1. JUNI’78

Kleiner Zwischenfall mit Jadwiga Michailowna

Um 19:23 Uhr war ich wieder zu Hause und startete meine Suche nach Maja Glumowa, der Historikerin. Es vergingen keine fünf Minuten, und mir lagen alle Informationen über sie vor.

Maja Toivowna Glumowa war drei Jahre jünger als Lew Abalkin. Nach dem Schulabschluss hatte sie bei der KomKon 1 einen Kursus für Versorgungspersonal absolviert und anschließend an der Operation »Arche« teilgenommen, die später traurigen Ruhm erlangte. Danach war Maja Glumowa an die Historische Fakultät der Sorbonne gegangen, wo sie sich zunächst auf die Anfangsepoche der Ersten wissenschaftlich-technischen Revolution spezialisierte, dann aber zur Geschichte der frühen Raumforschung überwechselte. Sie hatte einen Sohn, Toivo Glumow, elf Jahre alt; über den Ehemann teilte sie nichts mit. Zurzeit - ein Wunder! - arbeitete sie in der Spezialsammlung des Museums für Außerirdische Kulturen, das drei Straßen von uns entfernt am Platz der Sterne lag. Und sie wohnte ganz in der Nähe - in der Allee der Weißfichten.

Ich rief sie sofort an. Auf dem Bildschirm erschien jedoch ein Kind mit blonden Haaren, sehr hellen, nordischen Augen

Ich musste also bis zum Morgen warten. Und am Morgen würde sie lange versuchen sich zu erinnern, wer dieser Lew Abalkin war, und wenn es ihr dann schließlich einfiele, würde sie kurz seufzen und sagen, sie habe nun schon seit fünfundzwanzig Jahren nichts mehr von ihm gehört.

Nun gut. Von den wichtigsten Namen auf meiner Liste war noch einer übrig, und in den setzte ich keine besonderen Hoffnungen. Normalerweise treffen sich Menschen nach fünfundzwanzig Jahren Abwesenheit gern mit ihren Eltern, sehr oft mit ihrem Lehrer, nicht selten auch mit Schulfreunden. Aber in den wenigsten Fällen wird sie das Gedächtnis zu ihrem ehemaligen Schularzt führen. Vor allem, wenn sich dieser auf der anderen Seite des Planeten auf einer Expedition durch die Wildnis befindet; und wenn man bedenkt, dass die Null-Verbindung laut Auskunft schon den zweiten Tag nicht zuverlässig funktioniert wegen Fluktuationen des Neutrinofeldes.

Aber was blieb mir anderes übrig? In Manáus war es jetzt Tag, und wenn ich überhaupt anrufen wollte, dann sollte ich es jetzt sofort tun.

Ich hatte Glück: Jadwiga Michailowna Lekanowa hielt sich gerade in der Funkzentrale auf, und ich konnte direkt mit ihr sprechen. Sie hatte ein rundes, glänzendes und sonnengebräuntes Gesicht, einen dunkelroten Schimmer auf den Wangen, kokette Grübchen, strahlend blaue Augen und einen üppigen, silbern glänzenden Haarschopf. Sie sprach mit tiefer, samtiger Stimme und hatte einen nicht näher bestimmbaren,

Ich bat um Verzeihung, stellte mich kurz vor und erzählte ihr meine Legende. Während sie sich zu erinnern versuchte, zog sie ihre dichten, seidigen Augenbrauen zusammen und blinzelte.

»Lew Abalkin? … Ljowa Abalkin … Verzeihung, wie heißen Sie?«

»Maxim Kammerer.«

»Verzeihung, Maxim, ich habe Sie nicht ganz verstanden. Vertreten Sie sich selbst oder eine Organisation?«

»Wie soll ich das am besten erklären … Ich habe mit einem Verlag gesprochen, er war interessiert.«

»Aber sind Sie selbst nur Journalist oder doch irgendwo beschäftigt? Das ist schließlich kein Beruf - Journalist …«

Ich stimmte ihr kichernd zu und überlegte dabei fieberhaft, was ich antworten sollte.

»Sehen Sie, Jadwiga Michailowna, das ist schwer in Worte zu fassen. Von Beruf bin ich … na ja, vielleicht Progressor, obwohl ja es diesen Beruf, als ich mit der Arbeit anfing, noch gar nicht gab. Bis vor kurzem war ich Mitarbeiter der KomKon, und in gewissem Sinne stehe ich auch jetzt noch mit ihr in Verbindung.«

»Sie haben sich selbstständig gemacht?« Jadwiga Michailowna lächelte nach wie vor, aber jetzt fehlte etwas in ihrem Lächeln - etwas sehr Wichtiges … Natürliches …

»Wissen Sie, Maxim«, sagte sie, »ich werde mich gern mit Ihnen über Lew Abalkin unterhalten, aber wenn es Ihnen recht ist, etwas später. Sagen wir, ich rufe Sie an, in einer Stunde oder anderthalb.«

Sie lächelte noch immer, und plötzlich wurde mir klar, was es war, das in ihrem Lächeln fehlte: Wohlwollen, das ganz natürliche Wohlwollen.

