3. JUNI’78

Der Kopfler Wepl-Itrtsch

Nach Ortszeit war es drei Uhr morgens; der Himmel war verhangen, der Wald undurchdringlich, und die nächtliche Welt schien mir grau, flach und trübe wie eine schlechte alte Fotografie.

Natürlich hatte er mich als Erster entdeckt und mich schon fünf, vielleicht sogar zehn Minuten lang in einiger Entfernung begleitet, verborgen im dichten Unterholz. Als ich ihn endlich bemerkte, erkannte er das augenblicklich und erschien sofort vor mir auf dem Pfad.

»Hier bin ich«, erklärte er.

»Ich sehe«, sagte ich.

»Wir werden hier sprechen.«

»Gut.«

Er setzte sich sofort hin, ganz wie ein Hund, der mit dem Herrchen spricht - ein großer, dicker Hund mit riesiger Stirn und großem Kopf sowie kleinen dreieckigen und aufgerichteten Ohren. Seine Augen waren groß und rund, die Stimme klang etwas heiser. Aber Wepl sprach ohne den geringsten Akzent; nur die kurzen, abgehackten Wendungen und eine etwas zu exakte Artikulation verrieten den Fremden. Und er

»Was willst du?«, fragte er geradeheraus.

»Hat man dir gesagt, wer ich bin?«

»Ja. Du bist Journalist. Du schreibst ein Buch über mein Volk.«

»Das stimmt nicht ganz. Ich schreibe ein Buch über Lew Abalkin. Du kennst ihn.«

»Mein ganzes Volk kennt Lew Abalkin.«

Das war neu.

»Und was denkt dein Volk über Lew Abalkin?«

»Mein Volk denkt nichts über Lew Abalkin. Es kennt ihn.«

Mir schien, hier begannen bereits die linguistischen Sümpfe …

»Ich wollte fragen: Wie steht dein Volk zu Lew Abalkin?«

»Es kennt ihn. Jeder Einzelne kennt ihn. Von der Geburt bis zum Tod.«

Ich beriet mich mit dem Journalisten Kammerer, und wir beschlossen, dieses Thema vorerst zu lassen. Wir fragten: »Was kannst du über Lew Abalkin erzählen?«

»Nichts«, gab er kurz zur Antwort.

Gerade das hatte ich am meisten befürchtet. Und zwar in so hohem Maße, dass ich eine solche Situation unbewusst einfach ausgeschlossen hatte und jetzt nicht darauf vorbereitet war. Ich geriet jämmerlich aus dem Konzept, war völlig ratlos; er aber hob einen Vorderfuß bis zur Schnauze und machte sich daran, geräuschvoll zwischen den Krallen zu knabbern. Nicht wie Hunde, sondern wie es mitunter Katzen tun.

Indes, ich hatte genügend Selbstbeherrschung. Mir wurde rechtzeitig klar, dass dieser Köter-Sapiens, hätte er wirklich

»Ich weiß, dass Lew Abalkin dein Freund ist«, sagte ich. »Ihr habt zusammen gelebt und gearbeitet. Sehr viele Menschen der Erde würden gern wissen, was der Kopfler Wepl, sein Freund und Mitarbeiter, über Lew Abalkin denkt.«

»Wozu?« Auch seine Frage war kurz.

»Eine Erfahrung«, antwortete ich.

»Eine nutzlose Erfahrung.«

»Es gibt keine nutzlosen Erfahrungen.«

Jetzt machte er sich an die andere Pfote, und nach ein paar Sekunden knurrte er undeutlich: »Stell konkrete Fragen.«

Ich überlegte.

»Ich weiß, dass du vor fünfzehn Jahren zum letzten Mal mit Abalkin zusammengearbeitet hast. Hast du danach noch mit anderen Erdenmenschen zusammenarbeiten müssen?«

»Ja. Oft.«

»Hast du einen Unterschied gespürt?«

Ich hatte mir, als ich diese Frage stellte, eigentlich nichts Besonderes dabei gedacht. Doch Wepl erstarrte plötzlich, ließ dann langsam die Pfote sinken und hob den Kopf mit der hohen Stirn. Für einen kurzen Augenblick flammte in seinen Augen ein düsterer roter Schein auf. Aber dann machte er sich sofort wieder an das Benagen seiner Krallen.

»Schwer zu sagen«, knurrte er. »Die Arbeiten sind unterschiedlich, die Menschen auch. Schwierig.«

Er wich aus. Wovor? Meine unschuldige Frage hatte nun ihn ins Stolpern gebracht. Eine Sekunde lang hatte er die Fassung verloren. Oder lag es wieder an der Linguistik? An sich ist die Linguistik eine feine Sache. Gehen wir also zum Angriff über. Frontal.

»Du hast dich mit ihm getroffen«, erklärte ich. »Und er hat dir erneut eine Arbeit angeboten. Bist du einverstanden?«

Das konnte bedeuten: »Würdest du dich mit ihm treffen und er böte dir erneut eine Arbeit an - wärst du einverstanden?« Oder auch: »Du hast dich mit ihm getroffen, und er hat - wie ich weiß - dir eine Arbeit angeboten. Hast du zugesagt?« Linguistik. Zugegeben, es war ein ziemlich armseliges Manöver, doch was blieb mir anders übrig?

