El Dorado

Gold.

Unter ihnen lag eine Welt aus Gold. El Dorado existierte. Es war keine Legende. Es existierte, und es lag unter ihnen, zum Greifen nah.

Zum zweiten Mal an diesem Tag hatte Indiana das Gefühl, in einem verrückten, irrealen Traum gefangen zu sein. Aber diesmal war der Grund dafür nicht der, daß etwas seine Gedanken beeinflußte. Es war das Bild, das sich ihm bot; ein Anblick, der gleichzeitig so bizarr erschreckend wie faszinierend war, daß sich der logische Teil von Indianas Denken einfach weigerte, ihn zu akzeptieren.

Eine gute halbe Stunde lang waren sie nebeneinander durch diesen unheimlichen Nebel gelaufen, der bald so dicht geworden war, daß Indiana nicht einmal mehr Marcus’ Gesicht hatte erkennen können, obwohl er kaum einen halben Meter von ihm entfernt war. Was sie während dieser Zeit gefunden hatten, hatte beinahe schon ausgereicht, Indiana an seinem Verstand zweifeln zu lassen. Dabei hätte es ihn warnen müssen. Und trotzdem traf Marcus und ihn der Anblick des Talkessels mit der Wucht eines körperlichen Hiebes.

Das Tal, das nichts anderes als der Krater eines erloschenen Vulkanes war, hatte einen Durchmesser von drei, vielleicht vier Meilen. Alles unter ihnen bestand aus Gold. Und es war nicht einfach nur eine Ansammlung von Goldklumpen und — brocken, es war ein gewaltiger, wuchernder Dschungel, ein winziger, aber perfekt nachgebildeter Ausschnitt einer schon vor Jahrhunderttausenden oder — millionen untergegangenen Welt, die akribisch bis ins letzte Detail aus dem gelben Edelmetall nachgebildet worden war. Es gab Büsche und Sträucher, Felsen und Bäume, Gräser und mannshohe Farngruppen, alles mit schier unglaublicher Präzision herausgearbeitet. Selbst der Boden, auf dem sie standen, bestand aus Gold.

Während sie sich durch den Nebel getastet hatten, war Indiana ein paarmal stehengeblieben und hatte das eine oder andere aufgehoben — eine Pflanze, ein winziges Tier, oder einfach nur einen Stein, der kein Stein war. Jeder einzelne Gegenstand, den Marcus und er betrachtet hatten, war seinem natürlichen Vorbild auf die gleiche, unvorstellbar genaue Art nachgebildet, nachempfunden wie die beiden Stücke aus Stanley Cordas Besitz, die er in New York gesehen hatte.

Nein — er hätte nicht überrascht sein dürfen von dem, was sie jetzt sahen. Aber er war es trotzdem, denn das, was vor ihnen lag, war vollkommen unmöglich. Kein Volk dieser Welt, ganz gleich, wie hoch entwickelt seine Kultur und Technik war, ganz gleich, wieviel Zeit und welche Möglichkeiten ihm zur Verfügung standen, konnte so etwas vollbringen. Er mußte plötzlich wieder an das denken, was der Aymará-Häuptling ihnen erzählt hatte, und mit einem Male kam ihm seine Behauptung, die Götter selbst hätten diesen Teil der Welt erschaffen, gar nicht mehr so weit hergeholt vor. Plötzlich hatte er nur noch Angst. Sie hatten El Dorado gefunden. Sie hatten das vielleicht größte Geheimnis dieses Planeten gelüftet, aber er spürte keinen Triumph, keine Freude, nicht einmal Zufriedenheit. Was er sah, erfüllte ihn mit einer an Panik grenzenden Furcht. Sie sollten nicht hiersein. Kein Mensch dieser Welt sollte hiersein. Ganz gleich, wer diese fantastische Landschaft aus Gold erschaffen hatte und warum — es waren keine Menschen gewesen, und dies war kein Ort, an dem Menschen leben konnten.

Fünf, vielleicht sogar zehn Minuten standen Marcus und er einfach reglos da und starrten auf das in allen nur denkbaren Schattierungen von Gold schimmernde Abbild einer längst untergegangenen Welt unter sich, ehe Indiana endlich seine Lähmung überwand und einen zögernden Schritt machte. Ein warmer Windhauch schlug ihm entgegen, und er blieb noch einmal stehen und hob den Kopf. Der Anblick, den der Himmel bot, war kaum weniger unheimlich als der des Vulkankraters. Der Nebel war hinter ihnen zurückgeblieben, aber er war nicht etwa dünner geworden und hatte sich auch nicht gelichtet, sondern hörte plötzlich wie abgeschnitten auf, um einen beinahe zum Greifen nahe über dem Talboden hängenden Himmel zu bilden. Auch das war unmöglich, wie Indiana sehr wohl wußte. Aber anscheinend hatten sie einen Winkel der Welt betreten, in dem die Gesetze der Physik und Logik außer Kraft gesetzt waren. Es hätte Indiana auch nicht weiter verwundert, wären sie auf einen Fluß gestoßen, der bergauf strömte.

«Fünfzig bis sechzig Millionen«, sagte Marcus plötzlich. Seine Stimme war dünn und zitterte, er atmete heftig und so schwer, als hätten sie die letzten Meilen im Laufschritt zurückgelegt, und im ersten Moment verstand Indiana gar nicht, was er meinte. Fragend sah er ihn an.

«Das da unten ist mindestens fünfzig oder sechzig Millionen Jahre alt«, wiederholte Marcus mit einer erklärenden Geste auf den goldenen Dschungel.»Einige dieser Pflanzen sind vor fünfzig Millionen Jahren ausgestorben. Erinnerst du dich an den Saurier?«

Natürlich erinnerte sich Indiana. Die lebensgroße Nachbildung der fleischfressenden Riesenechse war so unvermittelt aus dem Nebel vor ihnen aufgetaucht, daß Indiana fast vor Schrecken aufgeschrien hätte. Paläontologie war nicht unbedingt sein Spezialgebiet — aber er wußte, daß Marcus mit seiner Schätzung ziemlich richtig lag — plus/minus ein paar Millionen Jahre. Was machte das schon? Trotzdem schüttelte er den Kopf.

