Dokument 18

KomKon 2

Ural/Norden

Bericht Nr. 020/99

Datum: 13. Mai’99

Autor: T. Glumow, Inspektor

Projekt 009: »Besuch der alten Dame«

Betr.: Vergleich der Liste von Personen mit Inversion des »Pinguin-Syndroms« mit der Liste »Projekt«


Gemäß Ihrer Anordnung und auf der Basis aller mir zur Verfügung stehenden Quellen habe ich eine Liste zusammengestellt, in der alle Fälle von Inversion des »Pinguin-Syndroms« aufgeführt sind. Insgesamt konnte ich 12 Fälle ermitteln; bei zehn von ihnen gelang eine Identifizierung. Der Vergleich der Liste von identifizierten Inversanten mit der Liste »P« ergab eine Überschneidung bei folgenden Personen:

1. Kriwoklykow, Iwan Georgijewitsch, 65 Jahre alt, Psychiater, Basis »Lemboy« (EN 2105).

2. Pakkala, Alf-Christian, 31 Jahre alt, Bauoperator, BK Alaska, Anchorage.

3. Io, Nike, 48 Jahre alt, Stoffdesignerin, Kombinat »Irrawaddy«, Pyapon.

4. Tuul, Albert Oskarowitsch, 59 Jahre alt, Gastronom, Aufenthaltsort unbekannt (s. Nr. 047/99 von S. Mtbewari).

Der Anteil von Überschneidungen in den beiden Listen erscheint mir erstaunlich hoch. Die Tatsache, dass A. O. Tuul aber in drei Listen auftaucht, ist noch erstaunlicher.

Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit auf die vollständige Liste der Personen mit Inversion des »Pinguin-Syndroms« lenken. Sie liegt bei.

T. Glumow


»Leonidsheim« (Krāslava, Lettland).

14. Mai ’99, 15:00 Uhr


Bei Krāslava war die Daugava nicht sehr breit, dafür floss sie schnell und sah sehr klar aus. Der Strand, ein schmaler Streifen trockenen Sands, schimmerte gelb; dann stieg der Sandhang steil zu den Kiefern hin an. Auf der ovalen, grau-weiß karierten Landeplattform, die über das Wasser hinausragte, standen drei verschiedenfarbige, ungeordnet abgestellte Flieger und brüteten in der Sonne. Es waren altmodische, schwere Maschinen, die heute kaum noch geflogen werden - höchstens von alten Leuten, die noch im vorigen Jahrhundert geboren sind.

Toivo streckte die Hand aus, um die Tür des Gleiters zu öffnen. Doch ich bat: »Nein, warte.«

Ich schaute den Hang hinauf: Zwischen den Kiefern schimmerten cremefarben die Wände des Häuschens hindurch. Von dort führte eine Treppe, die verwittertes, mit der Zeit grau gewordenes Holz imitierte, im Zickzack den Hang hinab. Auf der Treppe war eine weiß gekleidete Person zu sehen, die langsam die Stufen hinunterstieg - ein schwerfälliger und anscheinend sehr alter Mann, der sich mit der rechten Hand ans Geländer klammerte und auf jeder Stufe einen Fuß neben den anderen stellte, ehe er den nächsten Schritt tat. Auf seinem

»Wir warten, bis er unten ist«, sagte ich. »Ich möchte ihm nicht begegnen.«

Ich wandte mich um und blickte in die entgegengesetzte Richtung, über den Fluss ans andere Ufer, und auch Toivo wandte sich taktvoll ab. So blieben wir sitzen, bis wir das schwere Knarzen der Stufen hörten, das pfeifende, angestrengte Atmen und weitere, merkwürdige Geräusche, die wie abgehacktes Schluchzen klangen. Dann ging der Greis am Gleiter vorüber, schlurfte mit den Sohlen über die Plasten und tauchte in meinem Blickfeld auf. Ich sah ihm unwillkürlich ins Gesicht.

