14. Juni 1943

Obwohl er nach den Ereignissen der letzten Tage eigentlich bereits Übung im Niedergeschlagenwerden hätte haben müssen, erwachte er auch das nächste Mal wieder mit den schlimmsten Kopfschmerzen seines Lebens. Helles Sonnenlicht stach wie mit Nadeln in seine Augen, als er die Lider hob, und in seinem Hinterkopf saß ein häßlicher Zwerg und schwang einen gewaltigen Schmiedehammer. Indiana vermutete, daß es wohl der gleiche Zwerg wie am Abend zuvor war; schon weil es die gleiche Faust gewesen war, die ihn auf die gleiche Art und Weise ins Land der Träume befördert hatte. Immerhin, dachte er sarkastisch, hatte er eine gute Chance, daß es nicht noch schlimmer werden konnte. Wenn er Ramos’ Riesenbaby noch ein paarmal auf die gleiche Weise begegnete, würde er mit Sicherheit bald eine Hornhaut im Nacken haben.

Vorsichtig versuchte er, sich aufzusetzen. Das Hämmern in seinem Schädel hielt an, aber er registrierte jetzt zumindest, wo er war — nicht mehr in Ramos’ Lagerhalle, sondern in seinem eigenen, total verwüsteten Wohnzimmer.

Stöhnend hob er die Hände, verbarg für einen Moment das Gesicht zwischen den Fingern und wartete darauf, daß das dumpfe, rhythmische Dröhnen zwischen seinen Schläfen endlich nachließ. Aber es geschah nicht, und nach einigen weiteren Sekunden begriff er endlich, warum das so war. Das Hämmern war nicht in seinem Schädel, sondern es kam von außerhalb — von der Tür her. Mit einer Bewegung, auf die sein mißhandelter Kopf mit neuerlichen, wütenden Schmerzen und einem heftigen Schwindelgefühl reagierte, sah er auf, überlegte einen Moment und stemmte sich dann unsicher in die Höhe. Indiana war noch viel zu benommen, um überhaupt darüber nachzudenken, wer dort vor der Tür stehen mochte; aber das Klopfen klang hektisch. Mehr taumelnd als gehend schleppte er sich zur Tür, brauchte zwei Versuche, um den Knauf zu ergreifen und herumzudrehen, und zog sie einen Spaltbreit auf.

Einen Sekundenbruchteil später wurde sie mit einem Ruck, der ihn um ein Haar aus dem Gleichgewicht gebracht hätte, vollends aufgestoßen, und Pat und Patachon marschierten herein. Während der Kleine einfach an ihm vorüberstampfte und sich mit einer Mischung aus Mißtrauen und kaum verhohlener Schadenfreude in dem verwüsteten Zimmer umsah, schlug Reuben die Tür mit einem Knall wieder zu, der Indianas Schädel vollends zum Platzen zu bringen schien, und baute sich herausfordernd vor ihm auf.

«Guten Morgen, Dr. Jones«, sagte er mit ironischer Betonung.

«Was soll an diesem Morgen gut sein?«nuschelte Indiana. Er hob die Hand, preßte Daumen und Zeigefinger für einen Moment auf die Augen und versuchte, den Schmerz wegzublinzeln, ohne daß es ihm gelang.

«Das muß ja eine wüste Party gewesen sein, gestern abend«, sagte Henley gehässig. Er drehte sich um und blickte Indiana herausfordernd an.»Oder hatten Sie Besuch?«

«Möglicherweise Besuch, der uns interessiert?«fügte Reuben hinzu.

Indiana schenkte den beiden einen bösen Blick, tastete sich unsicher zur Küche vor und versuchte mit zitternden Händen, den Gasherd in Gang zu setzen, um einen Kaffee zu brühen. Reuben sah ihm einen Moment lang dabei zu, schob ihn dann mit einem wortlosen Kopfschütteln beiseite und entzündete die Flamme mit einem kleinen goldenen Feuerzeug, das er aus seiner Tasche holte. Offensichtlich war er zu dem Schluß gekommen, daß Indiana im Moment gute Chancen hatte, das Haus in die Luft zu sprengen.

Indiana lächelte dankbar und etwas gequält, nahm die Dose mit vorgemahlenem Kaffee vom Bord und versuchte vergeblich, mit zitternden Fingern den Verschluß zu öffnen. Reuben schüttelte abermals den Kopf, nahm ihm die Dose aus der Hand und übernahm auch diese Arbeit. Indiana sah ihm mit wachsender Verwunderung zu.»Wieso diese plötzliche Freundlichkeit?«

«Setzen Sie sich hin, Dr. Jones«, sagte Reuben.»Ich mache das hier schon.«

Indiana verzichtete auf eine Antwort, sondern tat, was der FBI-Mann ihm geraten hatte, und schleppte sich ins Wohnzimmer zurück.

Je klarer sein Kopf wurde, desto deutlicher begriff er das Ausmaß der Verwüstung, der sein Haus anheimgefallen war. Es waren nicht nur die Spuren eines Kampfes, die er sah. Mit Ausnahme der Couch, auf der er erwacht war, waren sämtliche Möbelstücke umgeworfen und zum größten Teil zerbrochen. In den Regalen stand kein einziges Buch mehr, und selbst die Bilder waren von den Wänden gerissen worden. Offensichtlich hatten Ramos’ Männer ihrer Zerstörungswut hier freien Lauf gelassen.

«Sie sehen nicht gut aus, Dr. Jones«, sagte Henley.

«Wenn ich so aussehe, wie ich mich fühle«, murmelte Indiana,»dann muß ich entsetzlich aussehen.«

«Das tun Sie tatsächlich«, erwiderte Henley sehr ernst.»Soll ich Ihnen einen Arzt rufen?«

Indiana widerstand im letzten Augenblick der Versuchung, den Kopf zu schütteln, und beließ es bei einem gemurmelten» nein«.

Henley zog die Augenbrauen zusammen, enthielt sich aber jeder Antwort, sondern steckte nur die Hände in die Jackentaschen und sah sich mit weiter gerunzelter Stirn um.»Ramos?«fragte er schließlich.

Einige Sekunden lang zögerte Indiana noch. Aber dann begriff er, wie sinnlos es wäre, weiter den Unwissenden zu spielen.»Was wissen Sie von Ramos?«fragte er.

«Wahrscheinlich mehr als Sie, Dr. Jones«, antwortete Reuben, der in diesem Moment mit einer Kanne Kaffee und drei Tassen aus der Küche balanciert kam. Er lud seine Last klirrend auf dem Tisch ab, sah sich vergeblich nach einer heilen Sitzgelegenheit um und fuhr nach einer Pause fort:»Wenn Sie uns gleich alles erzählt hätten, was Sie wissen, Dr. Jones, dann wäre Ihnen das hier vermutlich erspart geblieben. Und Ihre Kopfschmerzen auch.«

«Vermutlich«, gestand Indiana kleinlaut.»Ich glaube, es ist an der Zeit, mich zu entschuldigen.«

«Vergessen Sie es«, sagte Henley. Er lächelte schief.»Wissen Sie, wir sind das gewöhnt — die Leute mißtrauen uns meistens. Anscheinend ist das das Schicksal aller Polizisten. Die wenigsten begreifen, daß wir auf ihrer Seite stehen.«

Indiana griff unsicher nach der Tasse Kaffee, die Reuben ihm eingeschenkt hatte, nahm einen gewaltigen Schluck und wartete, bis die belebende Wirkung des Getränks einsetzte. Seine Kopfschmerzen wurden dadurch eher noch schlimmer, aber das Denken fiel ihm trotzdem jetzt leichter. Zumindest leicht genug, um sich einzugestehen, daß er sich — ganz vorsichtig ausgedrückt — den beiden gegenüber zum Narren gemacht hatte.»Wer ist dieser Ramos?«

Auch Reuben nahm einen Schluck Kaffee und verzog das Gesicht, so daß Indiana nicht sagen konnte, ob die Grimasse an dem Getränk oder an dem Namen lag, den er gehört hatte.»Ein ziemlich übler Bursche«, sagte er.»Wir wissen noch nicht besonders viel über ihn — aber was wir wissen, das reicht.«

«Er ist hier so etwas wie der ungekrönte Unterweltkönig«, fügte Henley hinzu.»Es gibt im Umkreis von fünfzig Meilen kaum ein krummes Geschäft, in dem er nicht seine Finger drin hat. Angefangen von Marihuana bis hin zu einem gekauften Killer können Sie alles von ihm haben — wenn Sie ihn bezahlen können.«

Reuben stellte seine Tasse ab und sah Indiana auf einmal ernst und fast besorgt an.»Sie haben Glück, daß Sie noch am Leben sind, Dr. Jones«, sagte er.»Wenn auch nur die Hälfte von dem stimmt, was wir über Ramos wissen, dann zählt für ihn ein Menschenleben nicht viel.«

«Ich weiß«, sagte Indiana.

Die beiden FBI-Männer tauschten einen verblüfften Blick.»Sie haben ihn gesehen?«fragte Henley.

Indiana nickte.

«Dann haben Sie uns etwas voraus«, fügte Reuben hinzu.»Wir wissen nicht einmal, wie er aussieht.«

«Oh, da haben Sie nicht viel versäumt«, murmelte Indiana und rettete sich durch einen weiteren Schluck aus seiner Tasse davor, weitersprechen zu müssen.

«Was wollte er von Ihnen?«, fragte Henley.

«Dasselbe wie Sie«, antwortete Indy.»Wissen, wo Professor Corda ist.«

«Haben Sie es ihm gesagt?«fragte Reuben.

«Ich weiß es nicht«, antwortete Indiana gereizt.

«Und selbstverständlich hätten Sie es ihm auch nicht gesagt, wenn Sie es wüßten«, sagte Reuben spöttisch.

Indiana starrte ihn böse an.»Das hätte ich sogar ganz bestimmt«, antwortete er.

Reubens Gesicht verdüsterte sich.»Wieso?«

«Weil er Marian hat«, antwortete Indiana.»Und Marcus Brody.«

Für einige Sekunden wurde es sehr still. Reuben sah plötzlich sehr aufmerksam aus, während Henley ehrlich betroffen wirkte.»Was soll das heißen?«fragte Reuben schließlich.

«Genau das, was ich gesagt habe«, knurrte Indiana.»Seine Männer haben Marcus und Marian Corda entführt. Und er hat mir drei Tage Zeit gegeben, Stanley Corda zu finden. Oder er wird sie beide umbringen.«

«Entführt?«vergewisserte sich Reuben noch einmal. Indiana war ein wenig verwirrt. Der FBI-Mann sah überhaupt nicht erschrocken oder zumindest betroffen aus, sondern beinahe zufrieden.

«Ja«, bestätigte Indiana.»Warum fragen Sie?«

«Weil uns das die Möglichkeit gibt, ganz anders vorzugehen«, antwortete Henley an Reubens Stelle.»Vergessen Sie nicht — wir sind FBI-Beamte. Unsere Befugnisse sind trotz allem eingeschränkt. Aber in einem Fall von Kidnapping können wir die örtliche Polizei übergehen. Wir finden Ihren Freund und Mrs. Corda, keine Sorge. Wo ist das Telefon?«

Indiana deutete mit einer Kopfbewegung auf das, was einmal sein Schreibtisch gewesen war.»Irgendwo dort«, sagte er.

Henley stand auf und begann unter durcheinandergeworfenen Papieren und zerrissenen Büchern nach dem Telefonapparat zu suchen. Indiana sah ihm einen Moment lang dabei zu, ehe er sich wieder an Reuben wandte.»Was hat ein Mann wie Stanley Corda mit Ramos zu tun?«

«Das fragen wir uns auch«, antwortete Reuben.»Wir …«Er zögerte. Einige Sekunden lang sah er seinen Kollegen fast hilflos an, und Indiana entging keineswegs das stumme Zwiegespräch mit Blicken, das sie in dieser Zeit führten. Dann nickte Henley fast unmerklich, und Reuben atmete tief und hörbar ein und begann von neuem.

«Wir werden ganz offen zu Ihnen sein, Dr. Jones. Jedenfalls, soweit uns das möglich ist. Es geht hier wahrhaftig nicht um ein paar gestohlene Kunstgegenstände oder ein ausgeräumtes Pharaonengrab. Wir wissen selbst noch nichts Genaues, aber es ist durchaus möglich, daß es sich um eine Angelegenheit von nationalem Interesse handelt. Ich muß Sie also zu absolutem Stillschweigen verpflichten.«

«Woher dieses plötzliche Vertrauen?«fragte Indiana, ohne direkt auf Reubens Worte zu antworten.

Der FBI-Mann wirkte jetzt doch ein bißchen verlegen. Er räusperte sich.»Nach unserem letzten Gespräch haben wir Erkundigungen über Sie eingezogen, Dr. Jones«, sagte er.»Wir wissen inzwischen, wer Sie sind, und vor allem, was Sie sind. «Er lächelte ein bißchen verlegen.»Ich denke, wir können Ihnen vertrauen.«

Henley hatte endlich das Telefon gefunden und begann eine Nummer zu wählen, und Reuben trank umständlich einen weiteren Schluck Kaffee, ehe er fortfuhr.»Was immer Professor Corda gefunden oder entdeckt oder gestohlen oder was auch immer hat, es muß sich um eine große Angelegenheit handeln.«

Indiana fuhr sich demonstrativ mit der Hand über den schmerzenden Nacken.»Den Eindruck hatte ich auch.«

Reuben schüttelte den Kopf.»Ich meine groß im wortwörtlichen Sinne«, sagte er.»Henley und ich waren nicht ganz untätig in den letzten Tagen. Wir wissen immer noch nicht, welche Rolle Ramos in dieser ganzen Angelegenheit spielt, aber wir wissen immerhin, was Professor Corda von ihm wollte.«

«Und was ist das?«fragte Indiana, als Reuben nicht von sich aus weitersprach.

Der FBI-Mann zuckte mit den Schultern.»Wenn ich es richtig sehe«, sagte er,»dann ist es die Ausrüstung für eine Expedition.«

Indiana sah ihn fragend an.

«Werkzeuge, Lebensmittel, Zelte, Waffen …«

«Und eine kleine Armee«, fügte Henley hinzu.

«Wie bitte?«

Reuben nickte betrübt.»Er hat sich ein Dutzend ziemlich übler Burschen von Ramos besorgen lassen«, sagte er.»Söldner, um genau zu sein. Ich nehme an, Sie kennen diese Art von Männern — Typen, die für Geld alles tun.«

Indiana schwieg verwirrt. Söldner? Es fiel ihm allerdings schwer, Reuben zu glauben. Er mochte Corda nicht, aber das, was der FBI-Mann da behauptete, klang einfach unglaublich. Stanley Corda war möglicherweise ein Dieb, aber niemand, der mit einem bewaffneten Trupp aufbrechen würde, um etwas zu rauben.

Doch dann erkannte er den Fehler in seinen Gedankengängen. Sie sprachen ja nicht über einen x-beliebigen Schatz. Was Corda gefunden hatte, das war kein altes Königsgrab, sondern El Dorado, das sagenumwobene Goldland. Vielleicht stimmte es ja, daß jeder Mensch seinen Preis hat.

