1. JUNI’78

Kurz zum Inhalt der Mappe

Um 14:23 Uhr war ich mit der Inhaltsübersicht fertig.

Der größte Teil bestand aus Dokumenten, die Abalkin selbst geschrieben hatte.

Zum Beispiel sein Bericht über die Teilnahme an der Operation »Tote Welt« auf dem Planeten Esperanza: sechsundsiebzig Seiten in großer, deutlicher Schrift, fast ohne Korrekturen. Ich überflog die Seiten. Abalkin schildert darin, wie er zusammen mit dem Kopfler Wepl auf der Suche nach etwas (mir entging, nach was) eine verlassene Stadt durchquert und als einer der Ersten Kontakt aufgenommen hatte zu den wenigen, dort noch verbliebenen Eingeborenen.

Vor etwa fünfzehn Jahren war die Esperanza und ihr grausames Schicksal auf der Erde in aller Munde gewesen, und sie war es noch immer - als unheilvolle Warnung für alle bewohnten Welten des Universums und als Zeugnis für den jüngsten und massivsten Eingriff der Wanderer in die Geschicke anderer Zivilisationen. Es gilt jetzt als sicher, dass die Bewohner der Esperanza im Verlauf der letzten einhundert

Eine solche Zivilisation hatte keinerlei historische Perspektive. Aber dann erschienen die Wanderer. Soweit uns bekannt ist, war es das erste Mal, dass sie sich in die Geschicke einer fremden Welt einmischten. Als gesichert gilt, dass sie nahezu die gesamte Bevölkerung der Esperanza durch interspatiale Tunnel evakuieren und so anscheinend retten konnten. (Wohin aber diese Milliarden von kranken, bedauernswerten Menschen evakuiert wurden, wo sie sich jetzt befinden und was aus ihnen geworden ist - wissen wir nicht und werden es wohl auch lange nicht erfahren.)

Abalkin hatte nur am Anfang der Operation »Tote Welt« teilgenommen und dabei eine recht bescheidene Rolle gespielt. Aber er war der erste und bisher einzige irdische Progressor,

Beim Überfliegen des Berichtes sah ich, dass Abalkin viele Namen darin erwähnte, hatte aber den Eindruck, dass für meinen Auftrag allein Wepl von Bedeutung war. Ich wusste, dass sich gerade eine ganze Gesandtschaft von Kopflern auf der Erde aufhielt; vielleicht lohnte es sich herauszufinden, ob dieser Wepl darunter war? Abalkin schrieb mit so viel Wärme über ihn, dass ich ein Zusammentreffen mit dem alten Freund nicht ausschloss. Mir war schon aufgefallen, dass Abalkin eine besondere Beziehung zu diesen »kleinen Brüdern« besaß: Den Kopflern hatte er mehrere Jahre seines Lebens gewidmet, auf der Giganda war er Hundeführer geworden … und überhaupt.

In der Mappe befand sich noch ein Bericht über eine Operation Abalkins auf der Giganda. Die Operation war meiner Ansicht nach aber kaum der Rede wert: Der Jägermeister Seiner Hoheit des Herzogs von Alay hatte einem armen Verwandten eine Anstellung als Bankkurier verschafft. Der Jägermeister war Lew Abalkin, der arme Verwandte ein gewisser Kornej Jašmaa. Für meine Zwecke aber schien das Material nutzlos. Soweit ich beim flüchtigen Durchsehen feststellen konnte, kam außer Kornej Jašmaa kein einziger irdischer Name vor. Es tauchten gewisse Soggas und Nagon-Gighs auf, Stallmeister, Durchlauchten, Panzermeister, Konferenzdirektoren und Hofdamen. Ich notierte mir diesen Kornej, obwohl klar war, dass ich ihn wahrscheinlich nicht brauchen würde. Der zweite Arbeitsbericht Lew Abalkins umfasste vierundzwanzig Seiten; weitere fanden sich in der Mappe nicht. Das schien mir merkwürdig; daher nahm ich mir vor, zu gegebener Zeit darüber nachzudenken, warum sich von all den vielen Berichten eines professionellen Progressors nur zwei in der Mappe 07 befanden und - warum gerade diese?

Beide Berichte waren im Stil »Laborant« verfasst und ähnelten einem Schulaufsatz der Art »Wie ich meine Ferien bei den Großeltern verbrachte«. Es macht Spaß, solche Berichte zu schreiben - sie zu lesen aber ist eine ziemliche Tortur. Die Psychologen (die sich in den Stäben festgesetzt haben) verlangen, weniger objektive Angaben über Ereignisse und Tatsachen in die Berichte aufzunehmen, als vielmehr rein subjektive Empfindungen, persönliche Eindrücke und den Bewusstseinsstrom des Verfassers. Dieser wählt den Berichtsstil (»Laborant«, »General«, »Künstler«) jedoch nicht selbst, sondern er wird ihm aus bestimmten psychologischen (und geheimen) Erwägungen heraus vorgeschrieben … Fürwahr: Es gibt Lügen, es gibt schamlose Lügen und es gibt die Statistik. Aber, Freunde, lasst uns dabei die Psychologie nicht vergessen!

Ich bin kein Psychologe, jedenfalls nicht von Beruf - aber vielleicht war es trotzdem möglich, den Berichten etwas Nützliches über die Persönlichkeit Lew Abalkins zu entnehmen?