Aus der Nähe erschien mir dieses Gesicht völlig unbekannt. Es war vom Leid gezeichnet; die Wangen hingen herab und zitterten, der Mund stand unwillkürlich offen, und aus den verquollenen Augen rannen Tränen.

Gebeugt näherte sich Bader einem altertümlichen gelbgrünen Flieger - es war sicher der älteste von den dreien, mit hässlichen Visierschlitzen eines altmodischen Autopiloten; er hatte zudem alberne Beulen am Heck, ramponierte Seitenwände und stumpf gewordene, vernickelte Haltegriffe. Bader trat heran, klappte die Tür auf und stieg - keuchend oder schluchzend - in die Kabine.

Dann geschah lange Zeit nichts. Der Flieger stand mit offener Tür da. Der alte Mann, der darin saß, sammelte sich wohl vor dem Start oder hatte den kahlen Kopf auf den abgegriffenen ovalen Steuerknüppel gelegt und weinte. Doch dann endlich erschien eine braune Hand in einer weißen Manschette und schlug die Türe zu. Die alte Maschine hob überraschend leicht und völlig lautlos ab und verschwand zwischen den abschüssigen Ufern über dem Fluss.

»Das war Bader«, sagte ich. »Er hat Abschied genommen. Gehen wir.«

Wir stiegen aus dem Gleiter und gingen die Treppe hinauf.

Ohne mich zu Toivo umzudrehen, sagte ich: »Lass die Gefühle beiseite. Du gehst zum Rapport. Es wird eine sehr wichtige dienstliche Besprechung. Nimm dich zusammen.«

»Eine dienstliche Besprechung wäre wunderbar«, antwortete Toivo hinter mir. »Ich habe aber den Eindruck, dass jetzt nicht die Zeit für dienstliche Besprechungen ist.«

»Du irrst dich. Gerade jetzt ist die Zeit dazu. Und was Bader betrifft … Denk jetzt nicht daran. Denk an die Sache.«

»In Ordnung«, erwiderte Toivo gehorsam.

Gorbowskis Häuschen »Leonidsheim« war ein ganz gewöhnlicher Standardbau mit einer Architektur vom Beginn des Jahrhunderts: die Lieblingsbehausung von Raumfahrern, Tiefseearbeitern oder Erdmanteldurchquerern, die große Sehnsucht nach ländlicher Idylle hatten - ohne Werkstatt, Stall oder Küche, dafür aber mit einem eigenen Nebenbau für die Energieversorgung der persönlichen Null-Anlage, die Gorbowski als Mitglied des Weltrats zustand. Und darum herum standen Kiefern und ein Dickicht aus Heidekraut; es roch stark nach Nadelzweigen, und in der windstillen Luft summten schläfrig die Bienen.

Wir betraten die Veranda und gingen durch die offen stehende Türe ins Haus. Im Wohnzimmer, wo die Vorhänge dicht zugezogen waren und nur eine Stehlampe neben dem Sofa brannte, saß ein Mann, die Beine übereinandergeschlagen, und betrachtete im Schein der Lampe eine Karte oder ein Mentoschema. Es war Komow.

»Guten Tag«, sagte ich. Toivo verbeugte sich schweigend.

»Guten Tag, guten Tag«, erwiderte Komow als sei er ungeduldig. »Kommen Sie herein, setzen Sie sich. Er schläft. Ist eingeschlafen. Dieser verfluchte Bader hat ihn mit seinem Gerede völlig geschafft. Sie sind Glumow?«

»Ja«, sagte Toivo.

Komow musterte ihn voller Neugier. Ich hustete, und Komow besann sich augenblicklich. »Ihre Mutter ist nicht zufällig Maja Toivowna Glumowa?«, fragte er.

»Doch«, antwortete Toivo.

»Ich hatte die Ehre, mit ihr zusammenzuarbeiten«, sagte Komow.

»Wirklich?«, fragte Toivo.