«Unmöglich«, sagte er mit einer Stimme, deren Klang verriet, wie wenig ihn seine eigenen Worte überzeugten.»Vor fünfzig Millionen Jahren gab es noch keine Menschen.«

«Wer sagt dir denn, daß es Menschen waren?«erwiderte Marcus ruhig.

Indiana sah ihn sehr unsicher an, verzichtete aber vorsichtshalber auf eine Antwort und drehte sich wieder herum, um weiterzugehen. Er mußte sich mit Gewalt in Erinnerung rufen, was sie überhaupt wollten. Es wurde wärmer, je mehr sie sich dem Rand des bizarren Urweltdschungels näherten. Der Boden unter ihren Füßen knisterte, und Indiana handelte sich zwei schmerzhafte Schnitte an den Händen ein, ehe er endgültig begriff, daß die Pflanzen, die er sah, nur wie Gräser und Farne aussahen, aber zum Teil rasiermesserscharfe Kanten hatten.

Jeder Schritt, den sie taten, führte sie tiefer in eine fantastische, vor unvorstellbar langer Zeit untergegangene Welt hinein. Obwohl alles in ihm sich dagegen sträubte, den Gedanken als wahr anzuerkennen, begriff Indiana doch sehr wohl, wie recht Marcus mit seiner Behauptung gehabt hatte. Sie stießen auf Pflanzen und Tiere, die noch keines Menschen Auge erblickt hatten, auf Geschöpfe, von denen bisher niemand wußte, daß es sie überhaupt jemals gegeben hatte. Einmal stolperte Marcus in ein Spinnennetz hinein, das einen Durchmesser von sicherlich acht oder zehn Metern hatte, und dessen Fäden wie messerscharfer Draht in seine Haut schnitten, ein anderes Mal hätte sich Indiana beinahe selbst aufgespießt, als er aus reiner Gewohnheit nach einem dünnen Zweig schlagen wollte, der ihm im Weg hing, und sich erst im letzten Moment wieder daran erinnerte, daß nichts von alledem hier lebendig war.

Sie waren gute hundert Meter weit in den Golddschungel eingedrungen, als sie den Toten fanden.

Er hockte mit angezogenen Knien am Stamm eines fast mannsdicken Farnbaumes, und im ersten Moment prallte Indiana erschrocken zurück, weil er ihn für einen von Ramos’ Männern hielt, der zurückgeblieben war, um Wache zu halten. Aber im fast gleichen Moment erkannte er auch, daß er sich getäuscht hatte. Der Mann war tot. Er starrte aus weit aufgerissenen, erloschenen Augen an Indiana und Marcus vorbei ins Leere, und das Gewehr in seinen verkrampften Händen war auf den Boden gerichtet. Sein Gesicht und die Haut an seinen Armen und Händen wiesen furchtbare Verbrennungen auf, und der Schädel unter der halb heruntergerutschten Mütze war beinahe kahl, das Haar zum größten Teil ausgefallen.

«Mein Gott …«flüsterte Indiana entsetzt.»Was … ist hier passiert?«

Marcus antwortete nicht, aber er tat etwas, was Indiana völlig überraschte — während er selbst vor Schrecken und Ekel wie gelähmt stehenblieb und aus sicherer Entfernung auf den Toten hinabsah, ging Marcus zu ihm herüber, ließ sich vor ihm in die Hocke sinken und betrachtete aufmerksam sein verwüstetes Gesicht, hob schließlich sogar die Hand und tastete mit den Fingerspitzen über Schädel und Wangenknochen und Hals des Toten.

«Das ist keiner von Ramos’ Männern«, sagte er, nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte und zu Indiana zurückgekehrt war.»Ich war lange genug mit ihm und seinen Kumpanen zusammen. Er muß zu Cordas Begleitern gehören. Ich schätze, daß er schon seit zwei oder drei Tagen tot ist.«

Indiana überwand endlich seinen Widerwillen und trat ebenfalls näher an den Leichnam heran. Auch aus der Nähe bot er keinen angenehmen Anblick; aber er zwang sich, ihn genauso aufmerksam zu betrachten, wie Marcus es zuvor getan hatte. Was er im ersten Moment für furchtbare Brandwunden gehalten hatte, war … etwas anderes. Es waren Verbrennungen, aber von einer Art, wie Indiana sie niemals zuvor im Leben gesehen hatte. Trotzdem hatte er plötzlich das Gefühl, er wüßte, was hier geschehen war. Die Erklärung war irgendwo in seiner Erinnerung schon vorhanden, aber noch nicht bereit, sich ihm zu offenbaren. Er war noch immer viel zu verwirrt und erschreckt, um wirklich einen klaren Gedanken zu fassen.

Mit einem Ruck wandte er sich zu Marcus um und sah ihn wenig freundlich an.»Würde es dir etwas ausmachen, nicht länger den Geheimnisvollen zu spielen und mir zu erklären, was in drei Teufels Namen hier vorgeht?«

«Ehrlich gesagt — ja«, antwortete Marcus. Ein grimmiger Ausdruck breitete sich auf seinem Gesicht aus.»Weißt du, ich war lange genug mit den Aymará zusammen. Und ich hatte Zeit genug, über das nachzudenken, was mir der Häuptling erzählt hat. Es ist nur eine Theorie …, aber wenn ich recht habe, dann sollten wir besser von hier verschwinden, so schnell wir können. Und hier lieber nichts mehr anfassen. «Fast in der gleichen Sekunde tat er das genaue Gegenteil dessen, was er Indiana gerade geraten hatte: Er bückte sich, brach einen der goldenen Zweige von einem Busch ab und zerbrach ihn vor Indianas Augen ohne sichtliche Anstrengung in zwei Teile. Einige Sekunden lang blickte er mit düsterem Gesicht auf die Kanten des zerbrochenen Astes, dann hielt er ihn Indiana hin und sagte:»Das paßt.«

Indiana blickte neugierig auf den Zweig in Marcus’ Händen. Er bestand nicht völlig aus Gold. Im Grunde war es nur eine wenige Millimeter-Bruchteile dicke Goldauflage, die seine Oberfläche in allen Konturen perfekt nachbildete. Darunter kam etwas zum Vorschein, daß vor hundert Millionen Jahren vielleicht einmal Holz gewesen war.