Henley hatte seine Nummer zu Ende gewählt und begann mit leiser, sehr bestimmter Stimme zu sprechen, ohne daß Indiana genau verstehen konnte, was er sagte.»Wenn Sie das alles wissen«, wandte er sich an Reuben,»dann wissen Sie ja vielleicht auch, wohin Stan wollte.«

«Natürlich«, antwortete Reuben.»Er hat für sich, seine zwölf Begleiter und die Ausrüstung eine Schiffspassage nach São Paulo gebucht. Für den einundzwanzigsten.«

«Das ist in einer Woche.«

«Ich weiß«, antwortete Reuben leicht ungeduldig.»Aber Corda ist seit zwei Tagen verschwunden. Ebenso wie die Männer, die er angeheuert hat. Und die komplette Ausrüstung. Offenbar hat er Ramos nicht getraut. Die Passage und alles andere diente nur dem Zweck, ihn über sein wahres Ziel zu täuschen.«

«Aber dreizehn Männer und ein ganzer Lastwagen voller Ausrüstung können doch nicht einfach so verschwinden«, sagte Indiana.

«Genau dasselbe dachte Ramos offensichtlich auch«, antwortete Reuben.»Aber er hat sich getäuscht. Sie sind allesamt wie vom Erdboden verschluckt.«

Henley hatte sein Telefongespräch beendet und kam zurück.»In spätestens drei Stunden wimmelt es hier von FBIBeamten«, sagte er.»Wir finden Mrs. Corda und Mr. Brody, keine Sorge.«

Indiana war in diesem Punkt nicht ganz so optimistisch. Wenn er eines begriffen hatte bei seinem ersten Zusammentreffen mit Ramos, dann das, daß dieser Mann vielleicht durch und durch schlecht, aber auch sehr intelligent war. Er war hundertprozentig davon überzeugt, daß Ramos sein Haus beobachten ließ.

104

«Sicher«, sagte Reuben, als Indiana ihm seine Besorgnis mitteilte.»Sie stehen auf der anderen Straßenseite. Zwei Trottel in einem alten Ford, die sich einbilden, unsichtbar zu sein.«

«Und Sie unternehmen nichts?«wunderte sich Indiana.

Reuben lächelte.»Warum sollten wir? Solange sie nicht wissen, daß wir wissen, daß sie da sind, sind sie nicht gefährlich. Im Gegenteil.«

«Aha«, sagte Indiana.

«Wir lassen die beiden außerdem beobachten«, fügte Henley erklärend hinzu. Er sah auf die Uhr.»Sie sollten sich allmählich fertigmachen, Dr. Jones. Ihre Vorlesung beginnt in einer knappen Stunde. Solange Ramos nicht weiß, daß Sie mit uns zusammenarbeiten, müssen Sie sich ganz normal benehmen.«

Reuben stand auf.»Wir gehen jetzt«, sagte er.»Oder noch besser — werfen Sie uns raus. Aber so, daß diese beiden Trottel dort drüben es sehen.«

«Wir wollen doch nicht, daß unser Freund Ramos am Ende noch denkt, Sie würden mit uns zusammenarbeiten«, fügte Henley hinzu. Er lächelte, aber seine Augen blieben kalt wie Glas, und Indiana las eine unausgesprochene Frage darin.

Er beantwortete sie nicht.

Aber es fiel ihm auch nicht sehr schwer, die beiden FBIMänner so demonstrativ aus dem Haus zu werfen, daß selbst ein Blinder begreifen mußte, daß sie nicht unbedingt seine Freunde waren. Und er war nicht einmal selbst ganz sicher, ob er den Zorn in seiner Stimme und seinen Gesten tatsächlich nur gespielt hatte.

Er hatte eine weitere Tasse des entsetzlichen Kaffees heruntergewürgt, den Reuben gebraut hatte, bis ihm endlich klarwurde, daß es Samstag war und es somit keine Vorlesung gab, zu der er pünktlich erscheinen mußte. Aber die Vorstellung, die nächsten Stunden mit nichts anderem verbringen zu müssen als damit, darauf zu warten, daß das Telefon klingelte oder die FBI-Männer zurückkamen, war ihm schier unerträglich. Außerdem wußte er einfach, daß es für Marian und Marcus keine Rettung gab, wenn er sich auf Pat und Patachons Methoden verließ. Er zweifelte nicht an den Fähigkeiten der beiden FBI-Beamten, aber er spürte, daß sie bei Ramos versagen würden.

Der Mann war mehr als ein Verbrecher. Er war verrückt, ein Wahnsinniger ohne die Spur eines Gewissens, der nicht nur körperlich, sondern auch geistig verkrüppelt war, aber er war zugleich auch hochintelligent und auf eine subtile Art gefährlich. Auf eine Art, die auch Indiana nicht mit Worten beschreiben konnte, die er aber überdeutlich gespürt hatte. Selbst jetzt lief ihm noch ein eisiger Schauer über den Rücken, wenn er an sein Zusammentreffen mit dem Blinden dachte.

Und außerdem war es nie seine Art gewesen, einfach dazusitzen und die Hände in den Schoß zu legen. Er mußte irgend etwas tun. Aber was?

Unschlüssig und nervös ging er zur Tür, schob die Gardine vor dem schmalen Fenster daneben behutsam ein Stück zur Seite und sah auf die Straße hinaus. Er entdeckte Ramos’ Männer sofort. Sie waren noch da und benahmen sich tatsächlich so ungeschickt und auffällig, wie Reuben behauptet hatte. Aber eigentlich, fand Indiana, war das sonderbar. Ramos war alles andere als ein Dummkopf. Wenn er ihn beschatten ließ, dann bestimmt von Männern, die ihren Job verstanden. Diese beiden Trottel dort drüben benahmen sich so ungeschickt, daß man schon blind hätte sein müssen, um sie nicht zu bemerken.

Es sei denn, er sollte sie sehen.

Noch einmal und aufmerksamer ließ er seinen Blick über die Straße schweifen. Aber er entdeckte nichts Auffälliges. Wenn Ramos einen dritten Mann geschickt hatte, um ihn zu beobachten, dann benahm sich dieser sehr viel geschickter als die beiden in dem Wagen dort drüben.

Indiana ließ die Gardine wieder zurückgleiten, trat von der Tür weg und sah sich in seinem total verwüsteten Wohnzimmer um. Er war plötzlich nicht mehr sicher, ob all diese Verheerung hier wirklich nur Ausdruck bloßer Zerstörungswut war. Ramos’ Leute hatten tatsächlich alles kurz und klein geschlagen, was sich irgendwie zerstören ließ, aber wenn man genauer hinsah, dann erkannte man auch, daß sie dieses Zimmer — ebenso wie den Rest des Hauses — bis auf den letzten Winkel durchsucht hatten. Aber warum? Und vor allem — wonach?

Er wußte die Antwort, noch ehe er den Gedanken völlig zu Ende gedacht hatte. Und fast im gleichen Moment wußte er auch, was sie bisher alle übersehen hatten.

Es war beinahe schon lächerlich: Die beiden Ganoven in ihrem Wagen gaben sich nicht einmal Mühe, in irgendeiner Weise unauffällig zu sein. Ihr Wagen folgte dem Ford von Indiana so dicht, daß er zweimal fast damit rechnete, sie würden auf ihn auffahren. Bei der dritten Ampel, an der Indiana halten mußte, widerstand er nur noch mit Mühe der Versuchung, auszusteigen und den beiden vorzuschlagen, der Einfachheit halber gleich bei ihm mitzufahren.

Als er den halben Weg zur Universität zurückgelegt hatte, entdeckte er schließlich den zweiten Wagen. Es war ein grauer Kombi mit der Aufschrift einer Wäscherei auf der Seite, der ihnen in großem Abstand und so unauffällig folgte, daß Indiana anfangs nicht einmal sicher war, ob es sich tatsächlich um ein zweites Beschatter-Team handelte. Aber der Wagen blieb hinter ihm und seinen» Schatten«, selbst als Indiana schließlich vom direkten Weg abwich und willkürlich um ein paar Blocks kurvte. Als er wieder auf die Hauptstraße einbog, entdeckte er den Kombi in einer halben Meile Abstand im Rückspiegel.

Er parkte den Wagen auf der Straße vor der Universität, stieg aus und widerstand diesmal nicht mehr der Versuchung, den beiden Deppen, die ihm folgten, freundlich zuzuwinken, ehe er mit einem großen Schritt über das »Rasen betreten verboten!«-

Schild hinwegtrat und quer über die sorgfältig manikürte Wiese auf das Universitätsgebäude zuging. Für einen Moment rechnete er beinahe damit, daß die beiden ihm einfach hinterherfahren würden, aber so weit ging die Dreistigkeit seiner Verfolger dann doch nicht. Als er die Treppe hinaufging und das Gebäude betrat, fuhr der graue Lieferwagen im Schrittempo auf der Straße vorbei und verschwand hinter der nächsten Biegung.

Obwohl Samstag war und die Semesterferien bereits ihre Schatten vorauswarfen, herrschte auf dem Campus und auch hier drinnen noch ein reges Kommen und Gehen. Studenten bevölkerten die Flure, standen in großen und kleinen Gruppen herum und redeten oder strebten der Bibliothek oder einem der Lesesäle zu, und Indiana begegnete auch einigen seiner Kollegen. Zweimal bereitete es ihm einige Mühe, nicht in ein Gespräch hineingezogen zu werden, und einmal machte er im letzten Moment eine blitzschnelle Wendung nach rechts und floh in einen verwaisten Hörsaal, als er Grisswalds Gestalt am oberen Ende der Treppe vor sich auftauchen sah. Aber schließlich erreichte er doch unbehelligt sein Ziel: Stanley Cordas Büro.

Und diesmal war das Glück ausnahmsweise einmal auf seiner Seite — sogar gleich zweimal. Cordas Büro war nicht abgeschlossen, und der makellos aufgeräumte Schreibtisch seiner Sekretärin verriet, daß sie an diesem Morgen nicht zum Dienst erschienen war.

Indiana warf einen sichernden Blick auf den Flur hinaus, zog die Tür hinter sich zu und begann dann rasch, aber sehr gründlich, Stanley Cordas Schreibtisch zu durchsuchen.

Er brauchte sehr lange dazu, denn das Dutzend Schubladen war bis zum Bersten vollgestopft. Aber sein anfänglicher Optimismus wurde bald schwächer und schlug schließlich in Enttäuschung um, denn er fand nichts, was ihm irgendwie weiterhalf. Wie es aussah, beschränkte sich der Inhalt dieses Schreibtisches ausschließlich auf Cordas Arbeit hier an der Universität. Schließlich gab er enttäuscht auf, beseitigte das Chaos, das er angerichtet hatte, so gut er konnte, und ging wieder zur Tür. Er streckte die Hand nach der Klinke aus, zog sie wieder zurück und drehte sich noch einmal um, um sich diesmal dem Arbeitsplatz von Stans Sekretärin zuzuwenden. Vielleicht …

Er fand fast auf Anhieb, wonach er gesucht hatte, und es war beinahe schon zu leicht. Auf dem obersten Blatt des aufgeschlagenen Terminkalenders, das das Tagesdatum zeigte, waren eine Telefonnummer und die Worte: Dr. Benson, 14.30 Uhr notiert.

Aufgeregt streckte Indiana die Hand aus, um das Blatt kurzerhand herauszureißen, besann sich dann aber eines Besseren und suchte in der Schublade nach einem Blatt Papier und einem Stift, um sich Telefonnummer und Namen des Arztes aufzuschreiben. Er hatte keinen Beweis, daß ihm sein Fund weiterhalf, aber er erinnerte sich plötzlich zweier Dinge, denen er bisher kaum Beachtung geschenkt hatte: Reubens Bemerkung, daß mehrere von Stans» Kunden «krank geworden seien, und Marians kaum merklichem Zusammenzucken, als er Marcus in ihrer Gegenwart davon erzählte.

Indiana war so sehr mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, daß er weder das Geräusch der Tür registrierte, die sich leise hinter ihm öffnete, ohne wieder geschlossen zu werden, noch die Schritte, die sich ihm ebenso leise näherten und kaum einen Meter hinter ihm stockten.

«Was tun Sie da, Dr. Jones?«

Indiana fuhr wie von der Tarantel gestochen herum und spannte sich, auf einen Angriff gefaßt. Aber hinter ihm standen weder Reuben noch Henley noch einer von Ramos’ Schlägern. Trotzdem war ihm der Anblick der dunkelhaarigen, in einen maßgeschneiderten grauen Anzug gehüllten Gestalt mindestens ebenso unangenehm.

«Ich wiederhole meine Frage, Dr. Jones«, sagte Grisswald.»Was tun Sie da?«Der Blick seiner ärgerlich funkelnden Augen irrte zwischen Indianas Gesicht und dem Zettel in seiner rechten Hand hin und her.

«Nichts«, antwortete Indiana unsicher.

«Nichts?«Grisswalds Stirnrunzeln wurde noch tiefer. Anklagend deutete er mit dem Zeigefinger auf Indianas rechte Hand, die vergeblich versuchte, den kleinen Zettel vor seinen Blicken zu verbergen.»Das da sieht mir nicht nach nichts aus.«

Indiana entspannte sich wieder ein wenig und zog eine leichte Grimasse.»Das ist privat«, sagte er.

«Privat, so?«Grisswalds Zorn erlosch und machte einem überheblichen Lächeln Platz.»Falls es Ihrer Aufmerksamkeit bisher entgangen ist, Dr. Jones«, sagte er mit einem süffisanten Grinsen,»Sie befinden sich hier auf dem Gelände der Universität. Nichts, und ich betone: gar nichts, was hier vorgeht, ist in irgendeiner Weise privat. «Er streckte herausfordernd die Hand aus.»Bitte, händigen Sie mir diesen Zettel aus.«

«Ich sagte bereits, es ist privat«, beharrte Indiana stur.

«Und ich sagte — «

Grisswald kam nicht dazu, den Satz zu Ende zu bringen, denn in der geöffneten Tür hinter ihm erschienen plötzlich zwei Gestalten. Und auch wenn Grisswald nichts sah, so registrierte er doch den erschrockenen Ausdruck auf Indianas Gesicht und drehte sich instinktiv herum — um mit einem fast komisch klingenden Schreckenslaut einen Schritt zurück und gegen Indiana zu prallen, die Hände in Schulterhöhe erhoben. Sein Erschrecken galt allerdings weniger dem Anblick der beiden Männer in der offenen Tür als vielmehr der abgesägten Schrotflinte, mit der einer der beiden auf ihn zielte.

«Was …?«krächzte Grisswald.

«Schnauze!«unterbrach ihn einer der beiden grob. Es war der mit dem Gewehr. Indiana erkannte ihn jetzt als einen der beiden, die ihm im Wagen gefolgt waren. Der unsauber abgesägte Doppellauf seiner Flinte fuchtelte einen Moment lang vor Grisswalds Gesicht herum und richtete sich dann auf Indianas Magen.

«Aber uns werden Sie Ihren Fund doch aushändigen, oder?«fragte er feixend. Sein Zeigefinger fummelte nervös am Abzug herum, und Indiana versuchte vergeblich, einen Schritt zurück und zur Seite zu machen, um aus der direkten Schußlinie zu gelangen. Es ging nicht. Hinter ihm stand der Schreibtisch und vor ihm Grisswald, der noch dazu auf seinem Fuß stand und ihn mit dem Absatz an den Boden nagelte. Der Schmerz trieb Indiana fast die Tränen in die Augen.

