Sie hatten noch lange mit dem alten Häuptling geredet. Die Erkenntnis, daß der Aymará seine Gedanken so mühelos las wie er selbst ein aufgeschlagenes Buch, hatte Indiana bis ins Innerste erschüttert. Er wußte, daß der Alte die Wahrheit sagte. Er hatte vom ersten Moment an gewußt, wer sie waren und was sie wirklich hier suchten, ebenso wie er vom allerersten Moment an Corda und später Ramos durchschaut hatte. Indiana versuchte erst gar nicht, eine Erklärung dafür zu finden, warum der alte Mann diese unheimliche Macht besaß. Er hatte sie, und Indiana konnte sie so deutlich fühlen, daß er erst gar nicht auf den Gedanken kam, sie anzuzweifeln.
Auch Reuben war sichtlich erschüttert gewesen — aber im Gegensatz zu Indiana gab er seine eigenen Pläne nicht auf. Fast eine Stunde lang redete er weiter auf den Alten ein, versuchte ihn mit Vernunftsargumenten zu überzeugen, bettelte, flehte und drohte ihm schließlich ganz unverblümt. Natürlich nutzte nichts von alledem. Der Alte blieb bei seiner beharrlichen Weigerung, sie gehen zu lassen, und seiner Behauptung, daß das Gold von El Dorado sich selbst am besten zu schützen wüßte, ohne dies indes zu erklären. Als er schließlich ging, verabschiedete er sich mit den Worten, daß er am nächsten Morgen zurückkommen und ihre Entscheidung verlangen würde.
Als Indiana erwachte, quälten ihn sonderbare Gefühle. Er hatte leichte Kopfschmerzen, und zwischen seinen Schläfen saß ein dumpfer Druck, der ihm das Denken schwermachte. Im nachhinein kam ihm das, was er am vergangenen Abend erlebt hatte, fast wie ein Traum vor — und auch die Erinnerung an das Gespräch mit dem alten Häuptling war wie der Nachklang eines Traums; klar, aber nicht ganz real.
Benommen richtete er sich auf. Er war nicht der einzige, der an diesem Morgen Mühe zu haben schien, richtig wach zu werden. Außer Marcus, der wie ein ganzes Sägewerk schnarchte, und Henley, der nicht mehr fantasierte, aber in den tiefen, fast an eine Betäubung grenzenden Schlaf eines Kranken versunken war, waren alle anderen bereits wach und hatten sich aufgesetzt. Aber die Gesichter, in die er blickte, wirkten so benommen und verwirrt, wie er selbst sich fühlte. Die Bewegungen der Männer waren unsicher und fahrig, und als er sich umdrehte und in Reubens Gesicht blickte, las er in dessen Augen im ersten Moment nichts als Verwirrung, fast als hätte er Mühe, sich in Erinnerung zu rufen, wo er überhaupt war und warum.
Und es wurde nicht besser. Die Indios brachten ihnen zu essen und frisches Wasser, kurz darauf erschien der Aymará-Häuptling wieder, und die ganze Zeit über hielt das irreale Gefühl in Indiana an, das alles nicht wirklich zu erleben, sondern nur zu träumen.
Als die Sonne aufging, hörten sie dann die Schüsse.
Zuerst war Indiana nicht einmal sicher, ob er sich den Lärm nicht nur einbildete. Aber die Salven kamen rasch näher und nahmen nicht nur an Lautstärke, sondern auch an Heftigkeit zu — in das anfangs nur vereinzelt krachende Gewehrfeuer mischten sich bald das hämmernde Stakkato von automatischen Waffen, Schreie und dumpfe Explosionen und dann und wann ein furchtbares Zischen und Prasseln, von dem Indiana nur zu gut zu wissen glaubte, was es bedeutete.
Sie waren aufgeregt aufgesprungen und zum Höhlenausgang gestürmt, aber der davor postierte Indio verwehrte ihnen auch jetzt den Weg; stumm, aber beharrlich. Hinter ihm huschten die roten Lichtreflexe von Flammen über die Felsen, und die Schüsse und Schreie waren jetzt so nahe, als tobe direkt vor dem Höhleneingang eine Schlacht. Wahrscheinlich war es so.