«Ich glaube, ich weiß, was hier passiert ist«, sagte Marcus.»Ein Meteor.«

«Ein — was?«wiederholte Indiana.

Marcus nickte, ließ die Holzstücke fallen und wischte sich mit hektischen Bewegungen die Hände an den Hosenbeinen ab.»Wahrscheinlich ist hier vor fünfzig oder sechzig Millionen Jahren ein Meteor heruntergekommen«, sagte er.»Er muß aus purem Gold bestanden haben — oder einer Legierung, die einen sehr hohen Anteil von Gold hatte. Wahrscheinlich ist er dicht über diesem Talkessel verdampft, und das Gold hat das alles hier eingeschlossen und für alle Zeiten konserviert.«

«Das … das ist doch … lächerlich«, murmelte Indiana unsicher.»Ich könnte dir ein Dutzend Gründe nennen, aus denen das unmöglich ist.«

«Eher zwei Dutzend«, gestand Marcus ruhig.»Und trotzdem muß es so gewesen sein. Es ist die einzige Erklärung, die einen Sinn ergibt. «Plötzlich war er sehr erregt.»Es gibt all diese Pflanzen und Tiere doch seit fünfzig Millionen Jahren gar nicht mehr, Indy. Und selbst wenn — niemand könnte so etwas erschaffen. Kein Mensch wäre dazu in der Lage.«

Indiana sah sich verstört um. Der Wissenschaftler in ihm protestierte fast hysterisch dagegen, Marcus’ haarsträubende Theorie auch nur in Betracht zu ziehen — aber hatte er nicht im Laufe seines Lebens mehr als einmal erfahren müssen, daß es Dinge gab, die mit Wissenschaft und Logik nicht mehr zu erklären waren? Und außerdem — er sah es. Er konnte dieses Gold anfassen, es berühren. Sie standen inmitten eines Ausschnittes einer Welt, die untergegangen war, als der Geburtstag des ersten Menschen noch neunundvierzig Millionen Jahre in der Zukunft gelegen hatte.

Unsicher deutete er auf den toten Söldner.»Und was hat ihn getötet?«

«Dasselbe, was uns töten wird, wenn wir zu lange hier bleiben«, antwortete Marcus ernst.»Der Fluch von El Dorado. Denk daran, was der alte Mann erzählt hat. Jeder, der dieses Gold berührt hat, wurde krank und starb. Denk an die Dinge, die Corda mitgebracht hat. Und an das, was denen zugestoßen ist, denen er sie verkaufte. Vielleicht ist es kein Gold. Vielleicht ist es nur etwas, das aussieht wie Gold, aber tödlich wirkt. «Er machte eine winzige Pause.»Aber ich nehme eher an«, sagte er dann,»daß es radioaktiv verseucht ist.«

«Radio…«Indiana stockte mitten im Wort. Ein eisiger Schauer durchrieselte ihn, und plötzlich ergab alles einen Sinn. Der Fluch von El Dorado. Stanley Cordas geheimnisvolle Krankheit. Die Hysterie, die unter Reubens Vorgesetzten ausgebrochen sein mußte, als sie Cordas erste Mitbringsel untersuchten und feststellten, daß sie hochgradig verstrahlt waren. Indiana hätte beinahe gelacht, als ihm klarwurde, wie sehr sich der FBI-Mann geirrt hatte. Und um wie vieles entsetzlicher die Wahrheit war.

Mit einer Mischung aus Furcht und Verwirrung blickte er auf den toten Söldner hinab. Er stimmte mit Marcus’ Schätzung überein, daß der Mann vor ungefähr zwei Tagen gestorben war. Aber Corda hatte auch nur zwei Tage Vorsprung vor ihnen gehabt; drei, rechnete man die Zeit ein, die sie im Dorf der Aymará und später in Ramos’ Gefangenschaft verloren hatten. Und das bedeutete nichts anderes, als daß ein einziger Tag in dieser Umgebung ausgereicht hatte, den Mann auf diese furchtbare Weise ums Leben kommen zu lassen. Indiana versuchte blitzschnell abzuschätzen, wie lange Marcus und er sich schon in diesem Tal aufhielten. Sicher nicht mehr als eine Stunde, aber vielleicht war auch das schon zuviel.

«Wir müssen Marian finden«, sagte er plötzlich.»Schnell — bevor es wirklich zu spät ist.«

Marcus wollte widersprechen, aber Indiana gab ihm gar keine Gelegenheit dazu, sondern stürmte einfach weiter. Seine überreizte Fantasie gaukelte ihm vor, den lautlosen, unsichtbaren Tod bereits zu fühlen, der überall rings um sie herum in der Luft lag. War es nicht spürbar wärmer geworden? Spürte er nicht bereits ein Brennen und Nagen tief in sich, das erste Anzeichen des tödlichen Feuers, das seinen Körper von innen heraus verzehrte?

Er verscheuchte den Gedanken. Wenn es tatsächlich so war, dann war es jetzt ohnehin bereits zu spät, um umzukehren.