«Wer … wer sind Sie?«krächzte Grisswald.»Was fällt Ihnen ein —?«

Es schien sein Fluch zu sein, an diesem Morgen keinen Satz ganz zu Ende bringen zu können, denn der Bursche mit dem Gewehr schüttelte mit einem lautlosen Seufzen den Kopf, machte eine fast beiläufige Bewegung und rammte Grisswald den Lauf seiner Waffe in den Magen. Mit einem keuchenden Schmerzenslaut klappte der Dekan zusammen, fand im letzten Moment Halt an der Tischkante und blieb gekrümmt und vor Schmerz stöhnend stehen — allerdings noch immer, ohne den Fuß von Indianas Zehen zu nehmen.

«Also?«fuhr der Gangster mit einer herausfordernden Handbewegung fort.»Was haben Sie da, Jones?«

«Das nutzt Ihnen nichts«, sagte Indiana.»Was soll dieser. Überfall? Ich habe Ramos mein Wort gegeben — «

Auch er wurde unterbrochen.»Vielleicht glaubt Ihnen Mr. Ramos aber nicht«, erklärte der Bursche mit dem Gewehr grinsend.»Geben Sie schon her!«

«Damit können Sie überhaupt nichts anfangen«, beharrte Indiana auf seiner Einschätzung, und vom Flur her fügte eine Stimme hinzu:

«Aber wir vielleicht.«

Die beiden Ganoven drehten sich verblüfft um — und erstarrten ebenso wie Grisswald vor ihnen, denn nun waren sie es, die direkt in die Läufe zweier großkalibriger Pistolen starrten, die sich vom Korridor her auf ihre Gesichter richteten. Die dazugehörigen Hände ragten aus den Ärmeln dunkelblauer, maßgeschneiderter Anzüge, die zwei auffallend große, breitschultrige Gestalten verhüllten. Einer der beiden Männer schob sich jetzt ins Zimmer, wobei er genau darauf achtete, weder Grisswald noch Indiana zwischen sich und die beiden Gangster geraten zu lassen, während der andere, seine Pistole unverrückbar weiter auf die Stirn des Mannes mit dem Schrotgewehr (das übrigens noch immer auf Indianas Magen gerichtet war) haltend, mit der freien Hand ein schmales Lederetui aus der Tasche zog und es aufklappte. Es enthielt einen Ausweis der gleichen Art, wie Indiana ihn schon bei Reuben gesehen hatte.

«FBI?«fragte Indiana überrascht.

Ein flüchtiges Lächeln huschte über das Gesicht des Agenten und erlosch so schnell, wie es gekommen war, während er mit einer gekonnten Bewegung die kleine Ledermappe wieder zuklappte und sie gleichzeitig in der Tasche verschwinden ließ.»Special Agent Reuben war der Meinung, daß es sicherer sei, wenn wir ein bißchen auf Sie aufpassen«, sagte er. Mit einer Kopfbewegung auf die beiden Gangster fügte er hinzu:»Sieht so aus, als hätte er recht gehabt.«

Der graue Lieferwagen, dachte Indiana. Also hatte er sich doch nicht getäuscht.

«Was haben Sie gefunden, Dr. Jones?«fragte der FBI-Mann.

«Das ist wirklich nichts«, sagte Indiana.»Ich bin nicht einmal sicher, ob — «

Er brach mitten im Wort ab, als hinter dem FBI-Mann ein riesiger Schatten erschien, einen ebenso riesigen Arm von hinten um dessen Hals schlang und ein noch riesigeres Messer mit der Spitze an seine Kehle setzte.

«Eine einzige falsche Bewegung, Freundchen«, sagte eine Stimme, die ebenso ungeschlacht und grob klang, wie der dazugehörige Körper aussah,»und ich lege dich um.«

Es war Ramos’ Leibwächter, der Zwei-Meter-zehn-Riese, mit dessen Fäusten Indiana schon mehrmals unangenehme Bekanntschaft geschlossen hatte.

Für eine halbe Sekunde erstarrte jede Bewegung im Raum. Das Messer des Gangsters war so fest gegen die Kehle des FBI-Agenten gedrückt, daß ein einzelner Blutstropfen aus seiner Haut quoll und in seinem Kragen versickerte, während dessen Pistole aber unverrückbar auf die Stirn des Ganoven gerichtet blieb, der mit dem Schrotgewehr auf Indianas Magen zielte. Der zweite FBI-Mann und der andere Gangster standen reichlich hilflos daneben und überlegten sichtlich, ob sie sich auf ihren Gegner stürzen oder das Klügere — nämlich gar nichts — tun sollten.

«Wenn Sie zustoßen, erschieße ich Ihren Kumpel«, sagte der FBI-Mann. Seine Stimme klang krächzend, weil Ramos’ Leibwächter seinen Kopf so weit in den Nacken bog, daß er kaum noch Luft bekam.

Der Riese grinste und ritzte seine Haut noch ein bißchen mehr.»Wer sagt dir, daß mich das stört?«fragte er.

«Ich«, sagte Reuben, der auf Zehenspitzen hinter dem Riesen erschienen war, holte mit seiner Waffe aus und schlug ihm den Knauf mit aller Kraft in den Nacken. Der Riese stolperte nach vorne, ließ sein Messer fallen — allerdings erst, nachdem es einen langen, blutenden Schnitt in der Haut des Agenten hinterlassen hatte — und riß den FBI-Mann dabei halbwegs mit sich von den Füßen. Dessen Pistole entlud sich mit einem ohrenbetäubenden Knall, als sich sein Finger instinktiv um den Abzug krümmte. Die Kugel verfehlte das Gesicht des zweiten Ganoven um Millimeter, so daß der einen erschrockenen Hüpfer zur Seite machte, gegen Grisswald, seinen Kumpan und den zweiten FBI-Agenten prallte und den Abzug seiner eigenen Waffe durchzog. Die beiden Schrotladungen sausten so dicht an Indiana vorüber, daß er glaubte, ihren Luftzug zu spüren, und verwandelten den Schreibtisch hinter ihm in einen Trümmerhaufen. Und dann brach in dem winzigen Büro ein unbeschreibliches Chaos los.

Indiana versuchte die Tür zu erreichen, aber er kam nur wenige Schritte weit, denn Ramos’ Leibwächter war keineswegs außer Gefecht gesetzt, sondern hatte sich wieder auf die Knie erhoben und rang stumm, aber mit verbissener Wut mit Reuben und Henley zugleich, die sich auf ihn gestürzt hatten. Der Bursche mit dem Schrotgewehr war gegen Grisswald getaumelt und hatte ebenfalls Schwierigkeiten, wieder auf die Füße zu kommen, denn der Dekan klammerte sich mit aller Kraft an seine Beine, während der zweite FBI-Beamte und der letzte Ganove hinter dem zertrümmerten Schreibtisch zu Boden gefallen waren und sich ein wütendes Handgemenge lieferten; Indiana konnte nicht erkennen, wer von beiden die Oberhand gewann — er sah nur dann und wann eine Faust, ein Bein oder ein anderes Körperteil hinter dem Schreibtisch auftauchen und hörte die Geräusche eines verbissenen Kampfes.

«Jones!« kreischte Grisswald. »Helfen Sie mir!« Seine Stimme kippte vor Panik fast über. Der Bursche, den er gepackt hatte, versuchte sich mit aller Gewalt loszureißen, aber Grisswald klammerte sich mit der puren Kraft der Verzweiflung an seine Knie, zog und zerrte wie besessen daran und biß ihn schließlich herzhaft in die Wade. Der Bursche heulte vor Schmerz auf, versuchte Grisswald das Knie ins Gesicht zu rammen, verfehlte ihn und verlor durch die abrupte Bewegung vollends die Balance. Einen Moment lang stand er mit wild rudernden Armen und in einer fast grotesk nach hinten gebeugten Haltung da, dann ließ er sein Gewehr fallen, kippte vollends hintenüber und schlug schwer auf dem Boden auf. Indiana war mit einer blitzartigen Bewegung bei ihm, zerrte ihn am Kragen halb in die Höhe und versetzte ihm einen Schlag auf die Kinnspitze, der ihn die Augen verdrehen und bewußtlos zurücksinken ließ.

Grisswald hob stöhnend den Kopf, als Indiana neben ihm anlangte. Seine Nase blutete, und im ersten Moment war sein Blick verschleiert.

«Alles in Ordnung?«erkundigte sich Indiana besorgt.

Grisswald nickte, dann weiteten sich seine Augen erstaunt, als er den Bewußtlosen sah, über dessen Beine er immer noch lag.»Den hat es erwischt«, murmelte er fassungslos.

Indiana nickte — und duckte sich automatisch, weil er eine Bewegung aus den Augenwinkeln wahrnahm. Etwas Großes, heftig Zappelndes und Schreiendes flog über ihn hinweg, prallte gegen Cordas Besucherstuhl und zertrümmerte ihn. Der FBIAgent, der mit einem der Gangster gerungen hatte.

Indiana fuhr herum, sah den Ganoven hinter Cordas Schreibtisch wieder auftauchen und holte aus, um ihn mit einem Schlag außer Gefecht zu setzen, stolperte aber über den bewußtlosen Gangster zu seinen Füßen und kippte plötzlich seinerseits hilflos nach vorne. Mit wild rudernden Armen gelang es ihm, seinen Sturz im letzten Moment abzufangen, so daß er sich an den Überresten von Cordas Schreibtisch nicht sämtliche Zähne einschlug, sondern sich nur einen häßlichen Kratzer an der Stirn einhandelte. Aber diese kleine Verzögerung genügte dem Schläger, um mit einem kraftvollen Satz über das Möbelstück zu flanken und Indiana an der Kehle zu packen. Brutal riß er ihn in die Höhe, versetzte ihm einen Faustschlag ins Gesicht und drängte gleichzeitig sein Knie zwischen Indianas Beine, um ihm die Füße unter dem Leib wegzutreten.

«He!«

Der Gangster wandte verblüfft den Blick, und Grisswald schlug ihm die Faust unter das Kinn, sprang aber sofort mit einem Schmerzensschrei wieder zurück und umklammerte seine geprellte Hand, während der Schläger eher verwirrt als sonderlich beeindruckt dastand.

Aber er war für den Bruchteil einer Sekunde abgelenkt, und diese winzige Zeitspanne reichte Indiana, seinen Griff zu sprengen und ihm seinerseits das Knie in den Magen zu rammen. Der Bursche krümmte sich stöhnend — direkt in Indianas zum zweiten Mal hochgerissenes Knie hinein. Mit einem keuchenden Laut prallte er zurück und stürzte unmittelbar vor Grisswalds Füße.

Der Dekan starrte aus großen Augen auf ihn herab, blickte dann wieder seine bereits im Anschwellen begriffenen Fingerknöchel an und schüttelte immer wieder den Kopf.»Na so etwas«, murmelte er verstört.»Das ist — «

«Vorsicht!«

Indiana warf sich mit weit ausgebreiteten Armen auf Griss-wald und riß ihn von den Füßen; nur einen Sekundenbruchteil, bevor Henley, den Ramos’ Leibwächter gepackt und wie ein Spielzeug durch die Luft geschleudert hatte, ihn treffen konnte.

Aneinandergeklammert stürzten sie zu Boden. Grisswald begann abermals zu kreischen und um sich zu schlagen und zu treten, so daß es Indiana einige Mühe kostete, sich aus seiner Umklammerung zu befreien und wieder aufzurappeln.

Keine Sekunde zu früh.

Reuben und Henley schienen in der Einschätzung ihres Gegners kräftig danebengelangt zu haben, denn weder Reubens Schlag mit dem Pistolenknauf noch der gemeinsame Angriff danach hatten den Riesen wirklich außer Gefecht gesetzt. Er taumelte, und seine Bewegungen hatten etliches von ihrer Eleganz und Schnelligkeit eingebüßt, aber er hatte immer noch die Kraft eines Ochsen — und er kämpfte jetzt wie ein verwundeter Ochse, was ihn wahrscheinlich noch gefährlicher machte. Hen-ley lag halb bewußtlos und stöhnend in den Trümmern eines Bücherregals, in das ihn der Riese geschleudert hatte, und Reuben versuchte vergeblich, seine Waffe auf seinen Gegner zu richten. Die Schläge des Riesen prasselten so schnell und mit solcher Wucht auf ihn herunter, daß er alle Mühe hatte, sein Gesicht vor den ärgsten Treffern zu schützen, und hilflos vor dem Tobenden zurückwich.

Indiana sprang ihn mit weit ausgebreiteten Armen an, um ihn von den Füßen zu reißen. Der Riese wankte, aber er tat ihm nicht den Gefallen, zu stürzen, sondern schüttelte sich nur, so daß Indiana, der sich mit Armen und Beinen an ihn klammerte, wild hin und her geschleudert wurde. Aber immerhin verschaffte sein überraschender Angriff Reuben die winzige Atempause, die er brauchte, um aus der Reichweite des Riesen zu gelangen und seine Waffe in Anschlag zu bringen.

«Keine Bewegung mehr!«schrie er.»Nimm die Hände hoch!«

Der Riese erstarrte für einen halben Atemzug, dann hob er die Arme langsam in Schulterhöhe und trat einen Schritt zurück. Indiana, der noch immer an seinem Rücken hing und sich mit Armen und Beinen an ihm festklammerte, schien er nicht einmal zu bemerken.

«Zurück!«befahl Reuben, während er sich mit der linken Hand das Blut aus dem Gesicht wischte, das aus seiner Nase und seinen aufgeplatzten Lippen lief.»Weiter zurück! Und keine falsche Bewegung!«

Ramos’ Leibwächter machte einen weiteren Schritt rückwärts, streckte die Arme noch mehr in die Höhe und packte plötzlich die sechsarmige Lampe, die über Cordas Schreibtisch hing. Ohne sichtbare Anstrengung riß er sie ab, um sie auf den FBI-Agenten zu schleudern.

Reuben entging dem Wurfgeschoß mit einem verzweifelten Satz, verlor dabei jedoch die Balance und fiel schwer auf Hände und Knie. Die Pistole entglitt seinen Fingern und flog polternd davon, und der Riese sprang schon wieder mit einem zornigen Knurren auf ihn zu und trat nach seinem Gesicht. Er hätte zweifellos getroffen und Reuben das Genick gebrochen, hätte Indiana nicht in diesem Moment beide Arme von hinten um seinen Hals geschlungen und sich mit aller Kraft zurückgeworfen. Und das war selbst für diesen Burschen zuviel.

Er keuchte vor Schmerz und Wut, taumelte zurück und versuchte, diesen lästigen Gegner von seinem Rücken herunter-zupflücken. Seine Finger fuhren über Indianas Schultern und Hals und hinterließen brennende Kratzer in seiner Haut, aber Indiana verdoppelte nur seine Anstrengungen, den Kopf des Burschen in den Nacken zu drücken und ihm so die Luft abzuschnüren.

Reuben stemmte sich unsicher in die Höhe, ballte die Fäuste und stürmte los — direkt in einen Fußtritt des Riesen hinein, der ihn zum zweiten Mal — und jetzt halb bewußtlos — auf die Knie fallen ließ.