»Gewiss doch«, sagte ich. »Wann es für Sie am besten passt.«

»Entschuldigen Sie bitte.«

»Nicht doch, ich muss mich entschuldigen.«

Sie notierte sich die Nummer meines Kanals, und wir verabschiedeten uns. Seltsam, dieses Gespräch. Als hätte sie von irgendwoher erfahren, dass ich log. Ich kratzte mich am Ohr … meine Ohren glühten! Verfluchter Beruf … »Und es begann die spannendste aller Jagden - die Jagd auf den Menschen …« O tempora, o mores! Wie oft sie sich doch geirrt haben, die Klassiker! Gut, warten wir. Es wird sich, denke ich, nicht vermeiden lassen, nach Manáus zu fliegen. Ich fragte die Nachrichten ab. Die Null-Verbindung war immer noch instabil; deshalb bestellte ich einen Stratoplan. Dann schlug ich die Mappe auf und begann Lew Abalkins Bericht über die Operation »Tote Welt« zu lesen.

Ich schaffte fünf Seiten, dann klopfte es an der Tür, und über die Schwelle trat Seine Exzellenz. Ich stand auf.

Selten sieht man Seine Exzellenz anderswo als hinter seinem Schreibtisch. Daher vergisst man ständig, wie riesig und dürr er ist. Der makellos weiße Leinenanzug hing an ihm herunter wie von einem Kleiderbügel. Und überhaupt hatte er etwas von einem Stelzenläufer im Zirkus an sich, wobei seine Bewegungen jedoch geschmeidig waren.

»Nimm Platz«, sagte er, knickte in der Mitte ein und setzte sich in den Sessel, der vor mir stand.

Schnell setzte auch ich mich.

»Berichte«, befahl er.

Ich gehorchte seinem Befehl und berichtete.

»Ist das alles?«, fragte er mit einem unangenehmem Ausdruck.

»Bis jetzt, ja.«

»Das ist schlecht«, sagte er.

»Ja, Exzellenz, es ist schlecht«, sagte ich.

»Schlecht! Der Ausbilder ist tot. Und die Schulfreunde? Wie ich sehe, hast du sie nicht mal in Betracht gezogen! Und seine Freunde in der Progressoren-Schule?«

»Leider hatte er keine Freunde, Exzellenz. Jedenfalls nicht im Internat, und was die Progressoren-Schule angeht …«

»Erspare mir deine Überlegungen. Überprüfe einfach alles. Und lass dich nicht ablenken. Was zum Beispiel hat diese Kinderärztin mit der Sache zu tun?«

»Ich bemühe mich, alles zu überprüfen«, sagte ich und wurde allmählich ärgerlich.

»Du hast keine Zeit, im Stratoplan herumzufliegen. Befass dich lieber mit den Archiven statt mit Flugreisen.«

»Mit den Archiven befasse ich mich auch noch. Ich gedenke mich sogar mit diesem Kopfler zu befassen, Wepl. Aber ich hatte eine bestimmte Reihenfolge vorgesehen und halte die Kinderärztin keineswegs für völlige Zeitverschwendung.«

»Schweig«, sagte er, »und gib mir deine Liste.«

Er nahm die Liste und sah sie lange und sehr genau an. Ich war mir aber sicher, dass er den Blick auf eine bestimmte Zeile geheftet hatte und diese unablässig ansah.

Dann gab er mir das Blatt zurück und sagte: »Wepl - o. k. Deine Legende gefällt mir. Doch alles Weitere ist schlecht. Du hast dir weismachen lassen, dass Abalkin keine Freunde hatte. Das stimmt aber nicht. Tristan ist sein Freund gewesen, obwohl du in der Akte nichts darüber findest. Such. Und diese Glumowa … auch gut. Wenn es zwischen den beiden eine Liebesverbindung gab, ist das eine Chance. Aber die Lekanowa lass sein. Das bringt nichts.«

»Aber sie wird ohnehin anrufen!«

»Wird sie nicht«, sagte er.

Ich sah ihn an. Seine grünen Augen schauten ruhig, ohne zu zwinkern, und ich begriff, dass er Recht hatte: Die Lekanowa würde nicht anrufen.

»Verzeihen Sie, Exzellenz«, sagte ich, »meinen Sie nicht, ich könnte dreimal so gut arbeiten, wenn ich wüsste, worum es geht?«

Ich war ganz sicher, er würde antworten: Nein, meine ich nicht. Meine Frage war also rein rhetorisch. Ich wollte ihm nur zeigen, dass mir die Heimlichtuerei um Lew Abalkin nicht entgangen war und dass sie mich störte.

Aber er sagte etwas anderes.

»Ich weiß nicht. Ich glaube, es würde nichts nützen. Vorläufig kann ich dir sowieso nichts sagen. Und ich will es auch nicht.«

»Ein Persönlichkeitsgeheimnis?«, fragte ich.

»Ja«, sagte er. »Ein Persönlichkeitsgeheimnis.«



Aus dem Bericht Lew Abalkins

Gegen zehn Uhr hat sich die Marschordnung nun endgültig herausgebildet. Wir gehen in der Mitte der Straße: Voran, auf der Mittellinie, geht Wepl, links hinter ihm, ich. Normalerweise gehen wir dicht an den Häuserwänden entlang. Aber das mussten wir aufgeben, weil wir die Fußwege nicht benutzen können. Sie sind begraben unter herabgefallenem Putz, zerschlagenen Ziegeln, Scherben von Fensterglas und durchgerostetem Dachblech. Schon zweimal sind ohne ersichtlichen Grund Brocken aus Simsen herausgebrochen und uns beinahe auf den Kopf gefallen.