«Verdammt, was ist da los?«fragte Reuben aufgeregt.»Ra-mos! Das müssen Ramos und seine Leute sein!«Er machte einen weiteren Schritt auf den Indio am Eingang zu, und der Aymará hob drohend seine Keule. Reuben blieb stehen. Aber Indiana konnte sehen, wie es in seinem Gesicht arbeitete. Sie waren zwar unbewaffnet, aber immerhin zu acht.
Hastig trat er vor Reuben, ging auf den Indio zu und begann mit den Händen zu gestikulieren.»Du mußt uns durchlassen!«sagte er.»Wir sind nicht eure Feinde! Ruf deinen Häuptling! Wir … wir können euch helfen!«
Der Indianer blickte ihn an und grinste dämlich. Offensichtlich hatte er kein Wort verstanden. Oder er wollte sie nicht verstehen.
Indianas Blick wanderte fast verzweifelt zum Ausgang. Das MP-Feuer hatte für einen Moment aufgehört, aber der Kampf war noch nicht vorbei — ganz im Gegenteil. Das Schreien und die Geräusche hastender Schritte kamen immer näher, und plötzlich hämmerte eine MP so dicht vor dem Höhleneingang los, daß selbst der Aymará erschrocken zusammenfuhr — ohne allerdings auch nur einen Deut von seinem Platz zu weichen.
Der Kampf tobte noch eine gute viertel Stunde, ehe sich die Schüsse und Schreie langsam wieder entfernten. Und auch dann verging noch eine geraume Weile, ehe der Wächter endlich zur Seite trat, um dem Häuptling Platz zu machen.
«Was ist passiert?«fragte Indiana aufgeregt.»Das war Ra-mos, nicht wahr?«
Der Aymará bedachte ihn mit einem Blick, der Indiana klarmachte, wie überflüssig diese Frage gewesen war, und in dem sich zugleich eine tiefe Resignation wie ein körperloser Schmerz spiegelten. Ohne auf die Frage zu antworten, wandte er sich wieder um und gab ihnen mit einer Handbewegung zu verstehen, sie sollten ihm folgen.
Es war hell geworden, aber noch nicht richtig Tag. Die nördliche Hälfte der Welt bestand aus grauem Nebel, der alles verschlang, was weiter als zwanzig oder dreißig Schritte entfernt war.
Aber was Indiana auf diesen zwanzig oder dreißig Schritten sah, war fast mehr, als er sehen wollte. Zwischen den Felsen lagen tote und verwundete Indianer. Hier und da brannte es noch, und in der Luft hing der Geruch von heißem Stein, verbranntem Benzin und verkohltem Fleisch. Manchmal drang ein leises Stöhnen aus dem Nebel. Die Aymará hatten einen furchtbaren Preis für den Versuch bezahlt, Ramos’ Söldnerheer aufzuhalten. Und Indiana mußte den Alten nicht fragen, ob es ihnen gelungen war.
Auch Reuben war blaß geworden, obwohl ihn das, was sie erblickten, im Grunde ebensowenig hätte überraschen dürfen wie Indiana. Auf seinem Gesicht mischten sich Zorn und Hilflosigkeit miteinander.
«Ich hoffe, du bist jetzt zufrieden, alter Mann!«sagte er mit zitternder Stimme. Wütend deutete er auf die Toten.»Das da ist ganz allein deine Schuld! Du wolltest mir nicht glauben, wie? Ich habe dir vorhergesagt, was passieren würde, wenn ihr versuchen solltet, Ramos mit Gewalt aufzuhalten!«
«Hören Sie schon auf, Reuben«, sagte Indiana müde.»Bitte!«
Reuben funkelte ihn böse an, und für einen Moment sah es so aus, als würde sich sein Zorn nun auf Indiana entladen. Doch dann wich die Wut so abrupt wieder aus seinem Blick, wie sie aufgeflammt war. Im Grunde, das begriff Indiana plötzlich, war er nicht wirklich wütend gewesen. Wahrscheinlich war dies einfach seine Art, mit dem Entsetzen fertig zu werden.
«Wahnsinn«, flüsterte er.»Mit Pfeil und Bogen gegen Flammenwerfer und MPs. Wahnsinn!«
«Wo sind sie?«fragte Indiana.