»Ja. Hat Sie es Ihnen nicht erzählt? Die Operation ›Arche‹ …«

»Ja, ich kenne die Geschichte«, sagte Toivo.

»Womit befasst sich Maja Toivowna jetzt?«

»Mit Xenotechnologie.«

»Wo? Bei wem?«

»An der Sorbonne. Ich glaube, bei Saligny.«

Komow nickte und sah immer wieder Toivo an. Seine Augen glänzten. Der Anblick von Maja Glumowas erwachsenem Sohn rief anscheinend lebhafte Erinnerungen in ihm wach. Ich hustete noch einmal, und sofort wandte sich Komow mir zu. »Wir müssen ein wenig warten. Ich möchte ihn nicht wecken. Er lächelt im Schlaf. Träumt von etwas Schönem. Zum Teufel mit Bader mit seinem Geflenne!«

»Was sagen die Ärzte?«, erkundigte ich mich.

»Immer dasselbe. Lebensüberdruss. Dagegen gibt es keine Medikamente. Das heißt, es gibt welche, aber er will sie nicht nehmen. Er hat das Interesse am Leben verloren, das ist es. Wir können das nicht verstehen. Immerhin ist er über 150 Jahre alt. Aber sagen Sie, Glumow, was macht Ihr Vater beruflich?«

»Ich sehe ihn kaum«, sagte Toivo. »Ich glaube, er ist jetzt Hybridisator, auf der Jaila.«

»Und Sie selbst …«, setzte Komow an, verstummte aber, weil aus dem Innern des Hauses eine schwache, etwas heisere Stimme drang: »Gennadi! Wer ist da bei Ihnen? Sie können hereinkommen.«

»Gehen wir«, sagte Komow und war schon aufgesprungen.

Im Schlafzimmer standen die Fenster weit offen. Gorbowski lag auf dem Sofa, bis ans Kinn in eine karierte Decke gehüllt. Er wirkte unglaublich lang, hager und zum Weinen erbärmlich. Seine berühmte schuhförmige Nase schien verknöchert; die Wangen waren eingefallen, die tief eingesunkenen Augen traurig und matt, als wollten sie nichts mehr sehen. Aber sie mussten, und so sahen sie.

»Ah, Mäxchen«, murmelte Gorbowski, als er mich erblickte. »Du siehst immer noch so … blendend aus. Ich freue mich, dich zu sehen, ich freue mich.«

Das war nicht wahr. Er freute sich nicht, Mäxchen zu sehen. Und es gab nichts, worüber er sich freute. Sicherlich glaubte er, freundlich zu lächeln, aber in Wirklichkeit lag auf seinem Gesicht eine Grimasse gequälter Liebenswürdigkeit. Man spürte eine unendliche und nachsichtige Geduld in ihm, als denke Leonid Andrejewitsch gerade: Da ist also noch jemand gekommen, na ja, es wird ja nicht ewig dauern, dann gehen sie wieder, wie alle vor ihnen gegangen sind, und lassen mich endlich in Ruhe.

»Und wer ist das?«, erkundigte sich Gorbowski, wobei es ihm offensichtlich schwerfiel, seine Apathie zu überwinden.

»Das ist Toivo Glumow«, sagte Komow. »Von der KomKon, Inspektor. Ich habe Ihnen erzählt …«

»Ja-ja-ja …«, sagte Gorbowski träge. »Ich erinnere mich, Sie haben es mir erzählt. ›Besuch der alten Dame‹. Setzen Sie sich, Toivo, setzen Sie sich, mein Junge. Ich höre Ihnen zu.«

Toivo setzte sich und schaute mich fragend an.