Das Wetter ändert sich nicht. Der Himmel ist nach wie vor wolkenverhangen. Feuchter warmer Wind weht in Böen heran, treibt undefinierbaren Müll über die geborstene Straßendecke und kräuselt das stinkende Wasser in den schwarzen stehenden Pfützen. Mückenschwärme fallen uns an, zerstieben

Die Stadt ist gewiss schon seit langem verlassen. Der Mann, dem wir am Stadtrand begegnet sind, war ein Verrückter und nur zufällig hierhergeraten.

Eine Mitteilung der Gruppe Rem Sheltuchins: Er ist bisher noch niemandem begegnet, aber völlig begeistert von der Müllhalde. Er schwört, den Index der hiesigen Zivilisation bald bis auf die zweite Stelle genau bestimmen zu können. Ich versuche mir diese Müllhalde vorzustellen - gigantisch, ohne Anfang und Ende, die halbe Welt unter sich begrabend. Ich bekomme schlechte Laune und höre jetzt auf, darüber nachzudenken.

Der Mimikry-Anzug funktioniert nicht. Die Tarnfarbe, die ständig an die Umgebung angepasst sein soll, nimmt er erst mit fünf Minuten Verspätung an, manchmal gar nicht. Stattdessen erscheinen darauf leuchtende Flecken in den schönsten Spektralfarben. Wahrscheinlich gibt es etwas hier in der Atmosphäre, das den exakt regulierten Chemismus dieses Materials irritiert. Die Experten der Kommission für Tarntechnik sehen keine Möglichkeit, die Funktion des Mimikry-Anzugs über Fernsteuerung wiederherzustellen. Sie gaben mir Hinweise, wie ich die Regulierung an Ort und Stelle

Eine Mitteilung der Gruppe Espadas. Sie sind bei der Landung im Nebel offenbar ein paar Kilometer vom Ziel abgekommen: Weder die bestellten Felder noch die Siedlungen, die vom Orbit her ausgemacht wurden, sind zu sehen. In Sicht ist stattdessen der Ozean. Und das Ufer, das von einem kilometerbreiten Streifen schwarzen Schorfs bedeckt ist, der offenbar aus erstarrtem Schweröl besteht. Ich bekomme wieder schlechte Laune.

Die Experten protestieren vehement gegen Espadas Entschluss, die Tarnung ganz abzuschalten. Ein kleiner Skandal im Äther. Klein, aber laut.

Wepl bemerkt mürrisch: »Die berühmte menschliche Technik! Lächerlich …«

Wepl trägt keinen Anzug und auch nicht den schweren Helm mit den Umsetzern, obwohl all das speziell für ihn vorbereitet wurde. Er hat es abgelehnt, wie üblich ohne Angabe von Gründen.

Er läuft die halb verwischte Mittellinie der Hauptstraße entlang, wobei er leicht schaukelt und mit den Hinterbeinen ein wenig nach außen schlenkert, wie man es mitunter auch bei unseren Hunden sieht. Wepl ist kräftig und schwer, hat ein zottiges Fell und einen sehr großen runden Kopf, der wie immer nach links gedreht ist, so dass er mit dem rechten Auge geradeaus sieht und mit dem linken quasi zu mir schielt. Die Schlangen beachtet er nicht, ebenso wenig die Mücken. Die Ratten hingegen interessieren ihn - freilich nur als Marschverpflegung. Im Moment ist er allerdings satt.

Mir scheint, Wepl hat sich seine Meinung über diese Stadt schon gebildet, vielleicht auch schon über den ganzen Planeten. Gleichgültig hat er darauf verzichtet, eine wie durch ein Wunder erhalten gebliebene Villa im siebten Viertel zu besichtigen.

»Hier ist etwas Neues«, sagte ich.

Aber was könnte es sein? Es sieht aus wie die Kabine einer Ionendusche: ein etwa zwei Meter hoher Zylinder aus durchscheinendem, bernsteinartigem Material, und etwa einem Meter Durchmesser. Die ovale Tür, so hoch wie der ganze Zylinder, steht offen. Ursprünglich hatte die Kabine wohl senkrecht gestanden, bis man seitlich darunter eine Ladung Sprengstoff anbrachte … Dadurch wurde ein Teil der Unterseite zusammen mit der daran haftenden Schicht Asphalt und lehmiger Erde angehoben, so dass die Kabine jetzt ziemlich schräg steht. Ansonsten hat sie nicht gelitten. Es war allerdings auch nichts darin, was hätte Schaden nehmen können - sie ist so leer wie ein leeres Glas.

»Ein Glas«, sagt Vanderhoeze. »Ein Glas mit einer Tür.«

»Eine Ionendusche«, sage ich, »aber ohne Apparatur. Oder zum Beispiel die Kabine eines Verkehrspostens. Ganz ähnliche habe ich auf dem Saraksch gesehen, nur dass sie dort aus

»Und der Posten bewacht den Verkehr?«, erkundigt sich Vanderhoeze interessiert.

»Er regelt ihn auf einer Kreuzung.«

»Bis zur Kreuzung ist es aber weit, meinst du nicht?«, sagt Vanderhoeze.