Aber die Bewegung raubte auch Ramos’ Leibwächter endgültig das Gleichgewicht. Hilflos und wie ein Stein stürzte er.

Nach hinten.

Indiana hatte das Gefühl, unter einem zusammenbrechenden Wolkenkratzer begraben zu werden, als der Gigant zu Boden fiel und ihn dabei unter sich begrub. Bunte Sterne tanzten vor seinen Augen. Er konnte hören, (und noch viel deutlicher spüren), wie seine Rippen knackten und jedes bißchen Luft aus seinen Lungen gepreßt wurde. Trotzdem klammerte sich Indiana weiter mit aller Kraft an seinen Gegner.

Ramos’ Leibwächter warf sich wütend hin und her und versuchte, ihn mit seinem bloßen Körpergewicht gegen den Boden zu quetschen, aber gleichzeitig drückte ihm Indiana mit aller Kraft beide Daumen gegen die Halsschlagadern.

Der Riese bäumte sich erneut auf, als er begriff, was Indiana vorhatte. Mit einer schier unvorstellbaren Kraftanstrengung stemmte er sich auf die Füße, wobei er Indiana einfach mit sich zog, und versuchte mit wild grabschenden Händen, Indianas Haar zu packen, um ihn von sich herunterzureißen. Aber seine Bewegungen wurden bereits langsamer, und seine Hände fuchtelten eher ziellos durch die Luft. Er taumelte, machte einen schwerfälligen Schritt, fiel auf ein Knie und stemmte sich noch einmal in die Höhe, während Indianas Daumen weiterhin die Blutzufuhr zu seinem Gehirn unterbrachen.

Noch einmal raffte er all seine Kraft zusammen und stieß einen Ellbogen mit aller Gewalt nach hinten, so daß sich Indiana mit einem Schmerzenslaut krümmte und abermals bunte Sterne vor seinen Augen tanzten. Aber er wußte auch, daß es sein sicheres Todesurteil sein würde, wenn er jetzt losließe, und so verstärkte er seinen Druck nur noch mehr.

Ramos’ Leibwächter begann zu zittern. Indiana spürte, wie die Kraft aus seinen Gliedern wich. Er taumelte, sank ganz langsam auf die Knie und begann nach vorne zu kippen. In diesem Moment erschien Grisswald vor ihm, stieß einen fast lächerlich klingenden Schrei aus und schlug ihm die Handkante gegen den Hals — genauer gesagt: gegen Indianas linken Daumen, der sich noch immer tief in die Haut des Riesen bohrte. Indiana stöhnte vor Schmerz auf und zog instinktiv die Hand zurück, aber der Riese verlor bereits endgültig das Bewußtsein und fiel aufs Gesicht.

Auch Indiana wankte. Er hatte plötzlich alle Mühe, auf den Beinen zu bleiben. Haltsuchend griff er um sich, bekam die Kante des Schreibtisches zu fassen und klammerte sich daran. Das Zimmer drehte sich vor seinen Augen, seine geprellten Rippen schmerzten höllisch, und er schmeckte sein eigenes Blut auf der Zunge. Für einen Augenblick drohten ihm die Sinne zu schwinden. Hilflos sank er neben dem bewußtlosen Riesen auf die Knie, fiel nach vorne und fing den Sturz im letzten Moment gerade noch mit den Händen auf.

Als sich seine Sinne wieder klärten, war das erste, was er erblickte, Grisswalds Gesicht, das sich besorgt über ihn beugte.

«Alles in Ordnung, Dr. Jones?«fragte der Dekan.

Indiana nickte, versuchte auf die Füße zu kommen und schaffte es erst im dritten Anlauf. Das Zimmer drehte sich noch immer wild um ihn, und seine geprellten Rippen schmerzten so höllisch, daß er kaum fertigbrachte zu atmen.

«Das war verdammt knapp«, sagte Grisswald.»Großer Gott — dieses Monster hätte Sie glatt umgebracht, wenn ich nicht dazwischengegangen wäre.«

Indiana war nicht ganz sicher, ob er wirklich verstand, was Grisswald meinte. Aber er nickte vorsichtshalber, fuhr sich mit dem Handrücken über das Gesicht und spürte warmes, klebriges Blut. Mühsam stolperte er zu Reuben hinüber, ließ sich neben ihm in die Hocke sinken und registrierte erleichtert, daß der FBI-Agent zwar ebenso angeschlagen und benommen wirkte wie er, aber nicht ernsthaft verletzt zu sein schien.

«Alles okay?«fragte Indiana besorgt, als Reuben sich stöhnend zum zweiten Mal aufsetzen wollte und abermals zurücksank.

«Ja«, murmelte der FBI-Mann. Langsam hob er die Hand und tastete behutsam und mit zusammengebissenen Zähnen mit den Fingerspitzen über das Gesicht, als müsse er sich davon überzeugen, daß noch alles vorhanden und an seinem angestammten Platz war.»Was war das? Eine Dampfwalze?«

Indiana lächelte flüchtig, aber ehe er noch antworten konnte, sah er eine Bewegung aus den Augenwinkeln und hörte ein gedämpftes Stöhnen. Ramos’ Leibwächter erwachte wieder!

Hastig beugte er sich vor und begann unter Reubens Jacke herumzusuchen.

«Was tun Sie da?«fragte Reuben.

«Ich suche etwas«, antwortete Indiana, ertastete in diesem Moment die Handschellen, die Reuben unter den Gürtel gehakt hatte, und hielt sie mit einem triumphierenden:»Das da!«in die Höhe.

Reuben blickte ihn verblüfft an und wollte protestieren, aber Indiana drehte sich bereits herum, kroch das kurze Stück zu Ramos’ mittlerweile nur noch halb bewußtlosem Leibwächter kurzerhand auf Händen und Knien zurück und versuchte, die beiden stählernen Ringe um seine Handgelenke schnappen zu lassen.

Es ging nicht.

Die Handschellen waren ganz normale Handschellen, aber die Handgelenke des Kolosses waren einfach zu dick.

«Was tun Sie da, Dr. Jones?«erklang Grisswalds Stimme hinter ihm.

Indiana ignorierte ihn und versuchte zum zweiten Mal, die Handschellen irgendwie zuzubekommen — mit dem einzigen Ergebnis allerdings, daß der Riese sich stöhnend noch heftiger zu bewegen begann und die Augen aufschlug.

«Ich habe Sie gefragt, was Sie da tun!«erscholl Grisswalds Stimme erneut. Sie klang schon wieder so überheblich und herrisch wie gewohnt.

Der Riese hob stöhnend den Kopf und blinzelte Indiana an. Der ließ hastig die Handschellen fallen, verschränkte die Hände zu einer einzigen Faust und schlug sie dem Giganten mit solcher Gewalt unter das Kinn, daß er glaubte, jeden einzelnen seiner zehn Finger in eine andere Richtung davonfliegen zu spüren. Ramos’ Leibwächter verlor zum zweiten Mal das Bewußtsein, Indiana Jones sank mit einem Schmerzlaut zurück und preßte seine pochende Hand an die Brust, und Grisswald sog hörbar die Luft zwischen den Zähnen ein.

«Da hört sich doch alles auf«, ereiferte er sich.»Lassen Sie den Mann in Ruhe, Jones! Was fällt Ihnen ein!«

Indiana ignorierte ihn weiterhin, sah sich fast verzweifelt nach irgend etwas um, mit dem er den Riesen fesseln konnte, und zog schließlich dessen Gürtel aus den Schlaufen. Als er seine Handgelenke mit dem breiten Lederband zusammenband, regte der Koloß sich bereits wieder.

Diesmal wartete Indiana nicht erst, bis er den Kopf hob, sondern versetzte ihm sofort einen weiteren Kinnhaken — womit er seiner ohnehin lädierten rechten Faust den Rest gab. Den pochenden Schmerzen in seinen Knöcheln nach zu schließen, würde er eine Woche brauchen, ehe er auch nur wieder seinen Namen würde schreiben können.

Grisswald keuchte, als stünde er kurz davor, einen Herzschlag zu bekommen.»Sie hören sofort damit auf, diesen Mann zu mißhandeln!«keifte er.»Ich dulde keine sinnlose Gewalt an meiner Universität!«

Indiana schenkte ihm einen giftigen Blick, stand auf und ging rasch zu Reuben zurück. Der FBI-Beamte hatte sich in eine halb kniende Position hochgestemmt. Er wirkte noch immer benommen — aber das war Indiana im Moment sogar recht.

«Was, in Dreiteufels Namen, geht hier eigentlich vor?«murmelte Reuben.

«Das möchte ich auch gerne wissen«, fügte Grisswald hinzu.»Ich verlange eine Erklärung von Ihnen, Dr. Jones. «Anklagend deutete er mit dem ausgestreckten Zeigefinger wie mit einer Waffe auf Reuben.»Und von Ihnen auch!«

Bevor Indiana noch antworten konnte, begann sich die Gestalt am Boden bereits wieder zu regen. Ein gequältes Stöhnen erscholl, dann richtete sich der Riese halb auf. Der lederne Gürtel, mit dem seine Hände zusammengebunden waren, knirschte hörbar, und Reubens Augen weiteten sich ungläubig.

«Passen Sie bloß auf den Kerl auf!«sagte Indiana.»Das beste wird sein, Sie rufen Verstärkung. Oder vielleicht gleich die Nationalgarde.«

Es war nicht sicher, ob Reuben seinen letzten Ratschlag überhaupt noch gehört hatte, denn während er noch sprach, war er bereits auf dem Flur und raste zur Treppe zurück.

Nicht einmal zehn Minuten später hämmerte Indiana Jones mit beiden Fäusten gegen die Tür von Dr. Bensons Praxis, neben der ein kleines Messingschild verkündete, daß sie an Wochenenden sowie während der Semesterferien geschlossen sei. Er hatte die Adresse aus dem nächsterreichbaren Telefonbuch, und in der Einfahrt des kleinen Hauses standen gleich zwei Wagen; außerdem hatte er eine Bewegung hinter einem der Fenster gesehen, als er seinen alten Ford mit quietschenden Bremsen neben dem Haus zum Stehen brachte. Benson — oder irgend jemand — mußte also zu Hause sein.

Trotzdem vergingen endlos scheinende Minuten, bis endlich das Geräusch schlurfender Schritte auf Indianas ungeduldiges Hämmern antwortete. Er hörte, wie drinnen rasselnd eine Kette vorgelegt wurde, dann öffnete sich die Tür einen Spaltbreit, und ein verschrecktes, schmales Zwergengesicht mit einer randlosen Brille lugte zu ihm hinaus.»Ja?«

«Dr. Benson?«begann Indiana. Die Frage war im Grunde überflüssig — er hatte sich zwar nicht an den Namen erinnert, erkannte den grauhaarigen alten Mann aber sofort wieder. Er hatte ihn ein paarmal an der Universität gesehen, und wenn er sich recht erinnerte, ein oder zweimal davon auch im Gespräch mit Stan.

Benson nickte. Er wirkte noch immer ein bißchen erschrocken.»Ja. Was kann ich für Sie tun? Die Praxis ist — «

«— geschlossen, ich weiß«, unterbrach ihn Indiana ungeduldig. Er mußte sich beherrschen, nicht immer wieder auf die Straße hinter sich zurückzusehen. Er benahm sich auch so schon auffällig genug.

«Ich weiß«, sagte er noch einmal.»Aber bitte, lassen Sie mich doch herein. Es ist … sehr wichtig.«

Benson machte keine Anstalten, die Tür zu öffnen, sondern blinzelte nur mit noch größerem Mißtrauen zu ihm herauf.»Worum geht es?«erkundigte er sich.»Wieso …«Plötzlich hellte sich sein Gesicht auf.»Dr. Jones? Sie sind doch Dr. Henry Jones?«

«Ja«, antwortete Indiana erleichtert.»Die Angelegenheit ist … etwas delikat. Es wäre mir wirklich lieber, wenn wir sie nicht auf der Straße besprechen müßten.«

Seine Worte schienen aber eher das Gegenteil dessen zu bewirken, was sie sollten: Das kaum erloschene Mißtrauen kehrte in Bensons Blick zurück, und er stand geschlagene zwanzig Sekunden da und blickte Indiana durchdringend an, ehe er schließlich mit sichtlichem Widerwillen zurücktrat, die Tür schloß und die Kette entfernte. Indiana nutzte die winzige Pause, um einen raschen, sichernden Blick in alle Richtungen zu werfen. Er hatte den Zettel mit Bensons Telefonnummer zwar noch immer sicher in der Jackentasche, aber er rechnete trotzdem nicht damit, daß sein Vorsprung allzu groß war. Wahrscheinlich würde Ramos’ Leibwächter Reuben und seine Männer eine Weile beschäftigt halten, aber früher oder später würden sie ihn überwältigt haben, und noch etwas später — nicht sehr viel später — würden sie garantiert hier auftauchen. Indiana hatte den Campus kaum verlassen gehabt, als ihm siedendheiß eingefallen war, daß er zwar den Zettel mit seiner Notiz, nicht aber das von Stans Sekretärin geschriebene Original mitgenommen hatte. Und Pat und Patachon waren vielleicht nicht besonders helle, aber auch nicht so dumm, einen Hinweis zu übersehen, der so offen dalag.

Endlich öffnete Benson die Tür. Indiana mußte sich beherrschen, sie nicht mit einem Ruck aufzustoßen und an dem Arzt vorbeizustürmen. Aber es gelang ihm offensichtlich nicht, seine Nervosität völlig zu überspielen, denn Benson musterte ihn weiter mit sehr wachen, sehr mißtrauischen Blicken, und auch er warf einen langen Blick auf die Straße hinaus, bevor er die Tür schließlich zuschob und mit der anderen Hand eine einladende Bewegung ins Haus machte.

«Gehen wir in mein Arbeitszimmer, Dr. Jones«, sagte er.

«Ihre Praxis wäre mir lieber«, sagte Indiana geradeheraus.

«Sind Sie krank?«Benson sah ihn verblüfft an.

«Nein. «Indiana lächelte.»Es geht nicht um mich.«

«Sondern?«

«Um Professor Corda«, antwortete Indiana.»Er war in den letzten Wochen bei Ihnen in Behandlung, nicht wahr?«

Es war ein Schuß ins Blaue, aber die Reaktion Bensons bewies ihm, daß er mit seiner Vermutung richtig lag. Allerdings fiel sie völlig anders aus, als Indiana gehofft hatte — Bensons angedeutetes Lächeln erlosch völlig, und das Mißtrauen in seinem Blick machte Ablehnung und Feindseligkeit Platz.

«Ich muß Sie enttäuschen, Dr. Jones«, sagte er.»Was immer es ist — ich kann und darf nicht über meine Patienten reden.«

«Das weiß ich«, antwortete Indiana.»Aber es …«Er zögerte. Irgend etwas warnte ihn davor, Benson zu belügen. Der Arzt war vielleicht alt und schon ein bißchen zitterig, aber er hatte wache, aufmerksame Augen, und er hatte die Art eines Menschen, der jede Lüge schon im Ansatz durchschaut.