»Leg deinen Standpunkt dar«, sagte ich. »Und begründe ihn.«

Toivo begann: »Ich werde jetzt ein Theorem formulieren; die Formulierung stammt allerdings nicht von mir. Doktor Bromberg hat sie vor fünf Jahren aufgestellt:

Zu Beginn der achtziger Jahre hat eine Superzivilisation, die wir der Kürze halber die Wanderer nennen, mit aktiver Progressorentätigkeit auf der Erde begonnen. Ein Ziel dieser Tätigkeit ist die Selektion. Mit unterschiedlichsten Methoden wählen die Wanderer aus der Masse der Menschen jene Individuen aus, die sich nach gewissen, den Wanderern bekannten Kriterien für etwas Bestimmtes eignen, etwa für den Kontakt, für die weitere Vervollkommnung der Art oder gar für die Umwandlung in Wanderer. Sie haben sicher noch andere Ziele, von denen wir nichts wissen, aber dass sie auf der Erde mit Selektion befasst sind und Menschen aussortieren - das liegt für mich auf der Hand, und das versuche ich nun zu beweisen.«

Toivo verstummte. Komow schaute ihn eindringlich an. Gorbowski dagegen schien zu schlafen, aber seine über der Brust gefalteten Hände gerieten immer wieder in Bewegung und zeichneten verwickelte Muster in die Luft.

»Fahren Sie fort, mein Junge«, sagte Gorbowski.

Toivo fuhr fort und begann, vom »Pinguin-Syndrom« zu erzählen: Mit Hilfe eines gewissen »Siebes«, das die Wanderer im Sektor 41/02 installiert hatten, sortierten sie die Menschen aus, die an einer versteckten Kosmophobie litten, und selektierten gleichzeitig die versteckten Kosmophilen. Er schilderte die Ereignisse in Malaja Pescha: Dort hatten die Wanderer mit Hilfe einer außerirdischen Biotechnik ein Experiment zur Auslese der Xenophilen durchgeführt; die Xenophoben wurden ausgesondert. Er erzählte vom Kampf um die »Novelle«: Entweder hatte die Fukamisation die Selektionsarbeiten der Wanderer behindert oder sie gefährdete einige von den Wanderern benötigte Eigenschaften in künftigen Menschengenerationen. So hatten sie eine Kampagne zur Abschaffung der Fukamisationspflicht organisiert und mit Erfolg durchgeführt. Jahrelang war die Zahl der »Auserwählten« (wir wollen sie so nennen) angewachsen, was jedoch

»Sie geben sich nicht einmal die Mühe, sich zu tarnen«, sagte Toivo. »Anscheinend fühlen sie sich schon so stark, dass sie keine Entdeckung mehr fürchten. Oder sie meinen, wir wären schon nicht mehr in der Lage, etwas zu ändern. Ich weiß es nicht. Das ist eigentlich alles. Ich möchte noch hinzufügen, dass das, was wir entdeckt haben, sicher nur ein kleiner Bruchteil des ganzen Spektrums ihrer Aktivität ist. Das muss man berücksichtigen. Und ich halte es für meine Pflicht, zum Abschluss meinen Respekt und meine Anerkennung gegenüber Doktor Bromberg auszusprechen, denn er hat vor fünf Jahren, ohne dass er über positive Information verfügt hätte, all die Erscheinungen deduziert, die wir jetzt beobachten - sowohl die Entstehung von Massenphobien als auch das plötzliche Auftreten von Talenten bei Menschen, und sogar die Unregelmäßigkeiten im Verhalten von Tieren, zum Beispiel Walen.«

Toivo wandte sich mir zu. »Ich bin fertig.«

Ich nickte. Alle schwiegen.

»Die Wanderer, die Wanderer«, Gorbowski sang es beinahe. Er lag da und hatte sich die Decke bis an die Nase gezogen. »Ausgerechnet die Wanderer. So lange ich mich entsinnen kann, seit meiner Kindheit, so lange sind diese Wanderer schon im Gespräch. Toivo, mein Junge, Sie können die Wanderer aus irgendeinem Grund nicht ausstehen. Warum?«

»Ich mag Progressoren nicht«, antwortete Toivo beherrscht und fügte hinzu: »Leonid Andrejewitsch, ich war ja selbst Progressor.«