Der Aymará machte eine unbestimmte Geste in den Nebel.»Dort. Auf dem Weg zum Gipfel. Meine Männer verfolgen sie — aber keine Sorge«, fügte er rasch hinzu, als er Indianas Erschrecken bemerkte,»sie werden sie nicht mehr angreifen.«
«Das hätte nicht passieren müssen«, flüsterte Reuben.»Wir hätten euch geholfen, du alter Narr. Zusammen hätten wir es geschafft.«
«Um noch mehr Blut zu vergießen?«Der Häuptling schüttelte traurig den Kopf.»Was geschehen muß, wird geschehen. Es ist der Wille der Götter, der zählt, nicht die Pläne der Menschen. Die Mörder werden ihrer Strafe nicht entgehen.«
Indiana blickte sekundenlang in die Richtung, in die der alte Mann gedeutet hatte, aber er sah dort nichts als grauen, undurchdringlichen Nebel. In der anderen Richtung erstreckte sich ein sanft abfallender, steiniger Hang, aus dem nur spärliche Pflanzen wuchsen. Als die Indios sie hierhergebracht hatten, war Indiana viel zu erschöpft gewesen, um auf seine Umgebung zu achten; jetzt begriff er, daß sich die Höhle offensichtlich in der Flanke eines Berges befand, der den Dschungel überragte und dessen Gipfel in diesem immerwährenden Nebel verborgen war. Indiana wußte einfach, daß sich dieser Nebel niemals lichtete. Und daß er niemals aufgerissen war, seit dieser Berg existierte.
Auch das gehörte zu dieser sonderbaren Nicht-Realität, in der er sich seit seinem Erwachen gefangen fühlte: daß es Dinge gab, die er einfach wußte, ohne daß es eines Beweises bedurft hätte.
Mit einer Mischung aus Furcht und Resignation wandte er sich an den Aymará-Häuptling.»Und was geschieht jetzt mit uns?«fragte er.
«Ich habe nachgedacht und mich mit meinen Brüdern beraten«, antwortete der Alte.»Ich glaube, wir können euch vertrauen. Ihr seid nicht wie die anderen, die herkamen, um nach Reichtum zu suchen. Ihr könnt gehen. Meine Krieger werden euch bis zum Fluß führen. Von dort werdet ihr den Weg zurück allein finden. Es ist nicht leicht, aber ihr könnt es schaffen.«
«Und Henley?«fragte Reuben.
«Euer Kamerad kann hierbleiben, bis er weit genug genesen ist, euch zu folgen«, antwortete der Alte.»Keine Sorge — ihm wird nichts geschehen.«
«Du läßt uns … einfach so gehen?«vergewisserte sich Indiana zweifelnd.
«Ich sagte bereits — ihr seid nicht wie die anderen, die vor euch kamen«, wiederholte der Alte.»Ich vertraue euch.«
Aber das war nicht die ganze Wahrheit. Auch das spürte Indiana deutlich, als er in die Augen des alten Mannes blickte. Er würde sein Wort halten und sie gehen lassen — es gab für ihn keinen Grund, ihnen etwas vorzuspielen, um sie dann irgendwo dort unten im Wald hinterrücks ermorden zu lassen. Hätte der Alte ihren Tod gewollt, dann hätten sie das gekenterte Boot im Fluß niemals verlassen. Und doch wußte Indiana, daß noch etwas geschehen würde, bevor er sie gehen ließ.
Aber ehe er noch eine entsprechende Frage stellen konnte, geschah etwas Unheimliches.
Es war Indiana plötzlich unmöglich, seinen Blick von dem des Alten zu lösen. Er sah in Augen, die direkt bis auf den Grund seiner Seele zu blicken schienen und die … etwas darin berührten. Jeder Zweifel an der Aufrichtigkeit des alten Mannes, jeder Gedanke an den Grund ihres Hierseins, ja, selbst die Erinnerung an Corda, an Ramos und selbst Marian — das alles verblaßte und wurde unwichtig. Es war noch da, aber es war plötzlich so, als spielte das alles keine Rolle mehr, als wäre alles Teil eines Traumes, der realistisch gewesen war, aber keinerlei Einfluß auf sein wirkliches Leben hatte.
Lange, unendlich lange, wie ihm schien, stand der Aymará einfach da und sah ihn an, dann wandte er sich langsam um und richtete seinen unheimlichen Blick auf Reuben, und Indiana konnte sehen, wie auch in den Augen des FBI-Beamten etwas erlosch. Für einen Moment spiegelte sich Schrecken auf Reubens Gesicht, dann verging auch der, und zurück blieb eine tiefe Gelassenheit, die nichts mehr erschüttern konnte.