»Dann ist es eine Ionendusche.«

Ich diktiere ihm eine Meldung. Er nimmt sie entgegen und erkundigt sich: »Gibt es noch Fragen?«

»Zwei Fragen liegen nahe: Wozu hat man dieses Ding hier aufgestellt, und wen hat es gestört? Achtet darauf: Es gibt keinerlei Kabel oder Leitungen. Wepl, hast du Fragen?«

Wepl scheint die Kabine mehr als gleichgültig zu sein: Er hat ihr den Hintern zugedreht und kratzt sich.

»Mein Volk kennt solche Gegenstände nicht«, sagt er überheblich, »und es interessiert sich auch nicht dafür.« Dann fängt er wieder an, sich demonstrativ zu kratzen.

»Ich habe weiter nichts«, sage ich zu Vanderhoeze.

Wepl steht auf und macht sich auf den Weg.

Sein Volk, bitte sehr, interessiert sich nicht dafür, denke ich, während ich links hinter ihm hergehe. Ich möchte gern lächeln, darf es aber auf keinen Fall tun. Denn Wepl kann so ein Lächeln nicht ausstehen. Es ist erstaunlich, wie genau er sogar feinste Nuancen der menschlichen Mimik erkennt und versteht. Woher mögen die Kopfler solch eine Einfühlungsgabe haben? Schließlich fehlt ihren Physiognomien (oder Schnauzen?) die Mimik fast völlig - zumindest für das menschliche Auge. Jeder gewöhnliche Hofhund hat eine viel reichere Mimik. Aber mit dem menschlichen Lächeln kennt sich Wepl bestens aus. Überhaupt verstehen sich die Kopfler auf die Menschen hundertmal besser als die Menschen auf die Kopfler. Und ich weiß auch, warum: Wir haben Hemmungen. Kopfler sind vernunftbegabt, und es ist uns peinlich, sie zu

»Wepl«, sage ich, »würdest du gern auf der Pandora leben?«

»Nein. Ich muss bei dir sein.«

Er muss. Das ganze Unglück ist, dass Wepls Sprache nur einen Modus kennt. Es gibt nicht den geringsten Unterschied zwischen »sollen«, »müssen«, »wollen« und »können«. Und wenn Wepl in meiner Sprache spricht, benutzt er diese Begriffe mehr oder weniger aufs Geratewohl. Man weiß nie genau, was er meint. Vielleicht hat er gerade sagen wollen, dass er mich liebt, dass es ihm nur mit mir gutgeht und er immer mit mir zusammen sein möchte. Vielleicht aber auch, dass es seine Pflicht ist, bei mir zu sein, dass er den Auftrag dazu hat und seine Pflicht ehrlich zu tun gedenkt. Dabei aber täte er nichts lieber, als durch den orangefarbenen Dschungel zu pirschen, jedes Geräusch einzufangen und jeden Geruch zu genießen, wovon es auf der Pandora mehr als genug gibt.

Vorne rechts löst sich von einem schmutzig weißen Balkon im zweiten Stock eine Schicht Putz und stürzt krachend auf das Trottoir. Die Ratten fiepen aufgeregt. Eine Wolke von

Wie ein gemustertes Metallband gleitet eine riesige Schlange über die Straße, rollt sich vor Wepl zusammen wie eine Spirale und hebt drohend den rhombischen Kopf. Wepl aber bleibt nicht einmal stehen. Er schlägt nur einmal kurz, ja, beiläufig mit der Vorderpfote zu - und der rhombische Kopf fliegt im hohen Bogen auf den Gehsteig. Wepl jedoch trottet schon weiter und schenkt dem sich windenden, kopflosen Körper hinter sich keine Bedeutung mehr.

Und meine Kollegen hatten Angst, mich allein mit Wepl loszuschicken … einem erstklassigen Kämpfer, klug, mit einem unglaublichen Gespür für Gefahr und absolut furchtlos. Kein Mensch könnte furchtloser sein … Aber. Es geht natürlich nicht ohne ein gewisses Aber. Wenn nötig, werde ich für Wepl wie für einen Erdenmenschen kämpfen, wie für mich selbst. Und Wepl? Ich weiß nicht … Sicher, auf dem Saraksch haben sie für mich gekämpft, getötet und sind gestorben, um mich zu schützen. Aber aus irgendeinem Grund kam es mir damals so vor, dass sie nicht für mich, ihren Freund, kämpften, sondern für ein abstraktes und ihnen sehr wichtiges Prinzip. Ich bin schon seit fünf Jahren mit Wepl befreundet; er hatte noch nicht einmal die Haut zwischen den Zehen verloren, als wir uns kennenlernten. Ich habe ihm die Sprache beigebracht und gezeigt, wie man die Versorgungslinie benutzt. Ich habe keinen Schritt von ihm getan, als er an diesen sonderbaren Krankheiten litt, von denen unsere Ärzte bis heute nichts begreifen. Ich habe seine schlechten Manieren erduldet, mich mit seinen unverblümten Äußerungen abgefunden und ihm Dinge verziehen, die ich sonst niemandem auf der Welt verzeihe. Aber ich weiß immer noch nicht, was ich ihm bedeute.

Ein Anruf vom Schiff. Vanderhoeze teilt mit, dass Rem Sheltuchin auf seiner Müllhalde ein Gewehr gefunden hat.