»Niemand mag Progressoren«, murmelte Gorbowski. »Nicht einmal sie selbst.« Er atmete tief aus und schloss wieder die Augen. »Ehrlich gesagt, ich sehe hier kein Problem. Das sind scharfsinnige Interpretationen, sonst nichts. Geben Sie Ihre Unterlagen, zum Beispiel, den Pädagogen, und die werden ihre eigenen, nicht weniger scharfsinnigen Interpretationen entwickeln. Die Tiefseearbeiter haben ihre eigenen - ihre eigenen Mythen, ihre eigenen Wanderer. Seien Sie nicht gekränkt, Toivo, aber allein die Erwähnung Brombergs hat mich stutzig gemacht.«

»Übrigens, es sind alle Arbeiten Brombergs über den Monokosmos verschwunden«, warf Komow leise ein.

»Aber es hat doch nie welche gegeben!« Gorbowski kicherte schwach. »Sie haben Bromberg nicht gekannt. Das war ein giftiger alter Mann mit einer unglaublichen Fantasie. So war das: Maxik hat ihm seine beunruhigte Anfrage geschickt, und Bromberg, der bis dahin nie auch nur einen Gedanken an diese Themen verschwendet hatte, setzte sich in einen bequemen Sessel und saugte sich im Handumdrehen die Hypothese vom Monokosmos aus den Fingern. Das kostete ihn einen Abend. Und am nächsten Morgen hatte er sie schon wieder vergessen. Er besaß ja nicht nur eine großartige Phantasie, sondern war dazu noch ein Kenner der verbotenen Wissenschaft. In seinem Schädel steckte eine unvorstellbare Menge unglaublicher Analogien.«

Kaum war Gorbowski verstummt, sagte Komow: »Habe ich Sie recht verstanden, Glumow - Sie behaupten, auf der Erde seien jetzt Wanderer anwesend? Als Lebewesen, meine ich, als Personen.«

»Nein«, gabt Toivo zur Antwort. »Das behaupte ich nicht.«

»Habe ich Sie recht verstanden, Glumow, dass Sie behaupten, auf der Erde lebten und wirkten bewusste Agenten der Wanderer? ›Auserwählte‹, wie Sie sie nennen.«

»Ja.«

»Können Sie Namen nennen?«

»Ja. Mit einem bestimmten Wahrscheinlichkeitsgrad.«

»Nennen Sie welche.«

»Albert Oskarowitsch Tuul. Das ist fast sicher. Cyprian Okigbo. Martin Tschang. Emile Far Ale. Ebenfalls fast sicher. Ich kann noch ein Dutzend Namen nennen, die aber mit etwas weniger Gewissheit.«

»Hatten Sie Umgang mit einem von ihnen?«

»Ich denke, ja. Im Institut der Sonderlinge. Ich glaube, dass es dort viele von ihnen gibt. Aber wer es im Einzelnen ist, kann ich noch nicht genau sagen.«

»Sie meinen also, ihre Erkennungsmerkmale sind Ihnen nicht bekannt?«

»Doch, natürlich. Äußerlich unterscheiden sie sich nicht von uns. Aber man kann sie deduzieren, zumindest mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit. Im Institut der Sonderlinge, davon bin ich überzeugt, gibt es eine Apparatur, mit deren Hilfe sie ihresgleichen unfehlbar und mit Sicherheit feststellen können.«

Komow warf mir einen raschen Blick zu. Toivo bemerkte es und sagte herausfordernd: »Jawohl! Ich meine, dass wir jetzt nicht mehr warten oder Rücksicht nehmen sollten! Es wäre besser, gewisse Errungenschaften des höheren Humanismus zurückstellen, denn wir haben es mit Progressoren zu tun und müssen uns folglich wie Progressoren verhalten!«

»Nämlich?«, erkundigte sich Komow und beugte sich vor.