«Es geht um Leben und Tod«, sagte er schließlich.»Und das im wahrsten Sinne des Wortes, Dr. Benson.«

«Trotzdem«, beharrte Benson.»Ich kann und darf nicht — «

«Ich will nichts über Stan wissen«, unterbrach ihn Indiana.

Benson blinzelte.

«Jedenfalls nicht über seine Krankheit«, schränkte Indiana ein.

«Warum sind Sie dann hier?«fragte Benson verwirrt.»Ich weiß sonst nichts über Professor Corda.«

«Vielleicht doch«, sagte Indiana.»Er hatte einen Termin bei Ihnen, nicht wahr? Und er ist nicht erschienen?«

«Richtig. «Benson nahm seine Brille ab.»Aber — «

«Professor Corda ist seit zwei Tagen spurlos verschwunden, Dr. Benson«, unterbrach ihn Indiana sehr ernst.»Und ich fürchte, er befindet sich in akuter Lebensgefahr.«

Benson blickte ihn eine Sekunde lang fast erschrocken an, dann lächelte er.»Bestimmt nicht. Er ist — nein, ich werde Ihnen nicht verraten, welcher Art seine Krankheit ist, aber soviel kann ich sagen: Seine Krankheit ist nicht lebensbedrohlich.«

«Es geht nicht darum, weswegen er bei Ihnen in Behandlung war, Dr. Benson«, erwiderte Indiana, obwohl er sich nicht einmal dessen völlig sicher war.»Ich kann Ihnen jetzt nichts Näheres sagen, schon um Sie nicht zu gefährden, ich kann Sie nur bitten, mir zu glauben, daß es lebenswichtig für ihn ist, daß ich ihn finde.«

«Das mag sein«, antwortete Benson in einem Ton ehrlichen Bedauerns.»Aber ich kann es Ihnen nicht sagen. Wie Sie selbst gesagt haben: Er hatte einen Termin bei mir und ist nicht erschienen. Ich weiß so wenig wie Sie, wo er sich aufhält.«

«Aber vielleicht wissen Sie, wo er gewesen ist«, antwortete Indiana.

«Das ist kein Geheimnis. Ganz im Gegenteil. Wir haben uns lange über seine letzte Reise unterhalten. Und er ist richtig ins Schwärmen geraten. Er war in Bolivien.«

«Und wo genau?«

«In …«Benson überlegte einen Moment.»Warten Sie«, sagte er dann.»Ich habe es irgendwo in seiner Akte notiert. Wenn Sie sich einen Augenblick gedulden, hole ich sie.«

Er schlurfte davon, und Indiana widerstand auch jetzt nur mit Mühe dem Impuls, ihm zu folgen. Als Benson den Hausflur verlassen hatte, trat er rasch zur Tür zurück, öffnete sie einen Spaltbreit und warf einen Blick hinaus. Die Straße war noch ruhig. Aber er fragte sich, wie lange das noch so bleiben würde.

Es vergingen nur einige Augenblicke, bis Benson zurückkam, eine aufgeschlagene — und bis auf ein einzelnes Blatt, auf dessen oberer Hälfte eine farbige Postkarte aufgeklebt war, völlig leere — Akte in Händen haltend. Als er Indianas Blick bemerkte, lächelte er flüchtig und vielsagend, dann nahm er das Blatt aus der Akte und hielt es ihm hin.»Sehen Sie selbst, Dr. Jones«, sagte er.»Er war in La Paz. Er hat mir sogar eine Postkarte von dort geschickt. In diesem Hotel hat er fast vier Wochen verbracht, müssen Sie wissen.«

Indiana war enttäuscht. Bolivien war zwar ein kleines Land, aber auch kleine Länder haben die unangenehme Eigenschaft, objektiv groß zu sein; zumindest, wenn man einen einzelnen Menschen sucht, noch dazu einen, der keinen besonderen Wert darauf legt, gefunden zu werden. Trotzdem griff er nach dem Blatt, auf dem sich tatsächlich nichts weiter als die aufgeklebte Postkarte und ein handschriftlicher Gruß von Stan an Benson befand, und betrachtete das Bild. Es zeigte in übertrieben kitschigen Farben ein vierstöckiges Hotel, dessen Inneres garantiert nicht hielt, was die protzige Marmorfassade versprach.

«Vier Wochen?«

«Annähernd«, bestätigte Benson.»Er hatte einen kleinen Unfall, als er aus dem Dschungel kam, und daher hat er sich dort auskuriert.«

«Im Dschungel, sagen Sie? Er war im Busch?«

Wieder flammte das alte Mißtrauen in Bensons Augen auf.»Sicher«, sagte er.»Er ist Archäologe, wie Sie, Dr. Jones. Hat er denn nicht — «

Draußen auf der Straße erscholl das Kreischen von Autoreifen, und Indiana fuhr wie von der Tarantel gestochen herum, war mit einem Satz an der Tür und riß sie auf.

Aber es waren nicht Pat und Patachon, wie er halbwegs erwartet hatte — als Indiana die Tür aufriß, sah er gerade noch die aufleuchtenden Bremslichter eines schmuddeligen Oldsmobils, das er als genau den Wagen wiedererkannte, der ihn von seinem Haus zum Campus verfolgt hatte — und hinter dessen Steuer genau die gleichen Burschen saßen. Offensichtlich war bei Reubens Verhaftungsaktion irgend etwas vollkommen schiefgegangen. Und die winzige Hoffnung, die Indiana für einen Moment noch hatte, nämlich die, daß die beiden Gauner vielleicht seinen Wagen übersehen mochten, zerschlug sich auch schon im gleichen Moment wieder. Der Wagen kam mit kreischenden Reifen und schlingernd wenige Dutzend Meter entfernt zum Stehen, und Indiana konnte bis hierher das Krachen hören, mit dem der Fahrer den Rückwärtsgang hineinknüppelte.

«Was geht da vor, Dr. Jones?«fragte Benson, der hinter ihn getreten war.»Was sind das für Leute? Kennen Sie sie?«

«Nein«, antwortete Indiana automatisch und verbesserte sich sofort wieder:»Oder vielleicht doch. Aber ich könnte nicht sagen, daß es Freunde von mir sind. «Seine Gedanken überschlugen sich. Der Wagen kam schlingernd im Rückwärtsgang auf die Einfahrt zugeschossen, und der Mann auf dem Beifahrersitz begann sich bereits am Türgriff zu schaffen zu machen.

Noch wenige Sekunden, und sie waren hier. Mit ein bißchen Glück und noch ein bißchen mehr Schnelligkeit würde er den beiden vielleicht sogar ein zweites Mal entkommen können — aber es gehörte nicht sehr viel Phantasie dazu, sich auszumalen, was dann mit Benson geschehen würde.

«Was geht hier vor, Dr. Jones?«fragte Benson abermals und jetzt in fast befehlendem Ton.»Ich verlange eine Erklärung. Sofort!«

«Dazu ist keine Zeit!«antwortete Indiana hastig. Und plötzlich riß er die Tür vollends auf, packte den total überraschten Benson am Revers seiner Hausjacke, schüttelte ihn so heftig hin und her, daß der alte Mann vor Überraschung keuchte.

«Wehren Sie sich!«zischte Indiana.»Um Gottes willen, kämpfen Sie gegen mich, Benson! Schlagen Sie mich!«

Aber Benson dachte überhaupt nicht daran. Aus aufgerissenen Augen und aschfahl vor Schrecken im Gesicht starrte er Indiana an, bis dieser ihn schließlich so unsanft gegen den Türrahmen stieß, daß er die Rippen des alten Mannes knacken hören konnte. Aus den Augenwinkeln versuchte er dabei, das rückwärts heranschlingernde Oldsmobil im Blick zu behalten. Der Wagen hatte bereits die halbe Auffahrt hinter sich gebracht und kam jetzt mit einem Ruck zum Stehen, und sofort wurde die Beifahrertür aufgerissen.

«Um Himmels willen, wehren Sie sich!«rief Indiana fast verzweifelt und packte Benson erneut bei den Jackenaufschlägen, um ihn wie wild hin und her zu schütteln. Als der Arzt immer noch keinerlei Anstalten machte, sich in irgendeiner Form zur Wehr zu setzen, warf er ihn ein zweites Mal gegen die Tür und drückte ihm dabei unauffällig die Mappe mit Stanleys Namen und der Postkarte in die Hand — um sie ihm ein zweites Mal zu entreißen. Benson stöhnte vor Schmerz und brach langsam in die Knie, und weder das eine noch das andere war geschauspielert. Es brach Indiana fast das Herz, den alten Mann so zu behandeln — aber vielleicht rettete er ihm damit das Leben.

Er beugte sich über Benson, riß ihn an der Schulter in die Höhe und schleuderte ihn dann abermals zu Boden, wobei er ihn aber unauffällig im allerletzten Moment wieder auffing, so daß er sich nicht wirklich verletzen konnte.»Hören Sie zu!«flüsterte er gehetzt.»Spielen Sie den Bewußtlosen! Rühren Sie sich nicht, ganz egal, was passiert. Und wenn jemand kommt und nach Cordas Akte fragt, dann behaupten Sie, ich hätte sie Ihnen weggenommen! Geben Sie sie auf keinen Fall heraus, an niemanden. Vielleicht hängt Ihr Leben davon ab!«

Benson verdrehte die Augen und stöhnte leise, und Indiana hatte keine Ahnung, ob er seine Worte überhaupt verstanden hatte; geschweige denn, daß er sie begriffen hatte. Indiana betete, daß sein Kalkül aufging. Um Bensons willen — und wegen Marian und Marcus.

Er hörte Schritte, sah plötzlich die Gestalt eines der beiden Gauner groß und drohend über sich in der Tür aufragen und stand mit einer raschen Bewegung auf.

«Was ist hier los?«fragte der Bursche.»Wer ist der Alte?«

«Niemand«, antwortete Indiana, in einem überheblichen, bösen Ton, von dem er hoffte, daß er dem Schläger so vertraut war, daß ihm nicht auffiel, daß er im Grunde nicht zu einem ehrwürdigen Archäologieprofessor paßte. Er trat mit einem großen Schritt über Benson hinweg, der stöhnend und halb bewußtlos dalag und sich krümmte, und hob triumphierend die Akte, die er dem Arzt entrissen hatte.

«Bringen Sie mich zu Ramos«, sagte er.»Ich habe, wonach er sucht.«

«Eine Postkarte!«Ramos’ Fingerspitzen glitten über die lak-kierte Oberfläche des buntbedruckten Stücks Karton, und der Blick seiner leeren Augen war auf die aufgeschlagene Mappe auf dem Tisch vor ihm gerichtet, als könne er sie tatsächlich sehen. Es war ein unheimlicher Anblick.

Indiana zuckte mit den Schultern. Obwohl er wußte, daß Ramos auch diese Bewegung nicht sehen konnte.»Das ist alles, was ich finden konnte«, antwortete er.»In der Mappe war sonst nichts drin.«

«Und der Arzt wußte natürlich auch nichts«, fügte Ramos mit einem Lächeln hinzu, das keines war. Dann hob er den Kopf, um in Indianas Richtung zu blicken.»Oder hat er sich vielleicht auf seine ärztliche Schweigepflicht berufen, und Sie haben diesen Eid als sein wissenschaftlicher Kollege selbstverständlich respektiert und sind nicht weiter in ihn gedrungen, Dr. Jones?«Der beißende Spott in seiner Stimme war nicht mehr zu überhören; ebensowenig wie die Drohung, die sich hinter diesen Worten verbarg.

«Er wußte wirklich nichts«, sagte Indiana. Da er keine Möglichkeit hatte, Ramos mit einer überzeugenden Mimik oder entsprechenden Gesten zu beeindrucken, versuchte er, seiner Stimme einen besonders eindringlichen Klang zu verleihen — womit er vermutlich eher das Gegenteil erreichte, wie ihm selbst schmerzhaft bewußt wurde.»Ich habe alles aus ihm herausgeholt, was er wußte.«

Ramos schwieg eine ganze Weile. Wieder fuhren seine Fingerspitzen leicht und tastend über die Postkarte, zogen ihre Umrisse nach und glitten schließlich über das Blatt Schreibmaschinenpapier, auf das sie aufgeklebt war.»Wieso kann ich mich des Eindruckes nicht erwehren, daß Sie nicht ganz aufrichtig zu mir sind, Dr. Jones?«fragte er leise.

«Dr. Benson hat die Wahrheit gesagt«, beharrte Indiana, wobei er hoffte, daß Ramos nicht auffiel, daß er seine Frage damit geschickt umging.»Natürlich hat er sich zuerst geweigert, überhaupt mit mir zu reden. Aber ich habe ihn schließlich überzeugt.«

«Ja, Peter hat es mir auch so erzählt. «Er deutete auf den Mann zu seiner Linken; den Gangster, der aus dem Wagen gestiegen und in Bensons Haus gekommen war. Es waren tatsächlich dieselben, die ihn in Cordas Büro in der Universität überrumpelt hatten. Ramos’ Leibwächter war bisher nicht zurückgekommen. Vermutlich war es Reuben, Henley und den beiden anderen FBI-Männern am Schluß doch gelungen, ihn zu überwältigen. Die beiden mußten die Situation ausgenutzt haben, ihr Heil in der Flucht zu suchen. Soviel zu der vielzitierten Ganovenehre, dachte Indiana.

«Aber sehen Sie, Dr. Jones«, fuhr Ramos fort, als Indianas anhaltendes Schweigen ihn begreifen ließ, daß er keine Antwort auf seine Frage bekommen würde.»Gerade das ist es, was mich nachdenklich stimmt.«

«Was? Daß ich getan habe, was Sie von mir verlangen?«

«Ich habe eine Menge über Sie gehört, Dr. Jones«, sagte Ra-mos unbeirrt, noch immer lächelnd und noch immer in einem Tonfall, der sich im allerersten Moment beinahe freundlich anhörte, es aber ganz und gar nicht war.»Ihnen eilt nicht unbedingt der Ruf voraus, besonders zimperlich zu sein. Aber daß Dr. Indiana Jones auf einen wehrlosen alten Mann einschlägt, um Informationen aus ihm herauszubekommen, gehört wahrhaftig nicht zu den Dingen, die man sich über Sie erzählt. Es fällt mir daher ein wenig schwer, das zu glauben.«

«Ich habe nicht auf ihn eingeschlagen!«verteidigte sich Indiana in gespielter Entrüstung.»Ich habe ihm diese Mappe weggenommen, das ist alles. Er wollte sie nicht freiwillig hergeben, und es kam zu einer kleinen Rangelei, bei der er versehentlich gestürzt ist.«

«Eine Rangelei um eine völlig leere Mappe, die nichts weiter als eine Postkarte enthält?«Ramos zog zweifelnd die Augenbrauen zusammen.»Und Sie sind sicher, daß Sie die richtige Krankenmappe mitgenommen haben?«

«Cordas Name steht in großen Buchstaben darauf«, erwiderte Indiana verärgert.»Fragen Sie einen Ihrer Prügelknaben. Sie werden es Ihnen bestätigen — falls sie lesen können, heißt das.«

«Oh, daran zweifele ich keine Sekunde, Dr. Jones«, erwiderte Ramos.»Ich frage mich nur, ob sie immer so leer war oder ob Sie vielleicht vergessen haben, das eine oder andere mitzunehmen.«

«Vielleicht gibt es ja einen zweiten Ordner«, antwortete Indiana.»Oder er hat die Unterlagen falsch abgeheftet. Ich hatte nicht viel Zeit, um mich gründlich umzusehen, wissen Sie. Diese beiden Idioten, die Sie hinter mir hergeschickt haben, haben schließlich ihr möglichstes getan, um die halbe Stadt in Aufruhr zu versetzen. Eigentlich ist es ein Wunder, daß ich es überhaupt geschafft habe.«

Ramos starrte ihn an. Er bot dabei einen unheimlichen Anblick, dessen Wirkung nicht nachließ, sondern im Gegenteil mit jedem Augenblick stärker zu werden schien; Indiana blickte in Augen, die niemals etwas anderes gesehen hatten als endlose Dunkelheit, und trotzdem hatte er plötzlich das Gefühl, durchleuchtet zu werden. Er hatte das beängstigende Gefühl, einem Mann gegenüberzustehen, dessen blinde Augen mühelos bis in sein Innerstes zu blicken und seine ganzen Geheimnisse zu ergründen schienen, als hätte er durch eine Glasscheibe geblickt. Eigentlich nur, um überhaupt etwas zu sagen und das immer unangenehmer werdende Schweigen zu brechen, räusperte sich Indiana trotzig und fuhr fort:»Ich habe meinen Teil der Abmachung erfüllt, Ramos. Jetzt halten Sie Ihr Wort und lassen Marcus und Marian frei.«

Ein flüchtiges, kaltes Lächeln huschte über Ramos’ entstelltes Gesicht.»Oh, ich halte mein Wort, Dr. Jones, keine Angst«, sagte er.»Ich werde Ihre Freunde unversehrt freilassen — vorausgesetzt, die Informationen, die Sie mir gebracht haben, sind auch etwas wert.«

«Was soll das heißen?«fragte Indiana scharf.