Währenddessen verschwindet Wepl im nächsten Hauseingang. Man hört Rumoren, Fiepen, Knirschen, Kauen. Dann taucht Wepl in der Tür auf, kaut noch ein paarmal kräftig und spuckt Rattenschwänze aus.

Jedes Mal, wenn ich auf Empfang bin und mit anderen spreche, führt sich Wepl auf wie ein Hund: Entweder er frisst, kratzt sich, oder er sucht nach Flöhen. Er weiß genau, dass ich das nicht leiden kann - und macht es doch so auffällig, als wolle er sich dafür rächen, dass ich mich mit etwas anderem beschäftige als mit ihm. Jetzt entschuldigt er sich bei mir und sagt, es schmecke so gut, und er habe sich nicht beherrschen können. Ich bleibe eine Weile reserviert.

Es fällt leichter Nieselregen; vor uns verschwindet die Straße im grauen Nebel. Wir passieren das siebzehnte Viertel (die Querstraße ist mit Steinen gepflastert), gehen vorbei an einem durchgerosteten Lkw mit platten Reifen und einem gut erhaltenen, mit Granit verkleideten Gebäude, dessen Fenstergitter im Erdgeschoss mit Figuren verziert sind. Links von uns beginnt ein Park, der von der Straße durch eine niedrige Steinmauer abgetrennt ist.

Als wir gerade an einem schiefen Torbogen vorbeigehen, springt aus dem feuchten, dichten Gebüsch ein großer, kunterbunt angezogener und sehr skurriler Mensch hervor; mit einem Satz, geräuschvoll und mit Schellenklang, landet er auf der Mauer.

Er ist dürr wie ein Gerippe, hat ein gelbes Gesicht mit eingefallenen Wangen und einen gläsernen Blick. Feuchte, rötliche Haarsträhnen stehen nach allen Seiten ab. Die Arme sind wie bei einem Hampelmann in ständiger Bewegung; sie wirken, als seien sie aus Gummi oder mit zu vielen Gelenken

Der Mann steckt von Kopf bis Fuß in einer Art buntkariertem Trikot: rot, gelb, blau und grün. Unablässig klingeln die Schellen, die überall auf Ärmeln und Hosenbeinen aufgenäht sind. In einem komplizierten Rhythmus schnippt er schnell und laut mit den knotigen Fingern. Ein Hanswurst. Ein Clown. Seine Faxen könnten durchaus komisch sein, wenn sie nicht so unheimlich wirkten in dieser toten Stadt, diesem grauen Nieselregen, vor einem verwilderten Park, der schon längst zu Wald geworden ist. Das ist ein Verrückter. Noch ein Verrückter.

Im ersten Moment scheint mir, es sei derselbe Mann wie der, den wir am Stadtrand trafen. Aber der trug bunte Bänder und eine Narrenkappe mit einem Glöckchen; er war auch erheblich kleiner und nicht so abgemagert. Sie sind bloß beide bunt gescheckt und beide verrückt. Wirklich merkwürdig, fast unglaublich, dass die ersten beiden Eingeborenen, die wir auf diesem Planeten treffen, verrückte Clowns sind.

»Das ist nicht gefährlich«, sagt Wepl.

»Wir müssen ihm helfen«, antworte ich.

»Wie du willst. Er wird uns hinderlich sein.«

Ich weiß selbst, dass er uns hinderlich sein wird, aber ich kann es nicht ändern. Ich nähere mich langsam dem tänzelnden Hanswurst, während ich im Handschuh das Saugutensil mit dem Beruhigungsmittel vorbereite.

»Gefahr von hinten!«, sagt Wepl plötzlich.

Ich drehe mich blitzschnell um, entdecke auf der anderen Straßenseite aber nichts Besonderes: ein einstöckiges Haus mit Resten eines giftig lila Anstrichs, davor falsche Säulen, ohne eine einzige heile Glasscheibe, dafür aber eine übergroße Türöffnung voller Finsternis. Ein Haus wie jedes andere, scheint mir. Wepl jedoch betrachtet es in der Pose allerhöchster

»In welchem Fenster?«, frage ich.

»Weiß ich nicht.« Wepl wendet den schweren Kopf langsam von rechts nach links. »In keinem Fenster. Wenn du willst, schauen wir nach? Aber es ist schon schwächer.« Der schwere Kopf hebt sich langsam. »Vorbei. Wie immer.«

»Was?«

»Wie zu Anfang.«

»Gibt es Gefahr?«

»Gefahr gab es von Anfang an. Aber gering. Gerade war sie groß. Jetzt ist es wieder wie am Anfang.«

»Menschen? Ein Tier?«

»Eine große, furchtbare Bosheit. Unbegreiflich.«

Ich blicke mich nach dem Park um. Der verrückte Hanswurst ist verschwunden, und im dichten nassen Grün kann man nichts erkennen.

Vanderhoeze ist sehr beunruhigt. Ich diktiere eine Meldung. Er befürchtet, dass es sich um einen Hinterhalt gehandelt hat und der Hanswurst mich ablenken sollte. Er versteht nicht, dass, wäre es ein Hinterhalt gewesen, dieser sicher geglückt wäre. Denn der Hanswurst hatte mich tatsächlich so abgelenkt, dass ich außer ihm nichts mehr sah und hörte; und doch hatte uns niemand angegriffen. Vanderhoeze schlägt vor, uns Verstärkung zu schicken, aber ich lehne ab. Unser Auftrag ist unbedeutend, und höchstwahrscheinlich werden wir selbst bald von der Route genommen und jemand anderem zur Verstärkung geschickt, Espada zum Beispiel.

