Epilog Drei Tage später

Sie erreichten den Fluß und mit dem letzten Licht der Sonne die Stromschnellen, deren monotones Dröhnen ihnen während der letzten Stunden den Weg gewiesen hatte. Der Rumpf des gekenterten Bootes ragte noch immer wie der Rücken eines silbernen Riesenfisches aus dem Wasser, und am Ufer, nicht sehr weit davon entfernt, erkannte Indiana eine Anzahl winziger Gestalten, die sich um ein loderndes Feuer drängten; sieben oder acht, die meisten in zerschlissene, grünbraun gefleckte Tarnanzüge gehüllt, zwei aber auch in khakifarbenen Tropenuniformen, die Indiana sonderbar unpassend vorkamen. Zu seiner Überraschung erkannte er auch Henley unter den Männern. Offensichtlich hatte er sich schneller erholt, als zu erwarten gewesen war; oder die Aymará hatten ihn auf einem anderen Weg hierhergebracht.

Indiana erinnerte sich kaum noch, wie und auf welchem Weg sie das Tal verlassen hatten; vielleicht zum ersten Mal, seit sie sich kannten, war es Marcus gewesen, der ihm hatte helfen müssen, und nicht umgekehrt. Zwei- oder dreimal hatte er geglaubt, einen Schatten zu sehen, der sich irgendwo in der grauen Unendlichkeit vor ihnen bewegte, und einmal hatten sie einen Schrei gehört, so entsetzlich, daß er ihnen schier das Blut in den Adern gerinnen ließ. Sie hatten keinen Menschen gesehen, weder auf dem Rückweg vom Berg hinab noch später bei ihrem Marsch durch den Dschungel. Aber sie waren nicht allein gewesen. Einmal hatten sie am Morgen eine Schale mit frischem Wasser und gebratenem Fisch neben sich vorgefunden, und das Gefühl, beobachtet zu werden, hatte sie die ganze Zeit über begleitet.

Es waren die schlimmsten drei Tage seines Lebens gewesen.

Zu dem Schmerz über Marians Tod und — zu Indianas eigener Verwunderung — auch einem tiefen, trauernden Bedauern über den von Stanley, hatte sich bald körperliche Erschöpfung und in der ersten Nacht Fieber gesellt, das ihnen beiden Schüttelfrost und eine heftige Übelkeit bereitete. Am nächsten Morgen fühlten sie sich beide so ausgelaugt und erschöpft, als hätten sie einen Zwanzig-Meilen-Marsch durch den Dschungel hinter sich.

Aber es war besser geworden. Sie hatten einen kleinen Fluß gefunden und ausgiebig gebadet, und Indiana hoffte jetzt, daß sie der Strahlung des tödlichen Göttergeschenks nicht lange genug ausgesetzt gewesen waren, um nachhaltige Schäden davonzutragen. Alles in allem hatten sie sich ja kaum zwei Stunden in dem verbotenen Tal aufgehalten — und sie hatten den riesigen Brocken in seinem Herzen nicht berührt, wie es Ramos und seine Leute getan hatten. Keiner von ihnen würde überleben, das wußte Indiana. Vermutlich waren sie jetzt bereits alle tot.

Einige der Gestalten am Feuer sahen auf, als sie ihre Schritte hörten. Überraschte Rufe wurden laut, und als Indiana und Marcus ans Flußufer traten, erhob sich Reuben und kam ihnen entgegen. Einen Augenblick später folgte ihm Henley, humpelnd und mit schmerzverzerrtem Gesicht, aber offensichtlich schon wieder fast im Vollbesitz seiner Kräfte. Die Heilmagie des Aymará schien wahre Wunder vollbracht zu haben.

«Jones!«rief Reuben überrascht, als er Indiana und Marcus erreichte.»Gott sei Dank, Sie sind am Leben. Beide!«Ein verwirrter Ausdruck breitete sich auf seinem Gesicht aus, aber Indiana sah auch, wie müde und erschöpft der FBI-Mann war.»Wo kommen Sie her?«murmelte er.»Was … was ist mit Ramos und den anderen? Wie sind Sie ihnen entkommen?«

«Ramos ist tot«, antwortete Marcus.»Er und alle seine Männer. Und ich wäre es auch, wenn Indiana nicht gewesen wäre.«

«Und Mrs. Corda?«

«Auch«, sagte Indiana leise.»Wir sind die einzigen, die es geschafft haben.«

«Das … das tut mir leid«, sagte Reuben leise. Das Bedauern in seiner Stimme klang ehrlich.»Aber jetzt erzählen Sie, Jones — was ist passiert? Wie sind Sie Ramos und seiner Bande entkommen?«

Indiana zögerte. Einen Moment lang betrachtete er unschlüssig Reuben und den zweiten FBI-Beamten, dann blickte er eine Weile das umgeschlagene Boot im Fluß an, ohne zu antworten.

Reuben folgte seinem Blick, und seine Miene verdüsterte sich noch weiter.»Wir haben verdammtes Glück gehabt, Jones«, sagte er und beantwortete eine Frage, die Indiana gar nicht gestellt hatte.»Das Boot hat sich losgerissen und ist in die Strömung geraten. Ich sage Ihnen — es war die reinste Höllenfahrt. Daß keiner von uns draufgegangen ist, ist ein Wunder. «Er seufzte.»Aber ich fürchte, sehr weit kommen wir mit diesem Schiff nicht mehr.«

Indiana registrierte im letzten Moment Marcus’ warnenden Blick und schluckte die verblüffte Antwort hinunter, die ihm auf der Zunge lag.»Das … ist auch nicht nötig«, sagte er statt dessen. Er zwang sich zu einem Lächeln.»Ich fürchte nur, der Rückweg wird ziemlich anstrengend werden, zu Fuß.«

Reuben runzelte die Stirn.»Nicht nötig? Wie meinen Sie das? Sie …«Er stockte.»Sie haben El Dorado gefunden?«fragte er fassungslos.»Sie waren da?«

Indiana zögerte erneut. Es war offensichtlich, daß sich Reuben an nichts mehr erinnern konnte; sowenig wie Henley oder einer der anderen Männer. Sonderbar, dachte er, daß der Alte ihm das Gedächtnis gelassen hatte.

«Ja«, sagte er schließlich.»Wir waren da. Es ist nicht einmal mehr besonders weit von hier.«

«Wo liegt es?«fragte Henley erregt.»Was ist El Dorado, Jones? Existiert es wirklich?«

«Nein«, antwortete Indiana lächelnd.»Es ist nur eine Legende, Henley. Kein Gold. Nichts, was von irgendeinem Interesse wäre. Für niemanden auf der Welt.«

Während Henley und Reuben ihn gleichermaßen verwirrt wie enttäuscht ansahen, drehte Indiana sich noch einmal um und sah zum Waldrand zurück. Wieder hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden, und diesmal war es zu intensiv, um es als Einbildung abzutun.

Und für einen winzigen Moment glaubte er, eine Gestalt zu sehen, vielleicht auch nur den Schatten einer Gestalt, klein und schmal und sehr alt, der ihn für einen kurzen Moment ansah und dann die Hand zum Gruß hob, ehe er wieder im Wald verschwand.

«Nur eine Legende«, sagte er noch einmal.»Nicht mehr.«

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