Sie bewegten sich eine weitere halbe Meile weit durch den unheimlichen Dschungel, in dem ihre Schritte und Atemzüge widerhallten, als liefen sie durch einen Korridor aus Metall, bis sie die ersten Stimmen hörten. Indiana blieb stehen, hob hastig die Hand, als Marcus eine Frage stellen wollte, und lauschte. Es war schwer, in dieser bizarren Umgebung die Richtung zu bestimmen, aus der ein Geräusch kam, aber plötzlich sah er eine Bewegung in dem goldenen Schimmern vor sich. Geduckt und die in Gold konservierten Büsche und Farne als Deckung ausnützend, schlichen sie weiter.

Der Dschungel setzte sich noch ein knappes Dutzend Schritte weit fort und hörte dann wie abgeschnitten auf. Vor ihnen lag eine kreisrunde, gut zwei- oder dreihundert Meter messende Lichtung, in deren Mitte sich ein fast haushoher Block aus purem Gold erhob. Ein knappes Dutzend Gestalten bewegte sich auf der Lichtung; die meisten in unmittelbarer Nähe des Rie-sennuggets, andere einfach kopflos und wie hysterisch schreiend durcheinanderlaufend, aber Indiana fiel auch auf, daß zwei oder drei von Ramos’ Männern sich sehr unsicher bewegten. Einer hockte unmittelbar neben dem Goldklumpen auf dem Boden und krümmte sich, als wäre ihm übel.

«Ich glaube, du hast recht«, flüsterte er.»Das da dürfte dein Meteor sein.«

Marcus nickte. Obwohl vor ihnen genau das lag, was er Indiana prophezeit hatte, blickte er den riesigen Goldklumpen fassungslos an.»Unvorstellbar«, flüsterte er.»Das … das Ding muß hundert Tonnen wiegen. Er muß Milliarden wert sein, Indy. Milliarden

Indiana dachte an das verbrannte Gesicht des Toten, den sie gerade gefunden hatten, und Generationen von verkrüppelten Indianern, die diesen Goldberg seit Menschengedenken bewachten. Aber er kam nicht dazu, Marcus zu antworten, denn plötzlich erklang hinter ihnen ein Geräusch wie von zerbrechendem Glas, und als Marcus und er herumfuhren, blickten sie in die Läufe zweier Maschinenpistolen, die sich genau auf ihre Gesichter richteten.

Die Waffen lagen in den Händen von zwei Männern, zwischen denen sich eine dritte, kleinere und halb verkrüppelte Gestalt bewegte.

«Sie irren sich, Mr. Brody«, sagte Ramos.»Es dürften wohl eher Billionen sein. Wahrscheinlich gibt es in diesem Tal mehr Gold als auf der ganzen übrigen Welt zusammengenommen.«

Er lächelte leicht.»Aber keine Sorge — ich werde nicht soviel davon mitnehmen, daß der Goldpreis entscheidend in den Keller fällt. Schließlich will ich mir nicht selbst das Geschäft verderben.«

«Sie werden überhaupt nichts davon mitnehmen, Sie Narr«, sagte Indiana ruhig.»Haben Sie immer noch nicht begriffen, daß dieses Gold den Tod bringt?«

Ramos lachte, trat ein Stück zurück und gab seinen Männern einen Wink. Die beiden packten Indiana und Marcus und zerrten sie grob zu Ramos hinüber. Indiana ließ es klaglos mit sich geschehen, während Marcus versuchte, sich zu wehren, was ihm einen derben Rippenstoß mit einem Gewehrlauf einbrachte. Er keuchte vor Schmerz, krümmte sich und stellte seinen Widerstand ein.

«Es freut mich, daß Sie den Weg doch noch gefunden haben, Dr. Jones«, sagte Ramos.»Es war nicht sehr klug von Ihnen, zu fliehen, ich selbst konnte Ihre kleine artistische Einlage zwar nicht gebührend bewundern, aber meine Männer haben mir erzählt, was Sie getan haben. Sehr tapfer, aber auch sehr dumm. Sie hätten bei diesem Kunststück zu Schaden kommen können.«

«Wir werden alle zu Schaden kommen«, sagte Indiana,»und zwar ziemlich drastisch, Ramos, wenn wir nicht auf der Stelle von hier verschwinden. Dieses Gold ist verseucht. Es bringt jeden um, der es berührt.«

«Nun, ich zumindest lebe noch«, erwiderte Ramos beinahe fröhlich.»Und meine Männer auch. Und wir haben es berührt.«

«Sie verdammter Narr!«sagte Indiana aufgebracht.»Ich wußte, daß Sie blind sind, aber ich wußte nicht, daß Sie dumm sind, Ramos. Haben Sie vergessen, was mit den Leuten passiert ist, die Cordas Gold gekauft haben?«Er deutete zornig in den Wald hinauf.»Dort oben liegt ein Toter, der auch geglaubt hat, der Fluch von El Dorado wäre nur eine Legende. Es ist schade, daß Sie ihn nicht sehen können. Aber vielleicht fragen Sie einen Ihrer Männer, was mit ihm passiert ist. Und wenn Ihnen das nicht reicht, dann gehen Sie zu den Aymará-Indianern und lassen sich von ihnen erzählen, welches Schicksal ihr Volk ereilt hat.«

«Der Fluch von El Dorado?«wiederholte Ramos. Er lachte, aber plötzlich klang es bitter, viel mehr wie ein Aufschrei.»Sie täuschen sich, Dr. Jones. Ich weiß, daß es ihn gibt. Oh, und ob ich es weiß. Wenn nicht ich, wer denn sonst.«

«Wie … meinen Sie das?«erkundigte seh Indiana verwirrt.