Eine Mitteilung von der Gruppe Espadas: Man hat auf ihn geschossen, mit Leuchtspurmunition. Anscheinend Warnschüsse.

Mit dem Kapitän hatten wir also diesmal kein Glück. Espadas Kapitän ist Progressor; bei Sheltuchin ist der Kapitän Progressor. Und wir? Haben Vanderhoeze. Alles hat seine Berechtigung, gewiss: Espada ist die Kontaktgruppe, Rem der Hauptlieferant für Informationen, während Wepl und ich ein ungefährliches Gebiet zu Fuß auskundschaften. Eine Hilfstruppe. Wenn aber etwas passiert - und irgendetwas passiert immer -, dann sind wir uns selbst überlassen. Denn letzten Endes ist der gute alte Vanderhoeze bloß ein Sternenflieger, sehr erfahren zwar, aber die Instruktion 06/3 ist ihm in Fleisch und Blut übergegangen: »Werden auf einem Planeten Anzeichen für intelligentes Leben festgestellt, ist nach Beseitigung aller Spuren des Aufenthaltes unverzüglich zu starten …« Und hier nun - Warnschüsse, eine ganz offensichtliche Ablehnung der Kontaktaufnahme. Aber niemand denkt daran, unverzüglich zu starten, im Gegenteil: Man rückt weiter vor und tut auch sonst, was man will …

Der Regen hört auf. Über den nassen Asphalt springen Frösche. Jetzt also ist mir klar, wovon sich die Schlangen ernähren. Aber wovon ernähren sich die Frösche? Von den Mücken.

Die Häuser werden immer höher, luxuriöser; aber es ist ein verkommener, verschimmelter Luxus. Dann eine sehr lange Kolonne von Lastwagen unterschiedlichen Typs, am linken Straßenrand geparkt. Es hat hier offenbar Linksverkehr gegeben. Viele LKW sind offen; auf den Ladeflächen türmt sich Hausrat. Sieht aus, als hätte es hier eine Massenevakuierung gegeben, unklar nur, warum sie Richtung Stadtzentrum gefahren sind. Vielleicht zum Hafen?

Wepl bleibt plötzlich stehen. Aus dem dichten Fell auf seinem Kopf richten sich die dreieckigen Ohren auf. Wir stehen kurz vor einer Kreuzung. Die Kreuzung ist leer, die Straße dahinter

»Es stinkt«, sagt Wepl. Und nach einer kurzen Pause: »Tiere.« Und nach einer erneuten Pause: »Viele. Sie kommen hierher. Von links.«

Jetzt rieche ich auch etwas, aber es ist nur der nasse Rost der Lastwagen. Und plötzlich: tausendfüßiges Trappeln und Trommeln, Winseln, Heulen, Schnaufen und Keuchen. Tausende Füße. Tausende Kehlen. Ein Rudel. Ich sehe mich nach einem Hauseingang um, wo wir warten könnten, bis es vorübergezogen ist.

»Mist«, sagt Wepl, »Hunde.«

Im selben Augenblick kommen sie aus der linken Seitengasse herausgeschossen. Hunderte, Tausende von Hunden. Ein dichter, grau-gelb-schwarzgemusterter Strom, trappelnd, keuchend und nach nassem Hundefell stinkend. Die Spitze ist schon in der rechten Seitengasse verschwunden, und der Strom fließt und fließt, als sich ein paar Hunde aus dem Rudel lösen und direkt auf uns zu kommen - große, dürre Tiere, denen das verrottete Fell in Fetzen herabhängt. Sie haben kleine, trübe und unruhige Augen, ihre Zähne sind gelb und geifernd. Mit dünnem, klagendem Gekläff traben sie heran, die höckrigen Leiber gekrümmt, die zuckenden Schwänze eingezogen. Aber sie kommen nicht auf geradem Weg heran, sondern in einem seltsamen, schlingernden Bogen.

»Ins Haus!«, schreit Vanderhoeze. »Was steht ihr da noch herum? Ins Haus!«

Ich bitte ihn, nicht so einen Lärm zu machen, und greife in meinem Anzug nach dem Scorcher.

Wepl sagt: »Nicht nötig. Ich mache das selbst.«

Langsam, in seinem typischen schaukelnden Gang, geht er auf die Hunde zu. Er nimmt keine Kampfhaltung ein. Er geht einfach.

»Wepl«, sage ich. »Wir sollten uns besser von ihnen fernhalten.«

»Lass mich«, antwortet Wepl und geht weiter.

Ich weiß nicht, was er vorhat, gehe langsam die Wagenkolonne entlang in derselben Richtung wie er und halte den Scorcher dabei mit dem Lauf nach unten in der gesenkten Hand. Ich muss das Schussfeld vergrößern für den Fall, dass der schmutzig gelbe Strom als Ganzes zu uns umschwenkt. Wepl geht immer weiter, die Hunde indes sind stehen geblieben. Sie weichen zurück, wenden Wepl ihre Flanken zu, krümmen den Rücken noch mehr und klemmen den Schwanz nun vollends zwischen die Beine. Als Wepl sich bis auf zehn Schritte genähert hat, stürzen sie plötzlich mit einem panischem Winseln davon und verschmelzen augenblicklich mit dem Rudel.