Und die Linguistik half mir letztlich weiter.

»Er hat mir keine Arbeit angeboten«, widersprach Wepl.

»Worüber habt ihr denn dann gesprochen?«, wunderte ich mich und baute meinen Erfolg weiter aus.

»Über Vergangenes«, sagte er knapp. »Für niemanden von Belang.«

»Was meinst du«, fragte ich und wischte mir in Gedanken den Schweiß von der Stirn, »hat er sich in diesen fünfzehn Jahren sehr verändert?«

»Das ist ebenso wenig von Belang.«

»Nein, das ist durchaus von Belang. Ich habe ihn vor kurzem gesehen und festgestellt, dass er sich sehr verändert hat. Aber ich bin ein Erdenmensch, und ich müsste deine Meinung wissen.«

»Meine Meinung: ja.«

»Siehst du! Und worin hat er sich deiner Ansicht nach verändert?«

»Er interessiert sich nicht mehr für das Volk der Kopfler.«

»Wirklich?« Ich war sehr erstaunt. »Aber mit mir hat er nur über die Kopfler gesprochen.«

Wieder trat dieser rote Schein in seine Augen. Es schien, dass meine Worte ihn abermals verwirrt hatten.

»Was hat er dir gesagt?«, fragte er.

»Wir haben uns gestritten, wer von den Erdenmenschen mehr für die Kontakte mit den Kopflern getan hat.«

»Und außerdem?«

»Nichts. Nur darüber.«

»Wann war das?«

»Vorgestern. Und warum meinst du, dass er sich nicht mehr für das Volk der Kopfler interessiert?«

Dann sagte er plötzlich: »Wir verlieren Zeit. Stell keine leeren Fragen. Stell richtige Fragen.«

»Gut. Ich stelle eine richtige Frage. Wo ist er jetzt?«

»Ich weiß nicht.«

»Was hatte er vor?«

»Ich weiß nicht.«

»Was hat er dir gesagt? Für mich ist jedes seiner Worte wichtig.«

Und da nahm Wepl eine sonderbare, ja, unnatürliche Haltung ein: Er legte sich auf die angespannten, wie zum Sprung bereiten Beine, reckte den Hals hervor und starrte mich von unten her an. Dann wiegte er langsam den schweren Kopf hin und her und begann zu sprechen, wobei er die Worte wieder überaus deutlich artikulierte: »Höre genau zu, verstehe es richtig und merke es dir für lange Zeit. Das Volk der Erde mischt sich nicht in die Angelegenheiten des Volkes der Kopfler. Das Volk der Kopfler mischt sich nicht in die Angelegenheiten des Volkes der Erde. So war es, so ist es und so wird es sein. Die Angelegenheit Lew Abalkins ist eine Angelegenheit des Volkes der Erde. Das ist beschlossene Sache. Und darum: Such nicht, was nicht ist. Das Volk der Kopfler wird Lew Abalkin niemals Asyl gewähren.«

So etwas! Ich platzte heraus: »Er hat um Asyl gebeten? Bei euch?«

»Ich habe nur gesagt, was ich gesagt habe: Das Volk der Kopfler wird Lew Abalkin niemals Asyl gewähren. Weiter nichts. Hast du das verstanden?«

»Ich habe es verstanden. Aber das interessiert mich nicht. Ich wiederhole die Frage: Was hat er zu dir gesagt?«

»Ich werde antworten. Aber erst wiederhole du das Wesentliche von dem, was ich gesagt habe.«

»Gut, ich wiederhole. Das Volk der Kopfler mischt sich nicht in die Angelegenheiten Abalkins und verweigert ihm Asyl? Richtig?«

»Richtig. Und das ist die Hauptsache.«

»Antworte jetzt auf meine Frage.«

»Ich antworte. Er hat mich gefragt, ob es einen Unterschied zwischen ihm und den anderen Menschen gibt, mit denen ich zusammengearbeitet habe. Die gleiche Frage, die du mir gestellt hast.«

Kaum hatte er zu Ende gesprochen, machte er kehrt und verschwand lautlos im Gebüsch. Kein Zweig, kein Blatt regte sich. Er war einfach nicht mehr da. Weg.

Dieser Wepl! »… Ich habe ihm die Sprache beigebracht und gezeigt, wie man die Versorgungslinie benutzt. Ich habe keinen Schritt von ihm getan, als er an diesen sonderbaren Krankheiten litt. Ich habe seine schlechten Manieren erduldet, mich mit seinen unverblümten Äußerungen abgefunden und ihm Dinge verziehen, die ich sonst niemandem auf der Welt verzeihe. Wenn nötig, werde ich für Wepl wie für einen Erdenmenschen kämpfen, wie für mich selbst. Und Wepl? Ich weiß nicht …« Ach, dieser Wepl-Itrtsch.

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