»Wir müssen das gesamte Arsenal unserer operativen Methodik einsetzen! Von der Entsendung von Agenten bis hin zur zwangsweisen Mentoskopie, von …«

In dem Moment gab Gorbowski ein langes Stöhnen von sich, und wir alle wandten uns erschrocken zu ihm um. Komow sprang sogar auf. Doch es war nichts Schlimmes mit Leonid Andrejewitsch geschehen. Er lag in unveränderter Haltung da; nur die Grimasse geheuchelter Liebenswürdigkeit auf seinem hageren Gesicht war einem Ausdruck von Abscheu und Ärger gewichen.

»Womit habt ihr mich hier nur überfallen?«, beschwerte er sich. »Ihr seid doch erwachsene Menschen, keine Schulkinder oder Studenten. Schämt ihr euch wirklich nicht? Genau das ist es, warum ich all diese Gespräche über die Wanderer nicht mag … und nie gemocht habe! Sie enden alle mit solch verschreckten Räuberpistolen! Wann werdet ihr denn begreifen, dass diese Dinge sich gegenseitig ausschließen - entweder sind die Wanderer eine Superzivilisation, und dann haben sie mit uns nichts zu schaffen, sind Wesen mit einer anderen Geschichte, anderen Interessen, die sich nicht mit Progressorentätigkeit befassen. Und überhaupt befasst sich im ganzen Weltall allein und nur unsere Menschheit damit, weil wir eben so eine Geschichte haben, weil uns unsere Vergangenheit leidtut. Wir können sie nicht mehr verändern, und so versuchen wir wenigstens, anderen zu helfen, weil wir uns ja seinerzeit nicht selbst helfen konnten. Da kommt unser ganzes Progressorentum her! Die Wanderer aber, selbst wenn ihre Vergangenheit der unseren ähnlich war, haben sie so weit hinter sich gelassen, dass sie sich nicht einmal mehr daran erinnern. So wie wir uns nicht mehr an die Qualen des ersten Hominiden erinnern, der sich abmühte, aus einem Gesteinsbrocken eine Steinaxt zu machen.« Er schwieg eine Weile. »Für eine Superzivilisation ist es ebenso absurd, sich mit Progressorentätigkeit zu befassen, wie für uns, heutzutage Seminare zur Ausbildung von Dorfküstern einzurichten.«

Abermals verstummte er und schwieg lange, wobei sein Blick von einem Gesicht zum anderen wanderte. Ich schielte

»Äch-chä-chä-chä …«, krächzte Gorbowski. »Ich habe es nicht geschafft, euch zu überzeugen. Gut, dann werde ich euch jetzt beleidigen müssen. Wenn sogar so ein unerfahrener Junge wie unser lieber Toivo es fertiggebracht hat, diese Progressoren … äh … ans Licht zu ziehen, ja was zum Teufel sind das denn für Wanderer? Denkt doch nur selbst! Sollte eine Superzivilisation ihre Arbeit etwa nicht so organisieren können, dass ihr nichts bemerkt? Und wenn ihr etwas bemerkt, was zum Teufel ist das für eine Superzivilisation? Die Wale sind ihnen durchgedreht, also müssen die Wanderer schuld sein! - Geht mir aus den Augen, lasst mich in Ruhe sterben!«

Wir standen alle auf. Komow forderte mich halblaut auf: »Warten Sie im Wohnzimmer.«

Ich nickte.

Toivo verbeugte sich verwirrt vor Gorbowski. Der alte Mann beachtete ihn nicht. Er schaute verärgert zur Decke, und seine grauen Lippen bewegten sich lautlos.

Ich ging mit Toivo hinaus. Hinter mir schloss ich fest die Türe und hörte, wie sich das System der akustischen Abschirmung mit schwachem Schnalzen einschaltete.

Im Wohnzimmer setzte sich Toivo augenblicklich auf das Sofa unter die Stehlampe, legte die Hände auf seine Knie und erstarrte. Er schaute mich nicht an. Ihm war sicher nicht nach mir zumute.