Nacheinander ging der Aymará von Mann zu Mann, der unheimliche, aber trotzdem nicht erschreckende Vorfall wiederholte sich bei jedem einzelnen. Auf einer tieferen Ebene seines Bewußtseins begriff Indiana sehr wohl, daß die unheimliche Macht dieses Mannes sich nicht darauf beschränkte, Gedanken zu lesen; sondern auch, sie zu beherrschen. Aber er versuchte vergeblich, Zorn darüber zu empfinden.
Sie brachen auf, diesmal nur von zweien der mißgebildeten Aymará-Krieger und ihrem Häuptling selbst begleitet. Niemand sprach, niemand versuchte sich den Anweisungen des Aymará zu widersetzen. Selbst Reuben ging wortlos neben dem alten Mann und seinen beiden monströsen Begleitern her, während sie sich langsam den Berghang wieder hinabbewegten und sich der Wechsel von Felsen zu Pflanzenwuchs und wieder zu Felsen vor ihnen vollzog.
Der Nebel lichtete sich nur langsam. Gut eine Stunde lang marschierten sie durch feuchtes Grau, ehe das erste Mal wieder die Sonne durch eine Lücke im Blätterdach zu ihnen herabschien. Und jeder einzelne Schritt, den sie in dieser Stunde taten, schien sie ein Stück fort in eine andere Wirklichkeit zu bringen, in eine Welt, in der es die Tage seit ihrer Rettung aus dem gekenterten Boot am Ende einfach nicht mehr geben würde. Dieser Gedanke erfüllte Indiana schließlich doch mit Zorn — nein, nicht Zorn, sondern eher mit einer Mischung aus Verbitterung und Trauer. Er fand es ungerecht, daß ihm diese Tage seines Lebens einfach genommen werden würden, herausgerissen wie Seiten aus einem Buch, auf denen ein furchtbares Geheimnis aufgeschrieben war. Doch auch dieser Gedanke entglitt ihm schließlich wieder. Mit Schritten, die so monoton waren wie die eines Automaten, bewegte er sich zwischen den anderen dahin, tiefer in den Dschungel hinein und fort von dem Weg, hinter dessen himmelstürmenden Flanken sich vielleicht eines der letzten großen Geheimnisse dieser Welt verbarg.
Sie traten auf eine schmale Lichtung im Wald hinaus, als eine plötzliche Windböe den Nebel über ihnen auseinanderriß. Nicht lange und nicht völlig; der Gipfel des Berges war noch immer hinter grauen Schleiern verborgen und würde es auch immer bleiben, aber Indiana konnte doch erkennen, daß er viel höher war, als er bisher angenommen hatte, und die Form eines stumpfen Kegels mit steilen Wänden hatte. Vermutlich der Krater eines erloschenen Vulkans.
Und auf halber Höhe bewegte sich eine Kette winziger menschlicher Gestalten.
Indiana blieb stehen und sah zu den ameisengroßen Figuren hinauf, bis sich die Lücke im Nebel wieder schloß und sie seinen Blicken wieder entzog. Aber auch dann ging er nicht weiter, sondern sah in den Nebel empor.
Auch Marcus war stehengeblieben, und nach einigen Augenblicken machte auch Reuben kehrt, kam die wenigen Schritte zu ihm zurück und legte den Kopf in den Nacken, um in die gleiche Richtung blicken zu können wie Indiana.»Was haben Sie?«fragte er. Seine Stimme klang dünn und flach; so, als interessiere ihn seine eigene Frage im Grunde gar nicht.
«Ramos«, sagte Indiana.»Ich glaube, dort oben sind Ramos und seine Männer.«
Beim Klang dieses Namens schien für Augenblicke etwas in Reubens Blick wieder zu erwachen. Das Flackern erlosch jedoch, bevor es zu einer Flamme werden konnte, und erneut breitete sich die bisherige Gleichgültigkeit auf seinen Zügen aus.
«Kommen Sie, Dr. Jones«, sagte der Aymará-Häuptling, der ebenfalls stehengeblieben war.»Der Weg, der vor uns liegt, ist noch weit.«
Aber Indiana reagierte diesmal nicht, sondern blickte weiter zu der Stelle in dem grauen Nichts empor, an der er die Bewegung erspäht hatte.»Da sind Ramos und seine Söldner.«
Ein Schatten huschte über das Gesicht des Häuptlings.»Ich weiß.«
«Und ihr laßt sie einfach so hindurch?«
«Wir konnten sie nicht aufhalten«, antwortete der Aymará.