Der Mann zu Ramos’ Linker machte eine ansatzweise Bewegung, und Ramos hob rasch die Hand und brachte ihn wieder zur Ruhe.»Eine Postkarte und ein hingekritzelter Gruß sind vielleicht ein bißchen wenig, um zwei Menschenleben damit aufzuwiegen«, erklärte er böse.

«Das ist wahrhaftig alles, was ich Ihnen sagen kann!«protestierte Indiana.»Und es ist schon mehr, als alle anderen wissen.«

«Sie auch?«fragte Ramos mit einem neuerlichen, kalten Lächeln.

Indiana wollte abermals auffahren, aber er begriff gerade noch rechtzeitig, daß Ramos vielleicht gerade das wollte — ihn aus der Reserve locken, ihn aus der Ruhe bringen und vielleicht zu einem Fehler provozieren.»Ja, ich auch«, antwortete er betont ruhig.»Und ich bin sicher, Sie wissen das längst. Sie haben Marian und Marcus nicht entführt, weil Sie schon alles über Stan wissen. Er hat seine Spur verdammt gut verwischt. Nicht einmal das FBI weiß, wohin er mit seinen Männern verschwunden ist.«

«Und wir wissen es ebensowenig«, sagte Ramos.

«Aber das stimmt doch nicht«, protestierte Indiana. Er deutete anklagend auf die Karte vor Ramos, ehe ihm einfiel, daß der Blinde die Geste ja gar nicht sehen konnte.»Das da ist eine Spur«, beharrte er.»La Paz ist groß, aber nicht so groß. Fahren Sie hin, und lassen Sie Ihre Beziehungen spielen oder meinetwegen ein paar Leute zusammenschlagen. Darin haben Sie ja Erfahrung. Ein Mann wie Stan in der Begleitung eines Dutzends Söldner wird selbst in einer Stadt wie La Paz auffallen.«

«Da mögen Sie recht haben, Dr. Jones«, antwortete Ramos ruhig. Er stand auf. Mit einer Sicherheit, als könne er sehen, legte er das Blatt in den Ordner zurück und klappte ihn zu.»Ich werde darüber nachdenken, Dr. Jones«, sagte er.»Bis ich zu einer Entscheidung gekommen bin, bleiben Sie unser Gast.«

«Aber das ist — «, protestierte Indiana, kam aber nicht weiter, denn einer von Ramos’ Männern trat blitzschnell hinter ihn, packte sein Handgelenk und verdrehte seinen Arm so unsanft, daß er vor Schmerz die Zähne zusammenbiß.

«Bring ihn zu seinen Freunden«, sagte Ramos.»Damit er sich davon überzeugt, daß wir ihnen auch wirklich kein Haar gekrümmt haben.«

Der Raum mußte früher einmal als Treibstofflager gedient haben oder sich in der Nähe der Heizungsanlage befinden, denn die Luft war stickig und roch so durchdringend nach altem Öl und Benzin, daß Indiana kaum atmen konnte. Das wenige, schwache Licht kam von einer einzelnen Glühbirne, die an einem nackten Draht unter der Decke hing, und die gesamte Einrichtung bestand aus zwei Säcken voll faulig riechendem, nassem Stroh, auf die man Marian und Marcus — an Händen und Füßen gefesselt — geworfen hatte.

Ramos hatte sein Wort nur zur Hälfte gehalten. Sie hatten ihn zwar hier heruntergebracht, so daß er sich davon überzeugen konnte, daß Brody und Stanleys Frau noch am Leben und wenigstens äußerlich unverletzt waren, aber er hatte bisher nicht mit ihnen reden können — die beiden waren nicht nur gefesselt, sondern auch geknebelt worden, und einer der beiden Männer, die Indiana hier heruntergebracht hatten, war als Wächter zurückgeblieben und achtete mißtrauisch darauf, daß Indiana sich nicht von seinem Platz neben der Tür rühren konnte. Indiana selbst war zwar nicht gefesselt worden, aber er hockte in einer unbequemen Haltung mit angezogenen Knien in einem Winkel des Raumes, und der Bursche stand grinsend und mit einer entsicherten Tommy-Gun in der Armbeuge da und wartete offenbar nur darauf, daß er eine falsche Bewegung machte.

Indiana hatte versucht, sich mit Blicken mit Marian und Marcus zu verständigen, aber auch dieser Versuch war gescheitert. Marian kauerte mehr bewußtlos als wach auf ihrem Strohsack; ihre Augen waren zwar offen, aber ihr Blick war trüb und ging ins Leere. Marcus hatte zwar trotz seines Knebels versucht, irgend etwas hervorzubringen, aber der Wächter hatte dies mit einem derben Kolbenhieb in Marcus’ Rippen unterbunden.

Jetzt warteten sie. Worauf, das wußte auch Indiana nicht.

Aber es war schon eine geraume Zeit vergangen, seit man ihn hier heruntergebracht hatte; sicherlich eine halbe Stunde, wenn nicht länger. Es war schwer, zu schätzen, wie die Zeit verstrich, während sie in einer winzigen Kammer ohne Fenster und voll trübem Licht eingesperrt waren, in der sich nichts rührte.

Immerhin fand Indiana in dieser Zeit Gelegenheit, zum ersten Mal in aller Ruhe über alles nachzudenken — und sich einzugestehen, wie närrisch er sich verhalten hatte. Hatte er wirklich geglaubt, Ramos würde sein Wort halten? Jetzt, im nachhinein, fiel es ihm selbst schwer, seine eigenen Gedanken nachzuvoll-ziehen. Wieso hatte er nicht auf Reuben gehört — oder wenn schon nicht auf ihn, dann wenigstens auf seine eigene, innere Stimme? War es, weil vielleicht zum ersten Mal nicht nur er selbst, sondern jemand, dessen Leben ihm mindestens so teuer wie sein eigenes war, in Gefahr schwebte? Oder war er wirklich so verrückt gewesen, zu glauben, daß Ramos so etwas wie Ehre besaß? Die Kaltblütigkeit, mit der Ramos den Hehler hatte umbringen lassen, hätte ihn warnen müssen.

Es verging eine geraume Weile, in der Indiana schweigend dasaß, ins Leere starrte und abwechselnd sich, die ganze Welt und Ramos verfluchte, bis er schließlich Schritte hörte und die rostige, aber äußerst massive Metalltür, mit der der Kellerraum verschlossen war, aufgestoßen wurde. In dem ungewohnt grellen Licht, das vom Flur hereindrang, erkannte er den verkrüppelten Schatten von Ramos und den eines zweiten Mannes, der hinter ihm stand. Indiana wollte sich erheben, aber Ramos schien die Bewegung zu spüren, denn er machte eine Geste, und der Mann mit dem Maschinengewehr stieß Indiana unsanft zurück.

«Sie haben mich belogen, Dr. Jones!«sagte Ramos. Er sprach leise, aber seine Stimme klang schneidend, und Indiana spürte die Drohung, die unausgesprochen in den Worten mitschwang.

«Ich verstehe nicht …«begann er, aber wieder schnitt ihm Ramos das Wort ab.

«Bitte beleidigen Sie mich nicht noch, indem Sie mich für dumm halten«, sagte er.»Ich nehme es Ihnen nicht übel, daß Sie es versucht haben. Aber wenn Sie mich jetzt wie einen Narren behandeln, könnte ich wirklich ärgerlich werden.«

Indiana verstand kein Wort mehr. Verwirrt blickte er abwechselnd Ramos und den Mann hinter ihm an, den er inzwischen als einen der beiden Burschen wiedererkannt hatte, die ihn aus der Universität heraus verfolgt hatten. Er wollte etwas sagen, aber im selben Moment wehte ein leiser Knall durch die offenstehende Tür, Ramos fuhr zusammen, und den Bruchteil einer Sekunde später identifizierte Indiana das Geräusch: Es war das Echo eines Schusses. Augenblicke später fielen weitere Schüsse, und dann glaubte er, gedämpfte Schreie und das Trappeln zahlreicher Schritte hören zu können.

«Sie haben recht, Dr. Jones«, sagte Ramos, als hätte er seine Gedanken gelesen,»Ihre Freunde vom FBI sind gekommen, um Sie und die beiden anderen zu befreien. Ich habe damit gerechnet — aber nicht so schnell, wenn ich ehrlich sein soll.«

«Ich verstehe das nicht«, sagte Indiana im Tonfall ehrlicher Verblüffung.»Ich … ich wußte ja gar nicht, wo Ihr Versteck ist. Sie hatten mir die Augen verbunden. «Plötzlich fiel ihm etwas ein.»Ihr Leibwächter!«rief er.»Sie müssen von ihm — «

Ramos unterbrach ihn mit einer beinahe wütenden Bewegung.»Frank würde mich niemals verraten«, sagte er in einem Tonfall, der so scharf und aggressiv war, daß es Indiana nicht wagte, noch einmal zu widersprechen.»Sie sind es, der mich verraten hat, Dr. Jones. Wir hatten ein Abkommen, nicht wahr? Sie haben es gebrochen. Nun — jetzt werden Sie den Preis dafür zahlen.«

Indiana wollte protestieren, aber die beiden Männer in Ra-mos’ Begleitung zerrten ihn grob auf die Füße und stießen ihn so wuchtig gegen die Wand, daß ihm die Luft wegblieb. Beinahe automatisch hob er die Arme, um sich zu wehren, doch einer der Burschen trat zurück und zielte mit seiner Waffe auf Marian, und Indiana erstarrte mitten in der Bewegung wieder.

«Mitkommen!«befahl Ramos.

Der Mann mit der MP zerrte erst Marian, dann Marcus grob auf die Füße, während der andere Indiana roh auf den Gang hinausstieß, wo weitere Bewaffnete auf sie warteten. Indiana sah sich automatisch nach einer Fluchtmöglichkeit um, aber der Gang war denkbar ungeeignet, um einen Fluchtversuch zu wagen. Er führte in beiden Richtungen weiter, als man in der schwachen Beleuchtung erkennen konnte, aber er war auch so schmal, daß jeder, der auf sie schießen wollte, sie gar nicht verfehlen konnte.

Einer von Ramos’ Männern zog ein Messer und durch trennte damit Marians und Marcus’ Fußfesseln. Ihre Handgelenke blieben gebunden, und auch die Knebel wurden nicht entfernt.

«Wohin bringen Sie uns?«fragte Indiana.

Ramos machte eine Geste, die alles oder auch nichts bedeuten konnte.»An einen sicheren Ort, Dr. Jones«, antwortete er. Seine Augen wurden schmal, als er Indiana anstarrte. Sie konnten vielleicht nicht sehen, aber sie waren durchaus in der Lage, Haß auszudrücken.»Sie haben mich belogen, Dr. Jones«, sagte er.»Wir hatten ein Abkommen, nicht wahr? Wir — «

Erneut hörte Indiana das Geräusch eines Schusses, und diesmal war es so nahe, daß selbst Ramos mitten im Wort abbrach und den Kopf in die Richtung wandte, aus der das Geräusch gekommen war. Wieder fielen Schüsse, und fast im gleichen Moment hörten sie das Geräusch hastiger, trappelnder Schritte und das Zuschlagen einer Tür, beinahe unmittelbar gefolgt vom Splittern von Holz und den Schatten von zwei, drei Männern, die am linken Ende des nur schwach beleuchteten Ganges auftauchten. Hinter ihnen bewegten sich andere Gestalten.

Indiana setzte alles auf eine Karte. Ramos mitgerechnet, befanden sich insgesamt vier Gangster hier unten, und drei von ihnen waren mit Maschinenpistolen bewaffnet. Aber sie waren auch abgelenkt. Indiana machte einen blitzschnellen Schritt nach rechts, bemerkte eine Bewegung aus den Augenwinkeln auf der anderen Seite, duckte sich und trat gleichzeitig zu. Die hastige Bewegung raubte ihm selbst das Gleichgewicht, so daß er ungeschickt zu Boden stürzte, aber sein Fuß traf trotzdem zielsicher die Magengrube eines der Burschen und schleuderte ihn rücklings gegen einen zweiten Gangster. Die beiden stürzten zu Boden, wobei einer von ihnen den Abzug seiner Maschinenpistole durchriß. Das Krachen der Salve hallte in dem engen Gang wider wie eine Folge dröhnender Kanonenschläge, und Indiana zog instinktiv den Kopf zwischen die Schultern, als der Stollen plötzlich von heulenden Querschlägern und Funken erfüllt war. Dicht neben Marians Gesicht spritzte gelbes Feuer aus dem Stein, und der dritte Ganove, der gerade auf Indiana hatte anlegen wollen, griff sich plötzlich an die Schulter und sank mit schmerzverzerrtem Gesicht in die Knie. Aber damit hörte Indianas Glückssträhne dann auch schon auf.

Erst einmal rollte er herum und versuchte ungeschickt, auf die Beine zu kommen, aber das war mit auf dem Rücken gefesselten Händen gar nicht so einfach — vor allem deshalb, weil sich Ramos in diesem Moment herumdrehte und mit erstaunlicher Zielsicherheit nach Indianas Gesicht trat. Er verfehlte ihn, aber sein Fuß streifte Indianas Schulter und warf ihn ein zweites Mal nach hinten.