Plötzlich wurde Ramos zornig. Mit einer heftigen Geste deutete er auf sein eigenes Gesicht und kam auf Indiana zu.»Sehen Sie mich an!«verlangte er erregt.»Ich bin ein Krüppel. Oh, ich weiß, was alle über mich reden, wenn ich es nicht höre. Ich kann nicht sehen, aber ich weiß trotzdem, wie sie mich anblicken, und ich weiß, was sie denken. Haben Sie sich nie gefragt, warum ich so bin?«

«Nein.«

«Warum auch?«erwiderte Ramos mit einem neuerlichen, bitteren Lachen.»Ich will es Ihnen sagen, Dr. Jones. Ich weiß, daß dieses Gold verflucht ist, und ich weiß, was es den Aymará angetan hat, denn es hat dasselbe mir und meinen Vorfahren angetan. Und darum gehört es mir. Ich habe ein Recht darauf. Es war einer meiner Vorfahren, der den Weg nach El Dorado fand. Meine Familie stammt in direkter Linie von den ersten Conquistadoren ab. Einer von ihnen fand dieses Tal, und er kehrte lebend zurück. Aber seither liegt der Fluch von El Do-rado auch auf unserer Familie. Ich bin nicht der erste Krüppel, der in unserer Blutlinie gezeugt wurde. Mein Vater und dessen Vater und dessen Vorfahren wußten von El Dorado und dem, was es wirklich ist.«

«Wenn das stimmt, dann sind Sie noch verrückter, als ich geglaubt habe«, antwortete Indiana.»Sie haben es gewußt und sind trotzdem hierher gekommen?«

«Es gehört mir!«antwortete Ramos mit schriller Stimme.»Zehn Generationen meiner Familie haben den Preis für dieses Gold bezahlt. Das Wissen, daß El Dorado mehr als eine Legende ist, wurde in meiner Familie vom Vater auf den Sohn weitervererbt, und ich bin es, der dieses Erbe antritt. Sie nennen mich verrückt? Weil ich den Lohn für vierhundert Jahre Leid verlange?«

«Es wird Sie umbringen, Sie Narr!«schrie Indiana.»Begreifen Sie das denn nicht? Glauben Sie wirklich, Sie wären immun? Es wird uns alle hier töten, wenn es das nicht bereits getan hat.«

«Halten Sie den Mund, Jones!«keifte Ramos.

«Warum?«erkundigte sich Indiana ruhig.»Haben Sie Angst, daß Ihre Männer es hören könnten? Haben Sie Angst, sie könnten begreifen, daß sie nicht Reichtum, sondern den Tod finden werden?«Er wandte sich an den Mann, der neben ihm stand und mit seinem Gewehr auf ihn zielte.»Hat er es euch denn nicht erzählt?«

Der Mann schwieg, aber in seinen Augen erschien ein unsicheres Flackern. Auch sein Kamerad begann nervös von einem Fuß auf den anderen zu treten und abwechselnd ihn und Ramos anzublicken.

«Sagen Sie es ihnen, Ramos«, verlangte Indiana.»Sagen Sie ihnen, daß dieses Gold nichts wert ist. Sagen Sie ihnen, woran Cordas Männer gestorben sind, oder habt ihr noch einen von ihnen gesehen? Und woran alle anderen, die hierher kamen, ebenfalls gestorben sind.«

«Sie sollen den Mund halten!«schrie Ramos, aber Indiana fuhr unbeeindruckt zu dem Mann neben sich fort:

«Dieses Gold wird euch umbringen. Es tötet jeden, der es berührt. Ihr werdet nicht lange genug leben, um es wegzuschaffen und euren Reichtum zu genießen.«

«Das ist nicht wahr!«brüllte Ramos.»Halten Sie den Mund, oder ich lasse Sie auf der Stelle erschießen!«

«Wahrscheinlich sind wir sowieso schon alle so gut wie tot«, erwiderte Indiana gelassen.»Und Sie wissen das, Ramos. Sie haben es von Anfang an gewußt, nicht wahr?«

Ramos starrte ihn haßerfüllt an, aber er sagte nichts mehr. Dafür begannen sich die beiden Söldner immer unruhiger zu bewegen, und schließlich senkte der, der Marcus bewachen sollte, mit einem Ruck seine Waffe und drehte sich zu Ramos um.»Ist das wahr?«fragte er.»Sagt er die Wahrheit?«

«Es ist wahr«, sagte Indiana an Ramos’ Stelle.»Er ist nicht hierher gekommen, weil er das Gold haben wollte. Ich glaube, er wußte ganz genau, daß man es nicht fortschaffen kann. Er wollte dieses Gold niemals von hier fortbringen.«

«Sie … Sie lügen«, behauptete der Söldner. Seine Lippen zitterten, und seine Augen waren weit vor Angst.»Das ist doch alles Blödsinn. Was … was soll an diesem Gold gefährlich sein? Es ist Gold, nicht mehr. Gold ist nicht giftig.«

«Dieses schon«, sagte Indiana. Er blickte den Mann aufmerksam an, betrachtete sein Gesicht, seine Hände und dann die seines Kameraden.»Sie haben ihn angefaßt, nicht wahr?«

«Wen?«

«Den großen Brocken. «Indiana machte eine Kopfbewegung auf die Lichtung hinaus.»Sie haben ihn mit den Händen berührt. Sehen Sie sich die jetzt an.«

Der Söldner hob langsam die Arme, sah auf seine Hände hinab — und wurde kreidebleich. Seine Haut war gerötet wie bei einer ganz leichten Verbrennung.

«Das … das kann nicht sein«, stammelt er.»Es ist doch nur Gold. Und …«Er starrte Ramos an.»Er hat ihn auch angefaßt. Wir alle haben ihn angefaßt! Er würde doch auch sterben!«

«Nein«, sagte Indiana leise. Und mit einem traurigen Lächeln:»Er ist schon tot. Er hat es nur noch nicht gemerkt.«

«Es gehört mir«, flüsterte Ramos. Er schien gar nicht begriffen zu haben, was Indiana sagte.»Es gehört mir. Ich habe dafür bezahlt, und jetzt gebe ich es nicht mehr her.«

«Du … du verdammter Mistkerl!«stammelte der Söldner.»Du hast uns alle umgebracht!«Plötzlich schrie er auf, riß das Gewehr in die Höhe und legte auf Ramos an.