«Sie haben es selbst gesehen — wir sind ihnen nicht gewachsen. Vielleicht hätten wir sie schließlich doch aufhalten können, aber es hätte das Leben vieler meiner Brüder gekostet, und dieser Preis wäre zu hoch gewesen. Sie sind gekommen, weil sie Gold suchten. Sie werden Gold finden. Aber der Weg ins Tal der Götter führt nur in eine Richtung.«
«Ich verstehe«, murmelte Indiana.»Ihr laßt sie hinein — aber nicht wieder hinaus.«
Er las die Antwort auf seine Frage in den Augen des alten Mannes, wenn dieser auch kein Wort sagte, und ein Gefühl tiefer Trauer überkam ihn. Trotz allem waren Ramos und seine Begleiter Menschen, Verbrecher vielleicht, Mörder und Diebe, aber immer noch Menschen, und es widerstrebte ihm einfach, ein Dutzend Männer in den sicheren Tod gehen zu lassen, ohne etwas dagegen zu unternehmen; ganz gleich, was sie getan hatten.
Und plötzlich begriff er, daß es nicht nur Ramos und seine Söldner waren, die sich auf dem Weg zum Gipfel des Berges befanden.
Marian.
Marian war bei ihnen.
Der Gedanke tat ihm weh, unendlich weh. Indiana vermochte nicht einmal zu sagen, was schlimmer war — Angst, nein, das sichere Wissen, daß sie zusammen mit Ramos und den anderen dort oben sterben würde, oder der Schmerz über den Verrat, den sie begangen hatte. Wahrscheinlich beides.
In den Augen des alten Aymará erschien ein Ausdruck tiefen, ehrlich empfundenen Mitleids.»Sie irren sich, Dr. Jones«, sagte er.»Sie hat Sie nicht verraten. Sie ist von allen die einzige, die nicht dorthin geht, weil sie Gold sucht. Sie mußte tun, was sie getan hat, aber sie hat Sie nicht verraten. Keine Sekunde lang.«
Indiana starrte den Alten an, und plötzlich war es, als würde der Schleier, der bisher über seinen Gedanken gelegen hatte, mit einem Ruck entzweigerissen. Es war wie ein blitzartiges, fast körperlich schmerzendes Erwachen. Zum ersten Mal an diesem Tag war er wieder völlig Herr seiner Gedanken und seines Willens.
«Ich muß sie zurückholen!«sagte er entschlossen.
«Das geht nicht«, sagte der Aymará ruhig.»Ich kann es nicht zulassen.«
«Dann müßt ihr mich schon umbringen«, erwiderte Indiana trotzig. Er machte eine Kopfbewegung zum Gipfel des Vulkankraters hinauf.»Dort oben erwartet sie der sichere Tod. Ich werde nicht zusehen, wie sie in ihr Verderben rennt.«
«Es ist zu spät«, sagte der alte Mann.»Ihr Vorsprung ist schon zu groß. Selbst wenn ich es zulassen würde — Sie könnten sie niemals einholen, ehe sie den Gipfel erreichen.«
«Ich muß es wenigstens versuchen!«protestierte Indiana.
Der alte Mann blickte ihn traurig an.»Ich lasse Sie gehen, Dr. Jones. Weder ich noch einer meiner Krieger wird versuchen, Sie aufzuhalten. Aber auch Sie werden den Tod finden. Der Fluch von El Dorado macht keinen Unterschied zwischen Gut und Böse. Niemand kehrte je zurück.«
«Unsinn!«widersprach Indiana heftig.»Corda hat den Rückweg gefunden, und zumindest einer der Conquistadoren muß es auch geschafft haben, denn sonst wäre die Legende von El Dorado wohl kaum entstanden, nicht wahr?«
Der Alte antwortete nicht darauf. Aber er unternahm auch keinen Versuch, Indiana aufzuhalten, als sich dieser nach einigen weiteren Augenblicken mit einem Ruck umdrehte und in die Richtung zurückzugehen begann, aus der sie gekommen waren.
Je höher er kam, desto dichter war der Nebel geworden, bis er sich schließlich durch eine graue Unendlichkeit bewegte, in der er selten weiter als zwei oder drei Schritte sehen konnte und in der er sich schon nach wenigen Augenblicken hoffnungslos verirrt hätte, wäre er nicht einfach der Steigung des Berges gefolgt.