(Früh am Morgen hatte ich zu ihm gesagt: »Du kommst mit mir und wirst vor Komow und Gorbowski sprechen.« - »Wozu?«, hatte er verdutzt gefragt. - »Glaubst du etwa, dass

Und nun hatte man ihn zurückgeworfen. Ich saß in der Ecke und betrachtete ihn von dort.

Eine Zeit lang saß er starr da. Dann blätterte er gedankenverloren in den Mentoschemata, die ausgebreitet auf dem niedrigen Tischchen lagen und von den bunten Markierungen der Ärzte übersät waren. Danach stand er auf und begann, von einer Ecke zur anderen durch das dunkle Zimmer zu gehen. Die Hände hatte er auf dem Rücken verschränkt.

Im Haus herrschte undurchdringliche Stille. Weder waren Stimmen aus dem Schlafzimmer zu hören noch das Rauschen des Waldes hinter den dicht geschlossenen Fenstern. Toivo hörte nicht einmal die eigenen Schritte.

Leonid Andrejewitschs Wohnzimmer war spartanisch eingerichtet. Die Stehlampe (mit einem offensichtlich selbst gemachten Schirm), das große Sofa darunter, und das niedrige Tischchen. In der Ecke ein paar Sitzmöbel aus nicht irdischer Produktion und für nicht irdische Hinterteile bestimmt. In der anderen Ecke etwas, was sowohl eine exotische Pflanze als auch ein altertümlicher Hutständer sein konnte. Mehr Mobiliar gab es nicht. Nur noch eine Hausbar, durch deren halb geöffnete Tür man sehen konnte, dass sie gut gefüllt war und für jeden Geschmack etwas bereithielt. Darüber hingen kleine Bilder in durchsichtigen Rahmen, das größte davon etwa so groß wie ein Albumblatt.

Toivo trat näher und begann, die Bilder anzusehen. Es waren Kinderzeichnungen. Wasserfarben, Gouache. Zeichenstift. Kleine Häuschen und daneben große Mädchen, denen die Kiefern bis zum Knie reichten. Hunde (oder Kopfler?). Ein

Ihm standen die Tränen in den Augen. Er dachte schon nicht mehr an den verlorenen Kampf. Dort hinter der Tür lag Gorbowski im Sterben - dort starb eine ganze Epoche, eine lebende Legende. Der Sternenfahrer. Der Planetenerkunder. Der Entdecker von Zivilisationen. Der Begründer der Großen KomKon und Mitglied des Weltrates. Großväterchen Gorbowski. Ja, das war er, vor allem und gerade das: Großväterchen Gorbowski. Wie aus einem Märchen - immer gut und deswegen immer im Recht. So war seine Epoche gewesen; es siegte immer das Gute. »Von allen möglichen Lösungen wähle immer die gütigste.« Nicht die vielversprechendste, nicht die vernünftigste, nicht die progressivste und natürlich nicht die effektivste - nein, wähle die gütigste! Er hatte diese Worte niemals ausgesprochen und äußerte sich boshaft und gallig zu den Biografen, von denen sie ihm zugeschrieben wurden. Gewiss hatte er sie auch nie gedacht - und doch lag gerade in ihnen das Wesentliche, ja, der Kern seines ganzen Lebens. Die Worte waren natürlich auch kein Rezept. Nicht jedem ist es vergönnt, gütig zu sein; es ist ein ebensolches Talent wie Musikalität oder Hellsehen, nur seltener. Und es war zum Weinen, denn der gütigste von allen Menschen lag im Sterben. Und auf dem Stein würde stehen: »Er war der Gütigste.«

Ich glaube, das war genau, was Toivo dachte. Und alles, worauf ich baute, womit ich zukünftig rechnete, beruhte auf der Annahme, dass Toivo genau so dachte.

Es vergingen dreiundvierzig Minuten.

