitung der KomKon 2 an der Nase herumgeführt, und vor allem natürlich seinen Chef und Mentor Maxim Kammerer. Als es schließlich trotzdem gelungen sei, die Menten zu entlarven, habe er vor dem arglosen Big Bug seine letzte herzbewegende Komödie gespielt und sei dann aus dem Spiel ausgestiegen.
Ich nehme an, dass jeder Leser, dem die Thesen von Soroka und Braun bisher nicht vertraut waren, an dieser Stelle überrascht einwendet: »Was für ein Unsinn, was haben Soroka und Braun für sonderbare Ideen? Was sie schreiben, widerspricht doch allem, was ich soeben gelesen habe.« Dem Leser hingegen, der Toivo Glumow schon vorher, d. h. aus den »Fünf Biografien« kannte, möchte ich raten: Versuchen Sie, das Ihnen hier vorgelegte Material neutral zu betrachten; es wäre nicht gut, die Diskussion um das Menten-Problem erneut anzuheizen, nachdem sie sich derzeit beruhigt hat.
Zugegeben, die Geschichte der Großen Offenbarung enthält viele »weiße Flecken«, aber ich kann versichern, und bin mir meiner Verantwortung dabei bewusst, dass diese weißen Flecken mit Toivo Glumow nichts zu tun haben. Und ich bin mir auch meiner Verantwortung bewusst, wenn ich erkläre, dass die spitzfindigen Thesen von P. Soroka und E. Braun nichts weiter sind als leichtfertige Phrasen und großer Unfug.
Was nun »die letzte herzbewegende Komödie« angeht, so bedaure ich nur eins und mache mir deswegen bis heute Vorwürfe: Ich altes, dickfelliges Nashorn habe damals nicht begriffen, habe nicht vorausgeahnt, dass ich Toivo Glumow zum letzten Mal sah.