Wieder erklangen Schüsse und das Heulen von Querschlägern aus dem rückwärtigen Teil des Ganges, und einer der beiden anderen Ganoven, die sich gerade umständlich wieder in die Höhe rappelten, stürzte mit einem keuchenden Schrei nach vorn und blieb liegen. Indiana wälzte sich blitzschnell drei, vier Schritte zur Seite, um aus Ramos’ Reichweite zu gelangen, der mit wutverzerrtem Gesicht und kleine, krächzende Schreie ausstoßend, wild dort auf den Boden stampfte, wo er Indiana vermutete, und plötzlich war alles voller hastender, kämpfender Gestalten, voller Schreie und huschender Bewegungen; Ramos’ Männer stürmten in wilder Flucht den Gang entlang, dicht gefolgt von einem halben Dutzend Gestalten, unter denen Indiana auch Pat und Patachon zu erkennen glaubte.

«Die Frau!«kreischte Ramos.»Bringt sie mit!«

Zwei der neu hinzugekommenen Gangster stürzten sich unverzüglich auf Marian, die sich zwar mit verzweifelter Kraft wehrte, den beiden Burschen aber nichts entgegenzusetzen hatte. Indiana sprang entsetzt auf die Füße und zerrte mit aller Gewalt an seinen Fesseln, erreichte dadurch aber nur, daß die dünnen Lederriemen schmerzhaft in seine Haut schnitten. Ein Faustschlag traf ihn und warf ihn gegen die Wand, und noch während er hilflos in die Knie brach, sah er, wie ein anderer Gangster Marcus packte und ihn grob mit sich zerrte.

Die Angst um seinen Freund gab Indiana noch einmal neue Kraft. Er sprang hoch, rannte einen der Burschen, die sich ihm in den Weg stellen wollten, kurzerhand nieder und stürmte mit Riesenschritten hinter Ramos, Marian und Marcus und der flüchtenden Gangsterbande her. Hinter ihm schrie jemand seinen Namen; zwei, drei Schüsse krachten, und dicht vor ihm prallte eine Kugel gegen die Wand und heulte als Querschläger davon, aber er achtete auf nichts von alledem, sondern rannte nur noch schneller weiter.

Der Gang endete nach wenigen Schritten vor einer verschlossenen Metalltür, an der einer von Ramos’ Begleitern mit fliegenden Fingern herumfummelte. Zwei weitere Gangster hielten Marian und Marcus gepackt, während der vierte Bursche sich zu Indiana umwandte und ihm mit erhobenen Fäusten entgegentrat.

Indiana rannte ihn einfach über den Haufen, prallte ungeschickt stolpernd gegen den Gangster, der Marian gepackt hielt, und riß ihn durch die pure Wucht seines Anpralls von den Füßen. Auch er fiel, aber er stürzte so unglücklich (oder glücklich, das kam auf den Standpunkt an) auf den Gangster, daß dessen Kopf unsanft gegen den Boden prallte und er auf der Stelle das Bewußtsein verlor.

Während er sich noch aufrappelte, hatte Ramos’ Begleiter bereits das Schloß geöffnet, und die Tür schwang quietschend nach innen und gab den Blick auf einen Raum in völliger Dunkelheit frei. Ramos schrie etwas, das Indiana nicht verstehen konnte, doch fast im gleichen Moment fuhren zwei der Gangster herum und stürzten sich auf ihn. Indiana empfing den ersten mit einem Fußtritt vor das Knie, der den Kerl mit schmerzverzerrtem Gesicht zurücktaumeln ließ, aber der zweite packte ihn an den Jackenaufschlägen, riß ihn in die Höhe und schleuderte ihn mit solcher Wucht gegen die Wand, daß er für einen Moment nichts als bunte Sterne sah und schon wieder zu Boden zu stürzen drohte.

Er hörte Marian schreien, dann rief Marcus mit panikerfüllter Stimme seinen Namen und etwas anderes, was er nicht verstand, und plötzlich fühlte er sich gepackt und in die Höhe gerissen. Ein schemenhaftes Gesicht tauchte vor ihm auf. Indiana spannte sich in Erwartung eines weiteren Schlages, aber der kam nicht. Statt dessen klärten sich die treibenden Nebel vor seinem Blick, und er erkannte, daß es sich nicht um einen weiteren Gangster, sondern um einen von Reubens Männern handelte: Dessen Haar war schweißverklebt und das Gesicht vor Anstrengung gerötet, aber er trug den für FBI-Beamte typischen Anzug und eine Smith & Wesson Kaliber 38 in der rechten Hand. Mit der Linken hielt er Indiana gepackt und schüttelte ihn wild.

«Sind Sie in Ordnung, Dr. Jones?«fragte er.

Indiana machte eine Bewegung, die eine Mischung aus einem Kopfschütteln und einem Nicken darstellte, befreite sich unsicher aus dem Griff des FBI-Beamten und hätte dabei um ein Haar schon wieder das Gleichgewicht verloren.»Die Fessel«, stieß er hervor.»Schneiden Sie mich los, schnell!«

Während der FBI-Mann ein Messer aus der Tasche zog und an den dünnen Lederbändern um Indianas Handgelenken zu säbeln begann, warf der einen raschen Blick zurück in den Gang. Offensichtlich hatten Reubens Männer Ramos’ gesamte Bande vor sich her hier heruntergetrieben — zwei oder drei wehrten sich noch verbissen gegen die Übermacht bewaffneter Bundespolizisten, aber die meisten standen mit erhobenen Händen da oder krümmten sich am Boden.

Indiana atmete erleichtert auf, als seine Hände mit einem Ruck freikamen. Er verschwendete eine kostbare Sekunde darauf, seine Gelenke zu massieren und seine Finger zu bewegen, damit das Gefühl in seine tauben Hände zurückkehrte, dann fuhr er herum und stürmte auf die Tür zu, durch die Ramos zusammen mit Marian und Marcus verschwunden war. Hinter ihm schrie Reuben seinen Namen, und er hörte hastige trappelnde Schritte, aber er achtete gar nicht darauf, sondern rannte nur noch schneller, hob im Laufen eine Maschinenpistole auf, die einer von Ramos’ Killern fallengelassen hatte, und warf sich, ohne auch nur im Schritt innezuhalten, gegen die Tür.

Sie flog mit einem Krachen auf und prallte gegen die Wand. Indiana stolperte noch ein paar Schritte weiter, ehe er in vollkommener Dunkelheit stehenblieb und sich umsah. Das Echo seiner eigenen Schritte verriet ihm, daß er sich in einem sehr großen Raum befinden mußte, aber er sah absolut nichts. Das bißchen Licht, das vom Gang hinter ihm hereindrang, versik-kerte nach wenigen Schritten in der völligen Schwärze.

«Jones! Was, zum Teufel — «

Reubens Stimme brach ab, und als Indiana sich verärgert herumdrehte, sah er den Schatten des FBI-Mannes wie einen schwarzen Scherenschnitt in der Tür aufragen.

«Seien Sie still!«sagte er.»Sie sind hier irgendwo.«

Reuben antwortete nicht, sondern legte lauschend den Kopf auf die Seite, und nach einigen Augenblicken glaubte auch Indiana, gedämpfte Geräusche zu hören, die irgendwo vor ihnen in der Dunkelheit erklangen. Aber es war einfach nicht möglich, die Richtung auszumachen.

«Eine Lampe!«befahl Reuben.»Bringt eine Lampe hierher! Schnell!«

Indiana wich einige Schritte weiter in den Raum zurück, und Reuben hob erschrocken die Hand.»Bleiben Sie stehen, Jones!«sagte er.

Indiana blieb aber nicht stehen, sondern tastete sich im Gegenteil mit vorsichtig ausgestreckten Armen weiter in die Dunkelheit hinein, bis seine Finger auf kühlen, rauhen Widerstand stießen. Hinter sich hörte er Reuben fluchen und dann noch einmal und lautstark nach einer Lampe brüllen, aber er versuchte, das alles zu ignorieren und sich auf das leise Scharren und Tappen zu konzentrieren, das irgendwo vor ihm erscholl.»Links. «Er war jetzt fast sicher, das es von links kam.

Ohne auf Reubens Fluchen und immer lauter werdendes» Jo-nes«-Brüllen weiter zu achten, tastete er sich tiefer und tiefer in die Dunkelheit hinein, bis er unter seinen Fingern plötzlich keinen Stein mehr fühlte, sondern das rostige Metall einer Tür. Hastig suchte er nach der Klinke, drückte sie herunter und registrierte erleichtert, daß die Tür nicht verschlossen war.

Als er sie behutsam aufschob, sah er Licht. Es war nur ein Schimmer, ein blasser, gelber Streifen, der unter einer Tür sehr weit entfernt am Ende eines Ganges hervordrang, aber gleichzeitig wurden die Geräusche lauter, die er gehört hatte.

Indiana betete, daß in der Dunkelheit vor ihm niemand lauerte, wechselte die Maschinenpistole von der linken in die rechte Hand und stürmte los. Hinter ihm fiel die Tür, die er gerade geöffnet hatte, krachend wieder ins Schloß.

Als er das Ende des Ganges erreicht hatte, blieb er noch einmal für eine Sekunde stehen, atmete tief ein — und sprengte die Tür mit einem kräftigen Schulterstoß auf.

Vor ihm lag ein großer fast bis unter die Decke mit Kisten, Ballen, Ölfässern und allem möglichen anderen Gerumpel vollgestopfter Kellerraum. Eine einzelne, nackte Glühbirne verbreitete gelbe Helligkeit und mehr Schatten als Licht. Ramos, Marian, Marcus und zwei von Ramos’ Gangstern standen vor einer verschlossenen Tür am anderen Ende des Raumes und mühten sich offenbar vergeblich mit dem Schloß ab. Als Indiana hereingestolpert kam, drehte sich einer von ihnen erschrocken herum und hob eine Pistole.

Indiana drückte ganz instinktiv ab.

Es war purer Zufall — aber die MP-Salve schlug Funken aus der Wand neben dem Killer, und die letzte Kugel der Salve traf die Pistole, die er hielt, und riß sie ihm aus der Hand. Der Bursche taumelte mit einem Schmerzensschrei herum und umklammerte sein Handgelenk, während der zweite die Tür sein ließ und sich plötzlich ebenfalls zu Indiana herumdrehte, wobei auch er eine Maschinenpistole hob.

«Versuch das lieber nicht!«sagte Indiana und richtete seine Waffe drohend auf den Gangster.

Der Bursche erstarrte mitten in der Bewegung. Sein Blick flackerte, während er abwechselnd den zertrümmerten Revolver, seinen vor Schmerz wimmernd auf dem Boden knienden Kumpan und die Waffe in Indianas Hand betrachtete.

«Erschieß ihn!«befahl Ramos mit schriller Stimme.»Schieß ihn nieder!«

Der Mann zögerte, sichtlich hin- und hergerissen zwischen der Angst vor der Waffe in Indianas Hand und der vor Ramos. Die Furcht vor seinem Herrn und Meister war stärker. Plötzlich sprang er zur Seite und gab gleichzeitig einen Feuerstoß auf Indiana ab, aber der hatte die Bewegung im Ansatz gesehen und war seinerseits ausgewichen. Die MP-Salve zertrümmerte die Tür hinter ihm, und Indiana drückte gleichzeitig ab. Diesmal hatte er nicht so gut gezielt. Die Kugeln trafen den Gangster in Brust und Schulter und schleuderten ihn tot zu Boden.

«Erschieß ihn!«kreischte Ramos.»Bring den Kerl um!«

Indiana senkte langsam seine Waffe.»Geben Sie auf, Ra-mos«, sagte er.»Da ist niemand mehr, der Ihnen helfen könnte.«

Ramos’ ohnehin entstelltes Gesicht verzerrte sich noch mehr vor Wut. Mit einer Behendigkeit, die Indiana ihm niemals zugetraut hätte, fuhr er herum und packte Marian. Indiana fiel erst jetzt auf, daß es ihr irgendwie gelungen sein mußte, sich ihrer Fesseln zu entledigen, denn ihre Hände waren frei. Trotzdem machte sie keinen Versuch, sich zur Wehr zu setzen. Ramos zerrte sie herum, schlang von hinten den Arm um ihren Hals und tastete mit der anderen Hand nach einer Latte, die auf einer der zahllosen Kisten lag.»Keinen Schritt näher!«keifte er, während er wütend mit seiner improvisierten Keule in der Luft herumfuchtelte.

Indiana blieb tatsächlich mitten in der Bewegung stehen und hob seine Waffe, senkte die MP aber schon nach einer Sekunde wieder und legte sie vorsichtig zu Boden. Davon abgesehen, daß er kein Meisterschütze war, war eine Maschinenpistole keine Waffe, mit der man genau schießen konnte. Außerdem hatte er nicht vor, Ramos umzubringen.

«Geben Sie doch auf«, sagte er.»Es hat doch keinen Sinn mehr.«

Ramos schien da anderer Meinung zu sein. Während Indiana vorsichtig weiter auf ihn zuging, trieb Ramos Marian mit groben Stößen vor sich her und kam seinerseits auf ihn zu, wobei er immer wütender und heftiger in die Luft schlug.

Was er wirklich vorhatte, begriff Indiana einen Sekundenbruchteil zu spät.

Ramos’ Schläge waren keineswegs so ziellos, wie es anfangs den Anschein hatte. Indiana war vielleicht noch vier oder fünf Schritte von ihm und Marian entfernt, als die Latte klirrend gegen die Glühbirne prallte und sie zerschlug. Absolute Dunkelheit erfüllte, von einer Sekunde auf die andere den Raum.

Indiana fluchte, stürmte los und warf sich mit weit ausgebreiteten Armen in die Richtung, in der er Ramos und Marian vermutete. Er hörte einen Schrei, prallte gegen einen Körper, den er mit sich zu Boden riß, und begriff im gleichen Moment, daß es nur Marian war, nicht Ramos.

Als er sich wieder hochstemmte, hörte er ein irres Kichern vor sich in der Dunkelheit; gleichzeitig leise, schleifende Schritte, die er aber nicht genau orten konnte.»Nun, Dr. Jones?«fragte Ramos hämisch.»Glauben Sie immer noch, Sie hätten gewonnen?«

Indiana kam nicht zum Antworten. Er spürte, wie irgend etwas auf ihn zukam, dann traf ein fürchterlicher Schlag seine Schulter und schleuderte ihn erneut zu Boden. Er fiel, rollte sich instinktiv zur Seite und riß beide Arme über das Gesicht — den Bruchteil einer Sekunde, bevor er von Ramos’ Latte getroffen worden wäre.

Der Schlag ließ die Haut an Indianas Unterarmen aufplatzen. Er keuchte vor Schmerz und Überraschung, rollte sich abermals herum und trat blindlings in die Richtung, in der er Ra-mos vermutete, traf aber nichts.

Wieder hörte er rasche, ungleichmäßige Schritte und das irre Kichern des Gangsters.»Mein Kompliment, Jones«, sagte Ra-mos hämisch.»Sie hätten es fast geschafft. Aber eben nur fast.«

Auch diesmal spürte Indiana den Schlag zwar kommen, aber seine Reaktion war wieder nicht schnell genug. Ramos’ Knüppel traf seine rechte Schulter gerade, als er sich aufsetzen wollte und warf ihn hilflos zum dritten Mal zu Boden. Indiana biß die Zähne zusammen, rollte sich drei, vier, fünf Schritte zur Seite und nahm einen weiteren, wütenden Hieb gegen seine Rippen in Kauf, um auf die Füße zu kommen. Blitzschnell griff er zu, bekam Ramos’ Knüppel zu fassen und versuchte, ihn festzuhalten, aber der Blinde zerrte mit solcher Kraft daran, daß das einzige Ergebnis winzige Splitter waren, die in Indianas Händen zurückblieben.