Dann wurde die Tür unvermittelt aufgerissen. Alles war wie im Märchen. Oder wie im Kino. Gorbowski, unglaublich lang in seinem gestreiften Schlafanzug, hager, fröhlich, trat mit unsicheren kleinen Schritten ins Wohnzimmer und zog

»Aha, du bist noch hier!«, wandte er sich hocherfreut und zufrieden an den sprachlosen Toivo. »Es kommt alles noch, mein Junge! Es kommt noch! Du hast Recht!«

Und nachdem er diese rätselhaften Worte ausgesprochen hatte, ging er mit leichtem Schwanken zum nächsten Fenster und zog den Vorhang beiseite. Es wurde gleißend hell, wir blinzelten, Gorbowski aber drehte sich um und sah Toivo an, der nahe der Wandleuchte in der Haltung »Stillgestanden« erstarrt war. Ich schaute zu Komow. Der strahlte so unverhohlen, dass seine zuckerweißen Zähne blitzten. Er wirkte zufrieden wie ein Kater, der einen Goldfisch gefangen hat. Oder wie ein Bursche, der gerade in fröhlicher Runde einen guten Witz gemacht hat. Und so war es tatsächlich.

»Gut, sehr gut!«, rief Gorbowski. »Sogar ausgezeichnet!«

Den Kopf zur Seite geneigt, kam er auf Toivo zu, musterte ihn von Kopf bis Fuß, trat an ihn heran und legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Ich hoffe, du wirst mir verzeihen, dass ich so schroff war, mein Junge«, sagte er. »Aber ich hatte ja auch Recht. Und dass ich so schroff bin - das kommt von der Reizbarkeit. Sterben, sag ich dir, ist eine abscheuliche Sache. Bitte achte nicht darauf.«

Toivo schwieg. Er verstand natürlich nichts. Komow hatte sich das ausgedacht und arrangiert. Gorbowski wusste genau so viel, wie Komow ihm hatte mitteilen wollen. Ich konnte mir das Gespräch, das bei ihnen im Schlafzimmer stattgefunden hatte, lebhaft vorstellen. Aber Toivo Glumow begriff nichts.

Ich fasste Toivo am Arm und sagte zu Gorbowski: »Leonid Andrejewitsch, wir gehen jetzt.«

Gorbowski nickte. »Natürlich, gehen Sie. Danke, Sie haben mir sehr geholfen. Wir sehen uns noch, öfter als einmal.«

Als wir auf die Vortreppe hinaustraten, sagte Toivo: »Vielleicht erklären Sie mir, was das alles bedeutet?«

»Du siehst doch: Er hat es sich mit dem Sterben anders überlegt.«

»Warum?«

»Dumme Frage, Toivo, entschuldige bitte …«

Toivo schwieg eine Weile und sagte dann: »Ja, ich bin wirklich ein Dummkopf. Das heißt, ich habe mich noch nie im Leben so dumm gefühlt. Vielen Dank für Ihre Hilfe, Big Bug.«

Ich brummte nur »hm«. Schweigend stiegen wir die Treppe zum Landeplatz hinunter. Jemand kam uns ohne Eile entgegen.

»Gut«, sagte Toivo. »Aber die Arbeit am Projekt soll ich fortsetzen?«

»Natürlich.«

»Aber man hat mich ausgelacht!«

»Im Gegenteil. Du hast einen sehr guten Eindruck gemacht.«

Toivo murmelte etwas vor sich hin. Den ersten Treppenabsatz erreichten wir zeitgleich mit dem Mann, der uns entgegenkam. Es war der stellvertretende Direktor der Charkower Filiale des IMF, Daniil Alexandrowitsch Logowenko; er war rotwangig und sehr besorgt.

»Ich grüße dich«, sagte er zu mir. »Habe ich mich sehr verspätet?«

»Nein«, antwortete ich. »Er erwartet dich.«

Und da zwinkerte D. A. Logowenko auf recht verschwörerische Weise Toivo zu, um dann sogleich die Treppe weiter hinaufzusteigen, nun aber sichtlich in Eile. Toivo, die Augen unfreundlich zusammengekniffen, blickte ihm nach.

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