Wepl aber geht immer weiter. Mitten auf der Straße, langsam, schaukelnd, als wäre die Kreuzung vor ihm vollkommen leer. Ich aber presse jetzt die Zähne zusammen, hebe den Scorcher höher und wechsle auf die Straßenmitte. Gehe hinter Wepl her. Der schmutzig gelbe Strom ist schon ganz nahe.

Von dem unerträglichen Gestank (oder vor Angst?) ist mir ganz übel. Ich versuche geradeaus zu sehen und denke: zwei Schüsse nach links und sofort einer nach rechts, zwei links und sofort rechts …

Da ertönt über der Kreuzung ein verzweifeltes Jaulen. Das Rudel reißt auseinander, die Hunde drängeln, beißen sich, treten, steigen übereinander, heulen, kläffen und treiben fort von der Kreuzung und machen die Straße frei.

Sekunden später ist in der rechten Seitenstraße kein Hund mehr zu sehen; stattdessen drängt sich in der Sackgasse links eine gigantische Masse an behaarten Leibern, Pfoten und gebleckten Zähnen. Über dieser Masse steigt weißlicher, stinkender Dunst auf, und ein tausendstimmiges Heulen vor Verzweiflung

Wir überqueren die Kreuzung, die übersät ist mit Fetzen schmutzigen Fells, und die heulende Meute bleibt hinter uns zurück. Jetzt zwinge ich mich stehen zu bleiben und zurückzublicken. Die Mitte der Kreuzung ist noch immer leer. Das Rudel hat die Richtung geändert und strömt jetzt zu beiden Seiten der Wagenkolonne die Hauptstraße entlang auf den Stadtrand zu. Das Winseln und Jaulen verebbt allmählich, noch eine Minute, und alles ist wie zuvor: Man hört nur noch das geschäftige, tausendfüßige Trappeln, das Trommeln, Schnaufen und Keuchen. Ich atme auf und stecke den Scorcher zurück ins Holster. Ich hatte wirklich Angst.

Vanderhoeze ist empört über unser waghalsiges, kindisches Manöver und erteilt uns eine Rüge. Beiden. Wepl ist normalerweise überaus empfindlich gegen Vorwürfe aller Art, aber diesmal protestiert er aus irgendeinem Grund nicht. Er brummt nur: »Sag ihm, dass es dabei keinerlei Risiko gab.« Und dann: »Fast keins …« Ich diktiere Vanderhoeze die Meldung über den Zwischenfall. Ich habe nicht verstanden, was auf der Kreuzung vor sich ging, und Vanderhoeze versteht es erst recht nicht. Ich weiche seinen Fragen aus und betone, dass sich das Rudel jetzt auf das Schiff zubewegt.

»Wenn sie bis zu euch vordringen, schreckt sie mit Feuer ab«, schließe ich.

Vanderhoeze betont noch einmal, wie unzufrieden er mit uns ist, und erlaubt uns dann weiterzugehen. Ich sehe ihn dabei direkt vor mir - wie immer wird er sich mit den Fingern durch die linke Seite seines Backenbartes fahren und dann die rechte Seite zurechtstreichen; anschließend lehnt er sich im Sessel zurück und verfolgt dann aufs Neue die Rundumbildschirme, sehr wachsam - und gefasst auf die nächste Unannehmlichkeit.

Wir erreichen das Ende des zweiundzwanzigsten Viertels, und mir fällt auf, dass jegliches Leben von der Straße verschwunden ist - nicht eine Ratte, nicht eine Schlange, ja nicht einmal Frösche sind zu sehen. Vielleicht haben sie sich wegen der Hunde versteckt, denke ich. Aber ich weiß, dass das nicht stimmt: Es liegt an Wepl.

Im vierten Jahr unserer Bekanntschaft stellte sich plötzlich heraus, dass Wepl recht gut Englisch spricht. Ungefähr zur selben Zeit fand ich heraus, dass er Musik komponiert - zwar keine Symphonien, aber kleine Lieder und Melodien, die für das menschliche Ohr durchaus hübsch klingen. Und nun noch etwas …

Er schielt mit einem gelben Auge zu mir herüber. »Wie hast du das mit dem Feuer erraten?«, erkundigt er sich.

Ich horche auf. Ich habe also etwas mit dem Feuer erraten? Wann war das wohl?

»Kommt darauf an, was für ein Feuer«, sage ich aufs Geratewohl.

»Verstehst du nicht, wovon ich spreche? Oder willst du nicht darüber sprechen?«

Feuer, Feuer, überlege ich hastig. Ich habe das Gefühl, vielleicht gleich etwas ganz Wichtiges zu erfahren. Wenn ich nichts übereile. Wenn ich die richtigen Antworten gebe. Wann habe ich denn etwas von Feuer gesagt? Ja! Genau, »schreckt sie mit Feuer ab.«

»Jedes Kind weiß, dass Tiere sich vor Feuer fürchten«, sage ich. »Deshalb bin ich auch darauf gekommen. War es denn in diesem Fall so schwer, das zu erraten?«

»Ich finde schon«, brummt Wepl. »Früher bist du jedenfalls nicht darauf gekommen.«

Er schweigt und hört auf zu schielen. Ende des Gesprächs. Wie klug er doch ist. Ihm ist klar, dass ich entweder nicht verstehe, worum es geht, oder aber nicht darüber sprechen möchte, wenn uns andere hören. In beiden Fällen aber ist es

»Und du … Du hast die Hunde angesengt, nicht?«, frage ich ein wenig einschmeichelnd.