Indiana konnte später nicht sagen, wie lange er gebraucht hatte, um den Kraterrand zu erreichen. Das Fehlen der Sonne machte es unmöglich, die Tageszeit zu bestimmen — aber er schätzte, daß sich der Tag bereits wieder seinem Ende zuneigte und ihm allerhöchstens noch zwei oder drei Stunden Helligkeit blieben. Aber vielleicht war das ja genug.
Er hatte Ramos’ Spur wiedergefunden, und das war nicht einmal Zufall. Indiana war stundenlang durch das Gewirr aus Felsen und jäh aufklaffenden Spalten und Schluchten geirrt, bis er schließlich auf einen gewundenen, an der Flanke des Vulkans steil in die Höhe führenden Pfad gestoßen war. Wahrscheinlich gab es nur diesen einen Weg zum Kraterrand hinauf. Er war zum Teil auf natürlichem Wege, zum Teil aber auch eindeutig von Menschenhand erschaffen worden — Indiana kam mehrmals an gewaltigen Felsen vorüber, die offensichtlich gewaltsam gespalten oder aus dem Weg geräumt worden waren, und mehrmals stieß er auf in den Stein gemeißelte Stufen. Wahrscheinlich hatten die Vorfahren der Aymará diesen Pfad geschaffen, um das Gold abzutransportieren, das ihrem Volk beinahe den Untergang gebracht hätte.
Und es war nicht zu übersehen, daß kurz vor ihm andere Menschen hier entlanggegangen waren. Ramos’ Männer waren nicht sehr achtsam gewesen — Indiana stieß auf Zigarettenkippen, Stoffetzen, vergessene oder verlorene Stücke ihrer Ausrüstung … Offensichtlich rechneten die Goldgräber nicht mehr damit, noch verfolgt zu werden. Oder es war ihnen vollkommen gleich — was aus ihrer Sicht auch naheliegend schien. Schließlich mußten sie Indiana und die anderen für tot halten, und wie hoffnungslos unterlegen ihnen die Indios mit ihren primitiven Waffen waren, das hatte das Gemetzel im Dorf auf furchtbare Weise demonstriert.
Kurz bevor er den Kraterrand erreichte, legte Indiana eine letzte Rast ein, und als er weiterging, sah er den Schatten.
Er war nicht einmal ganz sicher, ob die Bewegung wirklich da war oder ob er sie sich nur einbildete. Ob vor ihm wirklich etwas war oder ob er nur das Wogen eines Nebelfetzens gesehen hatte. Trotzdem machte sein Herz einen erschrockenen Sprung, und er erstarrte für Sekunden mitten im Schritt und wagte nicht einmal zu atmen. Sein Blick bohrte sich in die graue Wand aus gestaltloser Watte vor ihm. Er lauschte angespannt, aber er sah nichts außer treibenden, feuchten Schwaden und hörte nichts außer dem Hämmern seines eigenen Herzens.
Und trotzdem war er mit einem Mal völlig sicher, sich nicht getäuscht zu haben. Vor ihm war etwas, und es war keiner von Ramos’ Männern, der vielleicht zurückgeblieben war, um den Rücken der kleinen Söldnertruppe zu decken.
Vielleicht, dachte er, verließ sich der Häuptling der Aymará doch nicht ganz so sehr auf den Fluch von El Dorado, wie er sie alle hatte glauben machen wollen. Er blieb noch einen Moment stehen und lauschte, dann gab er sich einen Ruck und ging weiter, so schnell es ihm möglich war.
Er sah den Schatten noch zwei weitere Male, ehe er den Gipfel erreichte, und einmal hörte er ein Stück über sich das Kollern eines Steines und dann einen dumpfen Laut, den er nicht richtig einzuordnen vermochte, der aber fast eindeutig aus einer menschlichen Kehle kam.
Doch endlich hörte der Boden unter seinen Füßen auf, in immer steilerem Winkel anzusteigen. Der Nebel war noch dichter geworden, so daß er jetzt nur noch gut zwei Meter weit sehen konnte, aber vor ihm lag jetzt ebenes, von Lavabrocken und Geröll bedecktes Gelände, und Indiana konnte die Tiefe dahinter regelrecht fühlen.