Indiana versetzte ihm einen Stoß in die Seite, der ihn taumeln und das Gewehr verreißen ließ. Der Schuß löste sich, verfehlte Ramos um Meter und fuhr harmlos in den Boden. Der zweite Söldner hob ganz automatisch seine Waffe und zielte auf Indiana, führte die Bewegung dann aber doch nicht zu Ende, sondern senkte das Gewehr wieder. Auf seinem Gesicht erschien eine Mischung aus Entsetzen und Unglaube.

«Es … es gehört mir«, stammelte Ramos immer und immer wieder.»Ich habe ein Recht darauf! Ich — «Und plötzlich schrie er auf, stürzte auf den Söldner los und entriß ihm mit einer blitzartigen Bewegung das Gewehr.

Es ging alles viel zu schnell, als daß Indiana noch Zeit gefunden hätte, auf irgendeine andere Weise zu reagieren als die, sich zu Boden zu werfen und dabei Marcus mit sich zu reißen. Ramos wirbelte die Waffe herum, schrie wie ein Wahnsinniger und riß den Abzug durch. Die MP-Salve ließ winzige Goldgey-sire aus dem Boden explodieren, fuhr klirrend und scheppernd in einen Busch und hinterließ eine gleichmäßige Linie dunkler, rasch größer werdender Flecken auf den Hemden der beiden Söldner. Die Männer waren tot, ehe sie noch zu Boden stürzten.

Indiana rollte herum, versuchte auf Hände und Knie hochzukommen — und erstarrte mitten in der Bewegung, als sich Ra-mos’ Waffe plötzlich direkt auf ihn richtete. Das Gesicht des Blinden war zu einer Grimasse geworden. Speichel lief über sein Kinn, und in seinen Augen brannte ein verzehrendes Feuer.

«Es gehört mir!«stammelte er.»Niemand wird es mir wegnehmen! Das Gold gehört mir.«

«Seien Sie vernünftig, Ramos!«sagte Indiana. Er fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen, verlagerte sein Körpergewicht ein wenig und erstarrte wieder, als sich die Waffe in Ramos’ Händen drohend bewegte. Der Blinde schien seine Bewegung tatsächlich gehört zu haben; oder er hatte sie auf eine andere Weise gespürt. Indiana überschlug blitzartig seine Chancen, aufzuspringen und Ramos die MP zu entreißen, ohne dabei in der Mitte perforiert zu werden. Das Ergebnis, zu dem er kam, gefiel ihm nicht besonders.

«Niemand will es Ihnen wegnehmen, Ramos«, sagte er noch einmal.»Aber dieses Gold bringt Sie um, verstehen Sie das doch!«

«Sie lügen!«keifte Ramos.»Und selbst, wenn Sie recht haben — Sie werden auf jeden Fall vor mir sterben. Und zwar genau jetzt!«

Indiana stieß sich mit aller Kraft ab, und Ramos’ Zeigefinger krümmte sich um den Abzug der MP. Die Waffe stieß eine orangerote Feuerlanze aus, die sich rasend schnell auf Indiana zubewegte und einen perfekten Halbkreis beschrieb, der die Bahn seines Sprunges schneiden mußte, ehe er den Blinden erreichen konnte. Indiana wußte plötzlich daß er es diesmal nicht mehr schaffen würde.

Aber der tödliche Schmerz kam nicht. Plötzlich brach der Feuerstoß aus Ramos’ MP ab, und in der nächsten Sekunde prallte Indiana gegen den Blinden, riß ihn von den Füßen und schlug ihm die Waffe aus der Hand. Gleichzeitig hämmerte er Ramos die Faust mit aller Gewalt in den Leib.

Ramos gab nicht einmal einen Schmerzenslaut von sich. Er versuchte auch nicht, sich zu wehren. Das konnte er auch gar nicht mehr. Er war tot. Seine Augen waren weit aufgerissen und starr, und zwischen seinen Brauen war ein winziges, rundes Loch erschienen.

Sekundenlang starrte Indiana verblüfft auf den Toten, dann sah er mit einem Ruck auf — und sog zum zweiten Mal verblüfft die Luft ein.

«Du?!«

Marian trat einen Schritt weit aus dem Dschungel hervor und blieb wieder stehen. Sie zitterte. Ihr Gesicht war schweißüberströmt und bleich, und ihre Hände umklammerten das Gewehr so fest, daß sich die Haut über den Knöcheln weiß spannte. Ihr Blick war so leer, wie es der des Blinden gewesen war.

«Du?«flüsterte Indiana noch einmal. Er stand auf, streckte die Hand in Marians Richtung aus — und erstarrte abermals mitten in der Bewegung, als sich ihre Waffe plötzlich auf ihn richtete.

«Bleib stehen, Indy«, sagte sie.»Bitte, bleib stehen. Komm … mir nicht zu nahe.«

«Was … was soll denn das?«murmelte Indiana verstört. Er versuchte zu lachen, aber es mißlang.»Ich bin es, Marian — Indiana!«

«Bleib stehen«, sagte Marian noch einmal.»Komm mir nicht zu nahe, Indiana!«Der Lauf ihres Gewehres richtete sich auf sein Gesicht, und ihr Zeigefinger näherte sich dem Abzug.

Indiana gehorchte; aber eher aus Verwirrung als aus Furcht. Er verstand nichts mehr.»Marian«, murmelte er.»Was … was bedeutet das?«

Marians Lippen begannen zu zittern. Das Gewehr in ihrer Hand schwankte, senkte sich, richtete sich dann wieder auf Indiana und senkte sich endgültig.

«Kommt mit«, sagte sie leise.

Geführt von Marian umkreisten sie die Lichtung und den todbringenden Schatz in ihrem Herzen in respektvollem Abstand.