Während ich also den Inhalt der Mappe durchsah, stieß ich immer wieder auf ähnliche, ja, identische Dokumente, die mir rätselhaft waren: blaue Blätter mit grünem Rand aus relativ starkem Papier; in die linke obere Ecke war jeweils ein Monogramm eingeprägt, das einen chinesischen Drachen (oder war es ein Pterodaktylus?) darstellte. Auf jedem der Blätter stand mit Füller oder Filzstift, manchmal auch mit einem Elektrodenstift aus dem Labor, immer aber in der mir schon bekannten schwungvollen Handschrift: »Tristan 777«. Darunter das Datum und dieselbe verschnörkelte Unterschrift. Den Daten nach zu urteilen, waren seit dem Jahr’60 ungefähr alle drei Monate Blätter in die Mappe gelegt worden; sie machten jetzt etwa ein Viertel ihres Inhalts aus.

Weitere zweiundzwanzig Seiten nahm die Korrespondenz Abalkins mit seiner Führung ein. Und diese Korrespondenz gab meinen Gedanken eine neue Richtung.

Im Oktober’63 schickt Abalkin einen Bericht an die KomKon 1, in welchem er - in zunächst moderatem Ton - sein Befremden äußert, dass man die Operation »Kopfler im Weltraum« eingestellt habe, ohne ihn vorher zu konsultieren. Die Operation sei sehr erfolgreich gewesen und habe zahlreiche Perspektiven geboten.

Ich weiß nicht, welche Antwort er auf seinen Bericht erhalten hat, aber im November desselben Jahres schreibt er einen verzweifelten Brief an Komow und bittet ihn, die Operation »Kopfler im Weltraum« wiederaufzunehmen. Einen weiteren, nun schon sehr barschen Brief schreibt er an die KomKon: Er protestiert heftig dagegen, dass man ihn, Abalkin, auf einen Umschulungskursus schickt. (All das erledigt er aus irgendeinem Grund schriftlich und nicht in der üblichen Form.)

Wie die darauf folgenden Ereignisse zeigen, bleibt seine Korrespondenz ohne jede Wirkung: Abalkin wird zur Arbeit auf die Giganda beordert. Drei Jahre später, im November’66, schreibt er von der Pandora aus erneut an die KomKon und bittet darum, ihn zur Fortführung seiner Arbeit mit den Kopflern auf den Saraksch zu entsenden. Diesmal kommt man seiner Bitte nach und schickt ihn zurück auf den Saraksch - allerdings nicht an die Blaue Schlange, sondern als Untergrundkämpfer der Union nach Honti.

Während seines Umschulungskurses schreibt Abalkin noch zweimal, im Februar und im August’67, an die KomKon (an Bader und schließlich an Gorbowski persönlich) und weist darauf hin, wie unzweckmäßig es sei, ihn, einen Spezialisten für die Rasse der Kopfler, als Residenten einzusetzen. Der Ton seiner Briefe wird schärfer; den Brief an Gorbowski etwa kann ich nur als beleidigend bezeichnen. Ich wüsste zu gern, wie Leonid Andrejewitsch, diese Seele von Mensch, auf eine solche Eruption von Wut, Verachtung und Empörung reagiert hat.

Schon Resident in Honti, schickt Abalkin im Oktober’67 seinen letzten Brief an Komow; es ist ein detailliertes Konzept mit dem Ziel, den Kontakt mit den Kopflern voranzutreiben - durch den Austausch ständiger Missionen, die Beteiligung der Kopfler an tierpsychologischen Arbeiten auf der Erde u.v.a. Ich habe die Entwicklung in diesem Bereich nicht speziell verfolgt, habe aber den Eindruck, dass Abalkins Plan inzwischen umgesetzt wird. Wenn dem so ist, ergibt sich daraus eine paradoxe Situation: Der Plan wird verwirklicht, sein Initiator aber sitzt als Resident entweder in Honti oder im Inselimperium.

Abschließend betrachtet, hinterließ die Korrespondenz bei mir ein ungutes, ja, beklemmendes Gefühl. Gut, ich bin kein Spezialist für die Kopfler-Problematik und kann darüber schwerlich urteilen. Und es mag durchaus sein, dass Abalkins Plan trivial war und so große Worte wie »Initiator« hier völlig fehl am Platz sind. Aber es geht nicht allein darum! Der Junge ist der geborene Tierpsychologe. »Berufliche Neigungen: Tierpsychologie, Theater, Ethnolinguistik. Berufliche Angaben: Tierpsychologie, theoretische Xenologie …«

Trotzdem machen sie aus ihm einen Progressor. Es gibt zwar auch eine ganze Reihe von Progressoren, die sich intensiv mit Tierpsychologie befassen - etwa wenn sie mit den Leonidanern oder eben mit den Kopflern arbeiten. Aber nein, man zwingt den Jungen, als Resident und Mitglied einer Kampftruppe mit Humanoiden zu arbeiten. Und das, obwohl er sich fünf Jahre lang unüberhörbar bei der KomKon beschwert. Fünf Jahre lang brüllt er: »Was macht ihr mit mir?« Und dann wundern sie sich, wenn er psychisch zusammenbricht!

Gewiss, für den Beruf des Progressors ist eine eiserne, beinahe militärische Disziplin unerlässlich. Ein Progressor kann niemals tun, was er will, sondern nur, was ihm die KomKon befiehlt. Das ist sein Beruf. Und wahrscheinlich hat der Resident

Aber all das hat ganz sicher nichts mit meinem Auftrag zu tun …

Weiterhin fiel mir auf, dass in der Mappe einige Seiten fehlten: drei nummerierte Seiten nach Abalkins erstem Bericht, zwei Seiten nach dem zweiten Bericht und wieder zwei Seiten nach seinem letzten Brief an Komow. Aber ich beschloss, dem keine Bedeutung beizumessen.

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