Fluchend sprang er zurück, schloß die Augen und lauschte konzentriert auf Ramos’ Schritte und das Geräusch seines Atems. Der Blinde bewegte sich dicht vor ihm durch die Dunkelheit, aber es gelang Indiana nicht, genau auszumachen, wo er war.

Dafür schien Ramos um so besser zu wissen, wo er sich befand.

Ein weiterer Hieb traf Indianas Rippen und ließ ihn taumeln, und wieder kicherte Ramos wie irre.

Indiana versuchte, den Schmerz zu ignorieren, stürzte vor und streckte gleichzeitig die Arme aus. Er bekam irgend etwas zu fassen. Ein spitzer, wütender Schrei erscholl, dann fühlte er Haut und nachgiebigen Stoff unter den Fingerspitzen. Er versuchte, mit aller Kraft zuzupacken, aber Ramos entwand sich seinem Griff mit erstaunlicher Kraft und Geschicklichkeit und versetzte ihm einen weiteren Hieb mit seiner Latte.

Indiana taumelte zurück und prallte gegen einen Kistenstapel, der krachend zusammenbrach. Ramos kicherte schrill, setzte ihm nach und schlug abermals zu. Indiana entging dem Hieb durch eine instinktive Bewegung, und die Latte sauste so dicht an seinem Gesicht vorbei, daß er den Luftzug spüren konnte. Automatisch schlug er mit der geballten Faust zurück, traf aber wiederum nichts als schwarze Dunkelheit, und Ramos’ Kichern steigerte sich zu einem fast hysterischen Gelächter.

Indiana befreite sich fluchend aus dem Durcheinander von zerbrochenen Kisten und Brettern, wich ein paar Schritte weit in die Dunkelheit zurück und prallte abermals gegen ein Hindernis. Vor sich hörte er schleifende Schritte und die Geräusche eines Körpers, der sich mühsam, aber doch fast lautlos und mit großer Sicherheit in der Dunkelheit bewegte, und Indiana begriff, daß er diesen Kampf unmöglich gewinnen konnte. Die Dunkelheit war Ramos’ Element, in der er sich so sicher bewegte, wie es nur Blinde können, und der Moment war abzusehen, in dem Ramos ihn treffen und wirklich verletzen würde.

Als wäre dieser Gedanke ein böses Omen gewesen, spürte er in diesem Moment einen Luftzug, und etwas traf mit furchtbarer Wucht seine Schläfe und ließ ihn halb bewußtlos auf die Knie fallen. Er keuchte vor Schmerz, schlug schützend die Arme über das Gesicht und nahm zwei, drei weitere Hiebe hin, ehe es ihm gelang, wieder auf die Füße zu kommen, um sich durch einen wütenden Faustschlag, der zwar ins Leere ging, Ramos aber zurücktrieb, für einen Moment Luft zu verschaffen.

Licht. Er brauchte Licht. Er …

Seine rechte Hand fuhr in die Jackentasche und seine Finger schlossen sich um das Benzinfeuerzeug, das er darin trug. Hastig zog er es hervor. Seine Hände waren taub von den Hieben, die er eingesteckt hatte, und er brauchte drei Versuche, ehe die Funken den Docht in Brand setzten. Das Ergebnis war eine jämmerliche, blaue Flamme — aber der schwache Lichtschein reichte ihm, um den verkrüppelten Schatten erkennen zu können, der sich dicht vor ihm in der Dunkelheit bewegte.

Ramos blieb mitten im Schritt stehen. Er legte den Kopf auf die Seite, als würde er lauschen. Vielleicht hörte er die Flamme, dachte Indiana erschrocken, oder er spürte ihre Wärme. Auf jeden Fall schien er zu ahnen, daß etwas nicht stimmte, denn seine Bewegungen wurden plötzlich nervöser und hektischer. Seine improvisierte Keule fuhr zischend durch die Luft und verfehlte Indiana um weniger als einen halben Meter, aber jetzt, wo er seinen Gegner sehen konnte, fiel es Indiana nicht mehr schwer, seinen Hieben auszuweichen.

«Was tun Sie da?«fragte Ramos.»Ich erwische Sie, Jones. Sie sind tot! Ich werde Sie umbringen! Niemand stellt sich gegen mich!«

Wieder zischte seine Latte mit erstaunlicher Zielsicherheit dort durch die Luft, wo sich Indiana befunden hätte, wäre er nicht blitzschnell ausgewichen, und wieder stieß Ramos einen spitzen, enttäuschten Schrei aus.

Indiana wich einen weiteren kleinen Schritt zurück, machte dann eine rasche Bewegung zur Seite und trat im gleichen Moment zu, in dem Ramos dorthin schlug, wo er gerade noch gestanden hatte. Sein Fuß traf die Hand des Krüppels und prellte ihm das Brett aus den Fingern. Die hastige Bewegung ließ die Feuerzeugflamme erlöschen, aber Indiana fing sich sofort wieder und ließ das Feuerzeug erneut aufflammen.

Das blaugelbe Licht enthüllte Ramos’ Gestalt, die nur einen Schritt vor ihm stand — und einen zweiten, schlankeren und größeren Schatten, der sich dem Blinden lautlos von hinten genähert hatte.

Er konnte Marians Gesicht in der schwachen Beleuchtung nicht erkennen, aber dafür um so deutlicher die Klinge des Messers, das sie in den Händen hielt.

«Nein!«schrie Indiana.»Tu es nicht!«

Ramos’ Kopf ruckte mit einer erschrockenen Bewegung herum, und Indiana versuchte, ihn zu packen und zurückzureißen. Es gelang ihm gerade noch. Das Messer, das Marian mit beiden Händen gepackt hatte und jetzt mit aller Kraft niedersausen ließ, verfehlte Ramos’ Rücken, aber zum Dank stieß ihm der Blinde seine dürren Finger mit solcher Kraft ins Gesicht, daß Indiana vor Schmerz aufschrie. Mit der anderen Hand schlug er nach Indianas Rechter. Das Feuerzeug erlosch und flog davon. Erneut erfüllte absolute Dunkelheit den Raum.

Ramos begann sich wie von Sinnen zu winden und um sich zu schlagen. Seine Hände klatschten drei-, vier-, fünfmal hintereinander in Indianas Gesicht, wobei seine Knie immer wieder gegen Indianas Oberschenkel stießen, während er versuchte, seine Hoden zu treffen.

Indiana wirbelte den Blinden mit einem halblauten Fluch herum, umschlang seine Schultern von hinten mit den Armen und drückte mit solcher Kraft zu, daß Ramos keuchend die Luft ausstieß und Indiana seine Rippen knacken hören konnte.

«Hören Sie endlich auf, Sie Idiot!«sagte er.»Bevor ich wirklich wütend werde!«

Ramos kreischte vor Wut und begann mit den Beinen zu strampeln, und Indiana drückte noch ein wenig fester zu. Endlich stellte der Blinde seinen Widerstand ein.

«So«, sagte Indiana,»und jetzt werden wir uns — «

Ein furchtbarer Schmerz zuckte durch seinen linken Oberarm und setzte sich bis in den Hals und den Rücken fort. Indiana brüllte auf, ließ Ramos los, taumelte zurück und griff mit der rechten Hand zu. Er spürte kalten, schneidenden Stahl, der tief und schmerzhaft wie ein glühender Draht in seine Handfläche schnitt, dann eine schmale Hand, die den Messergriff hielt.

«Marian!«schrie er.»Ich bin es! Indy!«

Aber Marian hatte ihn entweder nicht gehört, oder sie war von Sinnen vor Angst. Mit einem Schrei riß sie sich los. Das Messer zog eine zweite, brennende Spur aus Schmerz über Indianas Oberarm. Er taumelte zurück, griff im Dunkel zum zweiten Mal nach Marians Handgelenk und bekam es diesmal richtig zu fassen. Mit aller Kraft drückte er zu, bis Marian mit einem Schmerzensschrei den Griff lockerte und das Messer klirrend zu Boden fiel. Trotzdem beruhigte sie sich nicht, sondern gebärdete sich im Gegenteil wie hysterisch und schlug und kratzte so wild nach seinem Gesicht, daß Indiana schließlich auch ihre andere Hand packen und festhalten mußte.

Eine Sekunde lang gelang es ihm sogar, sie festzuhalten. Dann hörte er ein schleifendes Geräusch neben sich und drehte erschrocken den Kopf genau im richtigen Moment, um das losgerissene Kistenbrett, das Ramos wieder aufgehoben hatte, direkt ins Gesicht zu bekommen.

Er war wohl nicht sehr lange bewußtlos, denn das nächste, was er wahrnahm, war das kalte, weiße Licht einer Taschenlampe, das durch seine geschlossenen Lider drang, aufgeregte Stimmen und das Echo vereinzelter Schüsse und Schreie.

Im ersten Augenblick wünschte er sich fast, nicht so schnell wieder zu sich gekommen zu sein. Sein Gesicht fühlte sich taub und verschwollen an, und sein linker Oberarm pochte unerträglich. Außerdem machte sich jemand nicht gerade sanft daran zu schaffen. Ein anderer jemand tastete mit den Fingerspitzen über sein Gesicht und hob schließlich eines seiner Augenlider an, so daß das Licht der Taschenlampe wie ein greller Schmerzpfeil in sein Gehirn schoß.

Indiana stöhnte, hob mühsam den unverletzten rechten Arm, um die Hand mit der Taschenlampe beiseite zu schlagen, und begriff eine Sekunde zu spät, daß er doch nicht so unverletzt war — Marians Messerklinge hatte eine schmerzende Furche in seiner Handfläche hinterlassen, die durch die unbedachte Bewegung sofort wieder zu bluten begann. Stöhnend ließ er die Hand wieder sinken.

«Bewegen Sie sich nicht, Dr. Jones«, sagte eine Stimme.

Indiana blinzelte, bewegte mühsam den Kopf und öffnete die Augen erst, als der grelle Schein der Taschenlampe weitergewandert war und ihn nicht mehr blendete. Jemand saß neben ihm und versuchte, mit einem herausgerissenen Streifen aus seinem eigenen Hemd die blutende Wunde in seinem Oberarm zu stillen, und Reuben lag auf der anderen Seite auf den Knien, fuchtelte mit einer Taschenlampe herum und blickte ihn mit einer Mischung aus Erleichterung, Vorwurf und Zorn an.

«Eigentlich erübrigt sich die Frage ja fast«, sagte Reuben,»aber trotzdem: Wie fühlen Sie sich?«

«Prächtig«, murmelte Indiana.»Was ist passiert? Wo sind Marian und Ramos?«

Reuben ignorierte seine Frage.»Ich weiß ganz ehrlich nicht, was mich mehr beeindruckt, Jones«, sagte er, und nun war der Zorn in seiner Stimme wirklich nicht mehr zu überhören.»Ihr Mut — oder Ihre Dummheit.«

«Was ist passiert?«fragte Indiana noch einmal. Er versuchte, sich aufzusetzen. Es ging, aber es tat sehr weh, und der Mann, der seinen Arm zu verbinden versuchte, warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu.

«Was, zum Teufel, ist in Sie gefahren, auf eigene Faust den Helden spielen zu wollen?«fragte Reuben zornig.»Ist Ihnen eigentlich klar, daß Sie jetzt ebensogut tot sein könnten?«

Indiana antwortete vorsichtshalber nicht darauf, und Reuben starrte ihn geschlagene zehn Sekunden lang durchdringend an, ehe er, ein wenig beruhigter, aber immer noch deutlich verärgert, fortfuhr.»Wir schätzen es nicht besonders, wenn Laien uns ins Handwerk pfuschen, Dr. Henry Jones. Wir haben Sie zwar um Ihre Hilfe gebeten, aber das heißt nicht, daß Sie jetzt zu jeder sich bietenden Gelegenheit den Wilden spielen können. Wieso haben Sie uns nicht gesagt, daß Sie einen Hinweis hatten?«

Indiana blickte ihn fragend an, und der Ausdruck auf Reubens Gesicht verdüsterte sich noch weiter.

«Wir haben mit Dr. Benson gesprochen, Jones. Es hat also ziemlich wenig Sinn, irgend etwas zu leugnen.«

«Habe ich das getan?«

«Und was sollte das hier?«Reuben machte eine ausholende Handbewegung.»Wollten Sie Ramos’ Festung ganz allein stürmen? Verdammt, ich habe Ihnen gesagt, daß wir Marian Corda und Ihren Freund finden werden.«

«Und woher sollte ich das wissen?«

«Sie hätten mir nur zuzuhören brauchen«, gab Reuben zornig zurück.

Indiana blickte ihn mit wachsender Verwirrung an. Er fühlte sich nicht nur körperlich miserabel — er hatte plötzlich das immer stärker werdende Gefühl, sich ziemlich dumm benommen zu haben.

«Haben Sie sich vorhin gar nicht gefragt, wo wir so plötzlich hergekommen sind?«fragte Reuben.

Indiana schwieg.

«Ich weiß, daß man das FBI im allgemeinen für dümmer hält, als die Polizei erlaubt«, fuhr Reuben fort. Indianas beharrliches Schweigen machte ihn offensichtlich immer zorniger.»Aber das sind wir nicht. Wir haben nicht einmal zwei Stunden gebraucht, um Ramos’ Unterschlupf ausfindig zu machen. Und hätten Sie das Ganze hier uns überlassen, statt allein und auf eigene Faust den Helden spielen zu wollen, dann wäre das alles nicht passiert.«

«Was?«fragte Indiana kleinlaut.

«Diese ganze verdammte Schweinerei!«erklärte Reuben aufgebracht.»Zwei meiner Männer sind schwerverletzt, und zwei oder drei von Ramos’ Leuten sind tot. Und genau das wollten wir verhindern. Aber nachdem Sie sich von diesen Burschen haben schnappen lassen, hatten wir keine andere Wahl mehr, als den Laden zu stürmen.«

Indiana senkte betreten den Blick, aber er spürte, wie Reuben ihn weiter wütend anstarrte und auf eine Antwort wartete. Schließlich fragte er, nur um überhaupt etwas zu sagen:»Wo ist Ramos?«

Reuben schnaubte.»Wissen Sie, Jones«, sagte er,»ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht für Sie. Welche wollen Sie zuerst hören?«

«Fangen Sie mit der schlechten an«, sagte Indiana.

«Die gute«, sagte Reuben ungerührt,»ist, daß Marian Corda frei und unverletzt ist. Sie war ein bißchen hysterisch, aber sie beruhigt sich schon wieder.«

Indiana sah auf und blickte Reuben fest ins Gesicht.»Und die schlechte ist, daß Ramos entkommen ist«, vermutete er.

Reuben nickte.»Ja. Er und zwei seiner Handlanger. Aber das ist nicht die schlechte Nachricht.«

«Sondern?«fragte Indiana alarmiert.

«Sie sind weg«, antwortete Reuben.»Und sie haben Ihren Freund Marcus Brody mitgenommen.«

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