Dabei fanden sie noch mehr Tote — zwei, drei, schließlich fünf von Stanley Cordas Begleitern, die alle auf die gleiche, entsetzliche Weise ums Leben gekommen waren wie der Mann, den sie als ersten gefunden hatten. Sie lagen nur wenige Schritte vom Rand der Lichtung entfernt im Wald, als hätten sie sich mit letzter Kraft dorthin geschleppt. Vielleicht hatten sie begriffen, daß es der riesige Goldklumpen im Zentrum der Lichtung war, der ihnen den Tod brachte, und noch versucht, aus seiner Nähe zu fliehen. Schließlich stießen sie auf einen Mann, der noch lebte. Aber er war ohne Bewußtsein und fieberte und wies die gleichen von innen nach außen wachsenden Verbrennungen auf wie alle anderen. Indiana wußte, daß jeder Versuch, ihm zu helfen, sinnlos wäre. Sie betteten ihn etwas bequemer auf den harten, metallversiegelten Boden, und Marcus flößte ihm ein wenig Wasser aus seiner Feldflasche ein, dann gingen sie weiter.

Und schließlich fanden sie Stanley Corda.

Es war Marcus, der ihn entdeckte — ein kleines Stück vom Waldrand entfernt auf der Lichtung, genau auf der entgegengesetzten Seite des goldenen Findlings, hinter dem die Freudenschreie von Ramos’ Männern längst verklungen waren und einem tödlichen Schweigen Platz gemacht hatten. Er berührte Indiana am Arm und deutete mit der anderen Hand nach rechts. Im ersten Moment sah Indiana nicht einmal, was Marcus meinte, aber dann erkannte er die verkrümmte, auf der Seite liegende Gestalt im goldverkrusteten Gras — und rannte ohne ein weiteres Wort einfach los.

Es war unglaublich — aber Corda lebte noch. Seine Augen waren offen, und seine Brust hob und senkte sich in schnellen, unregelmäßigen Zügen. Aber auch er war bereits vom Tode gezeichnet. Sein Gesicht war aufgedunsen und rot, die Lippen eiternde Wunden, und seine Hände so schrecklich verbrannt, daß Indiana bei ihrem Anblick beinahe übel wurde.

Sekundenlang blieb Indiana zwischen Entsetzen und Furcht hin- und hergerissen reglos stehen, dann machte er einen weiteren Schritt und ließ sich neben Stanley in die Hocke sinken.

«Stan?«

Corda stöhnte. Er versuchte sich zu bewegen, hatte aber offensichtlich nicht mehr genug Kraft dazu, so daß Indiana seine Position weit genug veränderte, damit Corda ihn erkennen konnte, ohne den Kopf zu heben.

«Kannst du mich verstehen?«fragte Indiana.

Cordas Lippen bewegten sich. Er wollte sprechen, aber er brachte nur ein unartikuliertes Stöhnen zustande.

«Sag nichts«, sagte Indiana.»Ich weiß es. «Er stockte. Warum fiel es ihm im Angesicht des Todes so schwer, die passenden Worte zu finden?» Es … es wird alles gut«, fuhr er fort.»Wir bringen Marian hier raus, das verspreche ich dir.«

Corda mußte seine Worte verstanden haben, denn er bot noch einmal alle Kräfte auf, um zu antworten:»… flieh, Indiana. Ihr müßt … verlassen … schnell … es ist … verseucht.«

«Ich weiß«, sagte Indiana.

Corda bäumte sich auf.»Nichts anfassen …«stöhnte er.»Ihr dürft … den großen Block … nicht anfassen. «Mit einer schier unglaublichen Kraftanstrengung hob er die Hand und deutete auf einen Gegenstand im Gras neben sich, den Indiana bisher nicht einmal bemerkt hatte.

Indiana griff danach. Nach einigen Sekunden erkannte er, was es war. Ein Geigerzähler. Das Modell ähnelte dem, das Reuben mit an Bord des Schiffes gebracht hatte, es war nur kleiner und handlicher.

«Schalt … es ein«, stöhnte Corda.

Indiana gehorchte. Auf der Vorderseite des kleinen Kästchens begann sich ein Zeiger über eine Skala zu bewegen, und ein durchdringendes, schnelles Knattern erscholl.

«Dich …«stöhnte Corda.»Und Mar…cus.«

Indiana richtete das Gerät nacheinander auf sich und Marcus Brody. Die Nadel auf der Skala schlug aus, aber nicht sehr weit.

«Wo … steht es?«flüsterte Stan.

«Drei«, antwortete Indiana.»Etwas mehr.«

«Dann habt ihr … eine Chance«, stöhnte Corda.»Ihr müßt … gehen. Schnell. Zwei … Stunden …«

«Er hat recht, Indy«, sagte Marcus nervös.»Laß uns verschwinden. Wir sind schon viel zu lange hier.«

Indiana nickte, rührte sich aber trotzdem nicht von der Stelle, sondern hob nur den Kopf und sah zu Marcus und Marian hoch.

Und als er in ihr Gesicht blickte, da begriff er endlich alles.

Marians Augen waren verschleiert. Sie sah ihn an, aber ihr Blick schien direkt durch ihn hindurchzugehen, und auf ihren Zügen hatte sich ein Ausdruck von Schmerz eingegraben, den Indiana nie wieder im Leben völlig vergessen sollte. Tränen liefen über ihr Gesicht, aber sie weinte, ohne es auch nur selbst zu merken. Ihre Finger strichen unentwegt und fast liebkosend über den Lauf des Gewehres in ihren Händen.»Ich kann es nicht«, flüsterte sie.

Indiana wollte etwas sagen, aber seine Kehle war plötzlich wie zugeschnürt. Mit einem Male wußte er, was der Aymará-Häuptling gemeint hatte, als er sagte, Marian hätte ihn nicht verraten, keine Sekunde lang.

