1. JUNI’78

So gut wie alles über die möglichen Kontakte Lew Abalkins

Als Nächstes erstellte ich eine Liste von Personen, mit denen Abalkin auf der Erde vielleicht Kontakt aufnehmen würde. Es waren lediglich achtzehn Namen; von praktischem Interesse schienen mir davon aber nur sechs zu sein. Ich ordnete sie nach der Wahrscheinlichkeit, wie ich annahm, dass Abalkin sie aufsuchen würde. Es ergab sich folgendes Bild:

der Lehrer, Sergej Pawlowitsch Fedossejew


die Mutter, Stella Wladimirowna Abalkina


der Vater, Wjatscheslaw Borissowitsch Zjurupa


der Betreuer, Ernst Julius Horn


der beobachtende Arzt an der Progressoren-Schule,


Romuald Grăsescu


die beobachtende Ärztin der Internatsschule, Jadwiga


Michailowna Lekanowa.

In der zweiten Gruppe verblieben Kornej Jašmaa, der Kopfler Wepl, Jakob Vanderhoeze und fünf weitere Personen, hauptsächlich Progressoren. Leute wie Gorbowski, Bader und Komow hatte ich eher pro forma notiert: Befragen konnte ich sie nicht, schon allein deshalb, weil sie auf keinerlei Legende hereingefallen wären. Und Klartext sprechen durfte ich nicht - nicht einmal dann, wenn sie sich in dieser Angelegenheit selbst an mich gewandt hätten.

Innerhalb von zehn Minuten lieferte mir das Informatorium folgende, allerdings wenig ermutigende Daten:

Die Eltern Lew Abalkins existierten nicht - zumindest nicht im üblichen Sinne. Vielleicht gab es sie auch überhaupt nicht: Vor etwa vierzig Jahren waren Stella Wladimirowna und Wjatscheslaw Borissowitsch als Mitglieder der Gruppe »Jormala« mit dem Raumschiff »Finsternis« in das Schwarze Loch EN 200 056 eingedrungen. Eine Verbindung zu ihnen gab es nicht und konnte es nach den gegenwärtigen Vorstellungen auch nicht geben. Lew Abalkin erwies sich als ihr postumes Kind - wobei das Wort »postum« in diesem Zusammenhang nicht ganz korrekt ist. Denn es ist durchaus möglich, dass die Eltern noch leben und nach unserer Zeitrechnung noch Millionen Jahre leben werden. Aus der Sicht eines Erdenmenschen aber sind sie tot. Stella Wladimirowna und Wjatscheslaw Borissowitsch hatten keine Kinder, hinterließen jedoch wie viele andere Ehepaare in vergleichbarer Situation eine befruchtete Eizelle im Institut des Lebens. Als feststand, dass das Eindringen in das Schwarze Loch gelungen war und sie nicht wieder zurückkehren würden, aktivierte man die Zelle. Zur Welt kam Lew Abalkin, der postume Sohn lebender Eltern. Zumindest verstand ich jetzt, warum auf Blatt Nr. 1 Abalkins Eltern keine Erwähnung fanden.

Ernst Julius Horn, Abalkins Betreuer an der Progressoren-Schule, lebte nicht mehr. Er war’72 auf der Venus bei einer Besteigung des Pik Strogow ums Leben gekommen.

Der Arzt Romuald Grăsescu hielt sich auf einem Planeten Namens Lu auf und war, wie es schien, für Abalkin völlig außer Reichweite. Ich hatte bisher nie von diesem Planeten gehört; da aber Grăsescu als Progressor arbeitete, war anzunehmen, dass es sich um einen bewohnten Planeten handelte. Der alte Mann (hundertsechzehn Jahre) hatte jedoch beim GGI seine letzte Privatanschrift hinterlegt und - was sehr interessant war - eine Notiz hinzugefügt: »Unter dieser Adresse sind meine Enkelin und ihr Mann zu erreichen, die all meine Schützlinge jederzeit gerne empfangen.« Die Schützlinge hatten ihren Alten anscheinend ins Herz geschlossen und ihn des Öfteren besucht; das musste ich im Auge behalten.

Mit den übrigen beiden hatte ich Glück.

Sergej Pawlowitsch Fedossejew, Abalkins Lehrer, erfreute sich bester Gesundheit und lebte am Ufer des Ajatsker Sees auf einem Gehöft mit dem leicht bedrohlichen Namen Komariki - »Mückenau«. Auch er war schon über hundert Jahre alt und entweder sehr bescheiden oder höchst verschlossen, denn er teilte nichts über sich mit als die Adresse. Alle weiteren Daten waren offizieller Natur: die und die Ausbildung, Archäologe, Lehrer. Mehr nicht. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, sagt man, denn genauso hat es auch sein Schüler Lew Abalkin gemacht. Als ich eine Zusatzanfrage an das GGI richtete, stellte sich zudem heraus, dass Sergej Pawlowitsch der Verfasser von über dreißig Artikeln zur Archäologie war, dass er an acht archäologischen Expeditionen in Nordwestasien und an drei eurasischen Lehrerkonferenzen teilgenommen hatte. Außerdem hatte er auf seinem Gehöft »Mückenau« ein Privatmuseum für das Paläolithikum des Nördlichen Urals eingerichtet, das im ganzen Bezirk bekannt war. All dies aber

Jadwiga Michailowna Lekanowa bescherte mir ihrerseits eine kleine Überraschung. Kinderärzte wechseln bekanntlich selten den Beruf; daher hatte ich sie mir als eine alte Dame vorgestellt, die rüstig, aber gebeugt unter der Last ihrer ungeheuren Erfahrung (der wertvollsten überhaupt), über das Gelände der alten Schule in Syktywkar trippelt. Doch weit gefehlt: Eine Zeit lang hatte sie zwar tatsächlich als Kinderärztin in Syktywkar gearbeitet, sich dann aber zur Ethnologin ausbilden lassen. Damit aber nicht genug: Jadwiga Lekanowa befasste sich mit Xenologie, Pathoxenologie, vergleichender Psychologie und Levelometrie. Und in all diesen nicht sonderlich eng miteinander verknüpften Wissenschaften war sie offensichtlich sehr erfolgreich: Sie hatte eine große Anzahl von Artikeln veröffentlicht und verantwortungsvolle Ämter bekleidet. Im Laufe der letzten 25 Jahre war sie in sechs verschiedenen Instituten und Organisationen tätig gewesen. Jetzt arbeitete sie im mobilen Institut für irdische Ethnologie im Amazonasbecken. Eine Adresse besaß sie nicht; Interessenten wurde empfohlen, sie über die Niederlassung des Instituts in Manáus zu kontaktieren. Nun, wenigstens etwas - wenn es auch sehr unwahrscheinlich war, dass sich Abalkin in seiner jetzigen Verfassung zu Lekanowa in die noch immer urtümliche Wildnis schleppen würde.

Es war also klar, dass ich mit dem Lehrer anfangen musste. Ich klemmte mir die Mappe unter den Arm, stieg in die Maschine und flog zum Ajatsker See.

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