Wieder blieb er stehen und sah sich um. Sein Herz begann zu hämmern, und seine Hände wurden feucht vor Aufregung. El Dorado … Er wußte, daß er es gefunden hatte. Was immer sich hinter diesem Wort wirklich verbarg, in wenigen Augenblicken würde er es sehen, und die Erregung, die ihn bei diesem Gedanken überkam, war für Augenblicke stärker als seine Furcht. Es war dasselbe Gefühl, das ihn zu dem gemacht hatte, was er jetzt war. Jener unstillbare Wissensdurst, die Besessenheit des wirklichen Forschers, die kaum mehr etwas mit rein wissenschaftlicher Neugier zu tun hatte, sondern tiefer in seiner Seele wurzelte, in Bereichen, die er in seinem bewußten Denken niemals auszuloten vermocht hatte, jener manchmal an Tollkühnheit grenzende Mut, der nichts mit jener die Gefahr verachtenden Dummheit zu tun hatte, die die meisten Menschen fälschlicherweise für Mut hielten — dies alles hatte ihn zu dem Mann gemacht, der er war. Wenn er auf etwas stieß, das ihn interessierte, das ihn wirklich interessierte, dann gab es meistens einen Punkt, an dem er nicht mehr zurück konnte, selbst wenn er das wollte. Aber er gestand sich erst jetzt ein, daß er diesen Punkt schon längst überschritten hatte. Er war hier, um Marian zu retten, aber das war nicht der alleinige Grund. Der wirkliche Grund war, daß er einfach wissen mußte, was sich hinter dieser Mauer aus Lava und Nebel verbarg.
Minutenlang blieb er reglos stehen und genoß einfach das prickelnde Gefühl, das ihn durchströmte.
Als er weiterging, hörte er plötzlich wieder ein Geräusch hinter sich. Indiana zwang sich, ganz ruhig einen weiteren Schritt zu machen — und fuhr ansatzlos und blitzartig herum.
Ein verzerrter Schatten bewegte sich durch den Nebel auf ihn zu. Riesig, taumelnd und beinahe lautlos näherte er sich ihm, ein monströses Etwas, das im selben Moment aufgetaucht war, in dem er die unsichtbare Grenze zwischen dem Land der Menschen und dem der Götter überschritt. Vielleicht hatte er sich in dem alten Indio doch getäuscht. Vielleicht hätte er seine Warnung ernster nehmen sollen, als er es tat. Aber zumindest würde er gleich herausfinden, ob die unheimlichen Indios wirklich so stark waren wie sie aussahen.
Der Schatten näherte sich schnell und mit fast grotesk aussehenden, torkelnden Bewegungen. Indiana wich einen halben Schritt zurück, spannte sich — und warf sich mit weit ausgebreiteten Armen nach vom.
Die Gestalt registrierte seinen Angriff und versuchte darauf zu reagieren, aber ihre Bewegung kam zu spät. Ungeschickt versuchte sie, zur Seite auszuweichen und zugleich nach Indiana zu schlagen, aber der warf sich mitten im Sprung herum, duckte sich unter einem Fausthieb weg und riß den Mann durch die pure Wucht seines Anpralls von den Füßen. Ein gequälter Schrei erscholl, als sie aneinandergeklammert auf den mit scharfkantiger Lava übersäten Boden prallten und ein Stück weit davonrollten. Scharfe Fingernägel kratzten über Indianas Gesicht, und ein Knie stieß zwei- oder dreimal hintereinander in seinen Leib, so daß er fast hören konnte, wie seine Rippen ächzten. Dann hatte er sich herumgeworfen und den anderen unter sich, preßte ihn mit der linken Hand auf den Boden und hob die andere zu einem Fausthieb.
«Indiana! Um Gottes willen — nein!«
Indianas erhobene Faust erstarrte in ihrer Bewegung, während er verblüfft in Marcus Brodys schreckensbleiches Gesicht hinabsah. Marcus’ Augen schienen vor Entsetzen fast aus den Höhlen zu quellen, und sein Gesicht war so weiß wie das eines Toten.
«Marcus …«, murmelte Indiana verwirrt.»Was um alles in der Welt tust du hier?«
«Das … das sage ich dir, wenn du … von mir heruntersteigst«, keuchte Marcus.
Indiana nagelte ihn mit seinem Gewicht an den Boden, so daß er Mühe hatte, überhaupt zu atmen, geschweige denn zu reden.