»Das Feuer sengt«, erwidert Wepl trocken.

»Und das kann jeder Kopfler?«

»Kopfler nennen uns nur die Erdenmenschen. Bei den Missgeburten des Südens heißen wir Vampire. Und an der Mündung der Blauen Schlange nennen sie uns Blender. Und auf dem Archipel - ›zsehu‹. Im Russischen gibt es dazu keine Entsprechung. Es bedeutet, ›der unter der Erde wohnt und mit der Kraft seines Geistes zu unterwerfen und zu töten vermag‹.«

»Verstehe«, sage ich.

Nur fünf Jahre habe ich also gebraucht, um herauszufinden, dass mein engster Freund, vor dem ich nie etwas verborgen habe, die Fähigkeit besitzt, mit der Kraft seines Geistes zu unterwerfen und zu töten. Hoffentlich nur Hunde, denke ich, aber - wer weiß. Fünf Jahre Freundschaft! Zum Teufel, warum kränkt mich das eigentlich so?

Wepl bemerkt den bitteren Unterton in meiner Stimme sofort, deutet ihn aber auf seine Weise: »Sei nicht neidisch«, sagt er. »Ihr besitzt dafür sehr vieles, was wir nicht haben und auch niemals haben werden. Eure Maschinen und eure Wissenschaft zum Beispiel.«

Wir kommen zu einem Platz und bleiben sofort stehen, als wir dort, links hinter der Ecke, eine Kanone entdecken: tief, wie zu Boden geduckt; ein langer Lauf mit dem schweren

Ich schaue über den Schild und sehe, wohin geschossen wurde. Genauer gesagt, entdecke ich zuerst große, vom Efeu überwucherte Einschüsse an der Hauswand gegenüber. Erst danach fällt mir am Fuß dieses Hauses ein kleiner, schmutzig gelber Pavillon mit flachem Dach auf, der hier völlig deplatziert wirkt. Jetzt wird mir klar, dass nicht das Haus, sondern der Pavillon beschossen wurde - aus nur fünfzig Meter Abstand, fast auf Tuchfühlung. Die klaffenden Löcher in der Hauswand dahinter sind bloß Fehlschüsse, obwohl es fast unmöglich scheint, aus so geringer Distanz das Ziel zu verfehlen. Die Fehlschüsse sind allerdings nicht allzu zahlreich, und man kann nur über die Standfestigkeit dieser Anlage staunen, die so viele Treffer erhalten und sich trotzdem nicht in einen Schutthaufen verwandelt hat.

Anfangs schien mir, als sei der Pavillon durch die schweren Einschläge der Geschosse verrückt und nach hinten geschoben worden, denn er steht halb auf dem Trottoir und mit einer Ecke fast in die Hauswand gedrückt. Aber so ist es nicht.

Die Geschosse haben runde Löcher mit versengten, rußigen Rändern in die gelbe Fassade geschlagen und sind dann drinnen explodiert. Dadurch wurden die breiten Türflügel des

Aber der Pavillon steht natürlich genau dort, wo ihn die Bauherren - aus welchem Grund auch immer - von Anfang an errichtet hatten: wo er den Fußweg versperrt und einen Teil der Fahrbahn blockiert, was den Verkehr zweifellos behindert haben muss.

Alles, was hier geschah, liegt viele Jahre zurück; längst sind die Gerüche von Brand und Schüssen verschwunden. Geblieben jedoch - und noch immer bedrückend - ist die Atmosphäre des Hasses, der Wut und der Raserei, die den Artilleristen damals die Hand führten.

Ich mache mich ans Diktieren der nächsten Meldung. Wepl sitzt ein wenig entfernt von mir, schielt zu mir herüber, verzieht verächtlich seine Mundwinkel und knurrt demonstrativ laut: »Menschen - wie sollte es da einen Zweifel geben. Natürlich waren es Menschen. Eisen und Feuer, Trümmer und Ruinen, es ist immer dasselbe.« Anscheinend spürt auch er die bedrückende Atmosphäre, und sicher noch viel intensiver als ich. Gewiss wird er sich an seine Heimat erinnern: Wälder voll mit tödlichem Kriegsgerät, zu Asche verbrannte Flächen, in denen nur noch verkohlte radioaktive Baumstämme stehen, wo sogar die Erde von Hass, Angst und Tod getränkt ist.

Hier auf diesem Platz gibt es für uns nichts mehr zu tun. Wir würden nur immer neue Hypothesen entwickeln oder in unserer Phantasie Bilder zeichnen - eines schrecklicher als das andere. Wir gehen weiter, und mir kommt ein Gedanke: Gerät eine Zivilisation in die globale Katastrophe, werden alle Scheußlichkeiten an die Oberfläche gespült - all der Bodensatz, der sich über Jahrhunderte in den Genen des Soziums

Eine Mitteilung von Espada: Er hat Kontakt aufgenommen. Befehl von Komow: Alle Gruppen sollen ihre Translatoren zur Aufnahme linguistischer Informationen bereithalten. Ich taste hinter meinem Rücken nach dem tragbaren Übersetzungsgerät und schalte es ein.

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