«Ich kann es nicht«, sagte Marian noch einmal mit dünner, brechender Stimme.»Ich … ich bin hierhergekommen, um ihn zu töten, Indy. Aber ich kann es nicht.«

Indiana konnte immer noch nichts sagen. Wortlos richtete er sich auf, trat neben Marian, griff nach dem Gewehr und nahm es an sich. Ihr Blick folgte der Waffe, und plötzlich lächelte sie traurig und sagte zum dritten Mal:»Ich kann es nicht, Indy. Ich … ich bin hierher gekommen, um ihn zu töten, und jetzt habe ich nicht die Kraft, abzudrücken. Ist das nicht lächerlich?«

Indiana legte behutsam das Gewehr zu Boden, streifte die sterbende Gestalt neben sich mit einem flüchtigen Blick und streckte dann die Hand nach Marian aus. Sie schüttelte den Kopf. Als Indiana ihre Weigerung mißachten und sie einfach an sich ziehen wollte, schob sie seinen Arm zur Seite.»Laß mich«, sagte sie.»Geh, Indiana. Vielleicht ist es noch nicht zu spät für euch. Laß mich hier bei ihm.«

«Er ist es nicht wert, Marian«, sagte Indiana sanft.»Er ist es nicht wert, daß du einen Mord begehst, und schon gar nicht, daß du seinetwegen stirbst. «Er begriff es nicht. Er begriff, warum Marian hier war, und er verstand jetzt sogar, warum sie sich Ramos angeschlossen hatte, statt bei ihm und den anderen zu bleiben. Aber er verstand nicht, warum sie es getan hatte.

«Komm«, sagte er noch einmal und etwas eindringlicher.»Wir müssen weg hier. Dieses Ding da bringt uns um.«

Marians Blick folgte seiner Bewegung, verharrte für einen Moment auf dem hausgroßen Goldklumpen und kehrte dann wieder zur Gestalt ihres sterbenden Mannes zurück.»Ich wollte ihn umbringen, Indiana«, flüsterte sie, als hätte sie gar nicht gehört, was er gesagt hatte.»Er hat mir mein Leben gestohlen. Er hat mich geschlagen und gedemütigt und mir ein Leben aufgezwungen, das ich nicht haben wollte. Und am Schluß hat er mich umgebracht. Ich wollte ihn töten. Ich dachte, ich würde hierherkommen, um ihn zu töten. Und jetzt kann ich es nicht. Und weißt du, warum? Weil ich ihn trotz allem noch liebe. Ist das nicht verrückt?«

«Wie meinst du das — er hat dich umgebracht?«fragte Indiana alarmiert.

Marian starrte sekundenlang an ihm vorbei ins Leere, dann blickte sie ihn an, hob langsam die Hand und griff in ihr Haar. Als sie die Finger wieder zurückzog, sah Indiana ein ganzes Büschel abgelöster Haare darin.

«Ich habe dich belogen, Indy«, sagte sie.»Ich wußte die ganze Zeit, was er gefunden hat. Er hat es mir erzählt, nachdem er zurückkam. Und er hat mir etwas mitgebracht. Ein Schmuckstück.«

Langsam hob sie die Hand und öffnete die drei oberen Knöpfe ihrer Bluse.

Indiana stöhnte auf, als er die Haut darunter sah. Zwischen ihren Brüsten waren die Umrisse eines Eichenblattes zu erkennen, das sie an einer Kette um den Hals getragen haben mußte. Das Schmuckstück war nicht mehr da, aber es hatte seinen Schatten zurückgelassen: Er hatte sich tief in ihre Haut eingebrannt, so daß an einigen Stellen das rohe, entzündete Fleisch zutage getreten war.

«Mein Gott, Marian!«flüsterte Indiana.»Das … das wußte ich nicht. Wieso hast du nichts gesagt? Vielleicht … vielleicht hätte man ja etwas …«Seine Stimme versagte. Ein bitterer Kloß saß plötzlich in seiner Kehle, und er fühlte sich so hilflos und allein wie niemals zuvor im Leben.

«Es war ein so wunderschönes Geschenk«, murmelte Marian.»Ich habe so etwas Schönes nie zuvor gesehen. Und er war so verändert. Er war ein völlig anderer Mensch, Indiana. Wir haben uns versöhnt. Ich meine, wirklich versöhnt. Er hat es nicht einfach nur so gesagt, wie zuvor. Ich habe gespürt, daß er es ehrlich meint. Er hat geschworen, nur noch diese eine Reise zu unternehmen und sich zu ändern. «Sie lächelte bitter.»Er hat mir versprochen, mir ein Haus aus Gold zu bauen, wenn ich bei ihm bleibe.«

Aber jetzt würde es ein Grab werden, dachte Indiana. Aus Augen, die sich gegen seinen Willen mit Tränen füllten, blickte er die furchtbare Wunde auf Marians Brust an. Er wußte, daß sie tödlich war. Es war ein Wunder, daß Marian überhaupt noch lebte. Trotzdem sagte er:»Komm mit uns, Marian. Wir … wir gehen zu einem Arzt. Ich suche dir den besten Spezialisten, den es gibt. Es ist noch nicht zu spät.«

Marian hörte seine Worte gar nicht. Obwohl noch immer Tränen über ihr Gesicht liefen, lächelte sie plötzlich, dann drehte sie sich um, beugte sich zu ihrem bewußtlosen Mann hinab und berührte sein zerstörtes Gesicht mit den Fingerspitzen.

Nach einer Weile stand Indiana leise auf, entfernte sich behutsam zwei, drei Schritte von Marian und drehte sich dann lautlos um, um mit schnellen Schritten und ohne ein einziges Wort zu sprechen zum Waldrand zurückzugehen. Er bemerkte nicht einmal, daß Marcus ihm folgte. Bis sie den Rand des Waldes erreicht hatten und in den alles verschlingenden Nebel eintauchten, der das Geheimnis von El Dorado seit mehr als fünfzig Millionen Jahren wie ein getreuer Paladin bewachte. Und es auch für weitere fünfzig Millionen Jahre tun würde. Vielleicht bis ans Ende der Welt.

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