Hastig stand Indiana auf, blickte noch eine halbe Sekunde lang völlig verstört auf seinen Freund hinab und beeilte sich dann, die Arme auszustrecken, um ihm auf die Füße zu helfen. Marcus nahm seine Hilfe an, ließ aber dann seine Hände los und entfernte sich hastig einen Schritt weit von ihm. Mit zusammengebissenen Zähnen und schmerzverzerrtem Gesicht begann er, seinen Körper abzutasten, als müsse er sich davon überzeugen, daß noch alles an seinem angestammten Fleck und unbeschädigt war. Dabei sah er Indiana immer wieder vorwurfsvoll an, sagte aber kein Wort mehr.
«Was tust du hier?«wiederholte Indiana.»Warum bist du mir nachgekommen?«
«Jedenfalls nicht, um mich verprügeln zu lassen«, antwortete Marcus. Der Vorwurf in seinem Blick vertiefte sich.»Du hast manchmal eine sonderbare Art, deine Freunde zu behandeln, Indiana.«
Indiana wischte seine Worte mit einer ärgerlichen Bewegung beiseite.»Bist du wahnsinnig?«fragte er.»Hast du nicht gehört, was der Indianer gesagt hat? Sie werden uns nicht zurückkehren lassen.«
Brody zog eine Grimasse.»Ich denke ja nicht daran, mit diesen unzivilisierten Wilden allein durch den Dschungel zu laufen«, antwortete er.»Außerdem wirst du meine Hilfe brauchen.«
«Hilfe?!«ächzte Indiana. Er gestikulierte wild in den Nebel hinein.»Verdammt, ich weiß nicht einmal, was dort unten auf mich wartet. Verschwinde, Marcus, solange du es noch kannst. Vielleicht lassen sie dich noch gehen.«
«Und du glaubst, ich sehe zu, wie du mit offenen Augen in dein Verderben rennst?«erwiderte Marcus. Er schüttelte heftig den Kopf.»Nichts da, mein Freund. «Plötzlich grinste er.»Außerdem denke ich ja gar nicht daran, dir allein den Ruhm zu überlassen, El Dorado gefunden zu haben.«
«Das ist nicht komisch«, sagte Indiana ernst.»Ich weiß nicht, ob es dir aufgefallen ist, Marcus — aber wir sind nicht allein. Irgendwo hinter uns sind ein paar dieser Indianer — «
«Ich habe drei gezählt«, sagte Marcus.»Aber ich denke, es sind mehr. Ramos und seine Spießgesellen werden eine böse Überraschung erleben, wenn sie versuchen, auf dem gleichen Weg zurückzukehren.«
«Nicht nur sie«, sagte Indiana.»Ich beschwöre dich, Marcus!«
Marcus Brody sah ihn an, lächelte und schüttelte wieder den Kopf.»Nichts da«, sagte er.»Ich begleite dich. Weißt du, Indiana — ich hatte eine Menge Zeit nachzudenken, während ich bei den Indianern war. Ich glaube, ich kann dir helfen, wenn du einverstanden bist.«
«Du weißt, warum ich hier bin?«
«Wegen Marian Corda«, antwortete Brody. Er seufzte.»Du hättest dir und mir eine Menge Ärger ersparen können, wenn du gleich auf mich gehört hättest. Ich habe schon in diesem Lagerhaus in New York gemerkt, daß sie in Wahrheit auf Ra-mos’ Seite stand.«
«Und was soll ich tun?«erwiderte Indiana.»Die Hände in den Schoß legen und in aller Seelenruhe darauf warten, daß sie stirbt?«
«Bist du in sie verliebt?«fragte Marcus plötzlich.
Indiana antwortete nicht gleich.»Ich weiß es wirklich nicht«, gestand er schließlich.»Auf jeden Fall ist sie mir nicht gleichgültig. Und ich glaube, ich kann es schaffen.«
«Dann sollten wir nicht noch mehr Zeit vertrödeln, sondern lieber versuchen, sie einzuholen«, sagte Marcus. Etwas ernster fügte er hinzu:»Und außerdem habe ich das gar nicht gute Gefühl, daß es besser für uns ist, wenn wir nicht zu lange an diesem Ort bleiben. Also komm.«
Indiana kam nicht mehr dazu, ihn abermals zurückzuhalten, denn Marcus drehte sich herum und ging so schnell in den Nebel hinein, daß es plötzlich Indiana war, der sich beeilen mußte, ihm zu folgen.