22. Juni 1944 Im Dorf der Aymará

Es dauerte bis spät in die Nacht, bis sie die am schlimmsten Verwundeten wenigstens notdürftig versorgt hatten. Es war tatsächlich so, wie Indiana befürchtet hatte — es gab nicht viel, was sie für diese Menschen tun konnten. Die Hälfte von denen, denen Indiana, Marian und Henley, der sich als überraschend geschickt in solchen Dingen erwies, frische Verbände anlegten, Salben oder zumindest schmerzstillende Mittel verabreicht hatten, würden in den nächsten Tagen mit Sicherheit sterben. Indiana fühlte sich hinterher hilfloser und niedergeschlagener als zuvor, und sein Zorn auf Ramos und die Männer, die ihn begleiteten, war zu etwas geworden, das beinahe an Haß grenzte und ihn selbst erschreckte. Und gleichzeitig fragte er sich immer mehr und mehr, warum sie das getan hatten. Er wußte, daß Ramos verrückt und völlig gewissenlos war; aber selbst ein Verrückter brauchte einen Grund, um so etwas zu tun, und sei es auch nur ein eingebildeter.

Lange nach Mitternacht trat er erschöpft aus dem niedergebrannten Rundbau heraus, lehnte sich gegen die Wand neben der Tür und atmete die kühle, sauerstoffreiche Nachtluft ein. Sie roch noch immer nach Feuer und Asche, aber zumindest war der Geruch von Schmerzen und Tod hier draußen nicht so intensiv. Er sehnte sich nach einer Tasse starkem Kaffee oder wenigstens einem Whisky.

Aus müden, brennenden Augen sah er sich auf der Lichtung um. Der Mond war eine schmale, bleiche Sichel, die kein nennenswertes Licht spendete, aber die Indios hatten einige Feuer entzündet, und auch in den stehengebliebenen Hütten glomm Licht; offensichtlich schlief in dieser Nacht niemand in diesem Dorf.

Aber vielleicht hatte das auch einen anderen Grund, als er im ersten Moment annahm. Nach einer Weile fiel ihm auf, daß die meisten Feuer am entgegengesetzten Ende der Lichtung brannten. Schatten bewegten sich davor, hektisch und scheinbar sinnlos, trotzdem aber einem Rhythmus folgend, den er erst erkannte, als er die Musik hörte: leise, atonale Musik, das dumpfe Hämmern einer Trommel, die klagenden Töne einer Flöte und das an- und abschwellende Summen aus zahlreichen Kehlen, das ein anderes Lied intonierte als die Instrumente.

Indiana zögerte. Er war müde. Er war erschöpft wie selten zuvor in seinem Leben, und er war sich darüber im klaren, daß er von mehr als einem Augenpaar mißtrauisch beobachtet wurde, obwohl er im Moment keinen Indio in seiner Nähe sah. Trotzdem weckte das Geschehen dort drüben am Waldrand seine Neugier. Und es war mehr als der Wissenschaftler in ihm, der wissen wollte, was dort vorging. Irgend etwas sagte ihm, daß es wichtig sei.

Er sah sich um, stellte abermals fest, daß er allein zu sein schien, und spürte abermals, daß er es nicht war. Nachdem die Aymará ihr Mißtrauen überwunden hatten, hatten sie sich als das freundliche und hilfsbereite Volk erwiesen, das zu sein man ihnen nachsagte. Der Häuptling hatte keine Einwände erhoben, als Reuben ihn darum bat, alle seine Männer und ihre gesamte Ausrüstung von Bord des Schiffes ins Dorf bringen zu dürfen. Trotzdem war Indiana nicht entgangen, daß sich stets zwei oder drei Krieger unauffällig in der Nähe jedes einzelnen weißen Mannes aufhielten; ebensowenig wie ihm entgangen war, daß diese Krieger stets bewaffnet und jederzeit bereit waren, diese Waffen auch zu benutzen. Es war nicht so, daß er dieses Verhalten nicht verstand oder auch nur mißbilligte. Aber es war kein besonders angenehmes Gefühl, in jeder Sekunde das vergiftete Ende eines Pfeiles auf seinen Rücken gerichtet zu wissen.

Er verscheuchte den Gedanken und ging quer über die Lichtung auf den Feuerschein und die tanzenden Schatten zu. Das Hämmern der Trommeln wurde lauter, und aus den auf und ab hüpfenden Schemen wurden die Gestalten von fünfzehn oder zwanzig Aymará-Kriegern, die, mit bunten Erdfarben bemalt und jeweils einen prachtvollen Kopf- und Hüftschmuck aus Vogelfedern tragend, zum Takt der Musik um drei gleichmäßig angeordnete Feuer tanzten. Die Flammen schlugen sehr hoch, brannten aber trotzdem nicht besonders hell, und sie konnten auch keine sehr große Hitze ausstrahlen, denn in der Mitte des gleichschenkligen Dreiecks, das die Feuer bildeten, stand der alte Häuptling des Stammes. Auch seine Lippen bewegten sich zur Musik der Trommeln und Flöten, aber er stand völlig reglos da, die Arme ausgebreitet und das Gesicht zu den Sternen gewendet.

Als er sich dem Feuer bis auf zehn Schritte genähert hatte, trat eine Gestalt aus der Dunkelheit hervor und hob den Arm. Indiana blieb stehen und erkannte Reuben. Er wollte etwas sagen, aber der FBI-Mann schüttelte hastig den Kopf, bedeutete ihm mit einer Bewegung zu schweigen und entfernte sich wieder ein paar Schritte vom Feuer und den tanzenden Indianern. Indiana folgte ihm.

«Was tun sie da?«fragte Indiana mit einer Geste auf die Aymará.

Reuben zuckte mit den Schultern.»Ich hatte gerade gehofft, daß Sie mir diese Frage beantworten können«, sagte er.

Indiana blickte noch einmal und aufmerksamer zum Feuer hinüber. Die Indios bewegten sich hektisch, mit zuckenden, abgehackten Schritten, die Arme wild und nur scheinbar willkürlich in alle Richtungen schleudernd und manchmal kleine, spitze Schreie ausstoßend, die sich mit dem unheimlichen Klang der Musik zu etwas noch Düstererem, fast Furchteinflößendem vermischten.

«Es scheint so eine Art Gebet zu sein«, murmelte Reuben. Indiana konnte seinen Blick spüren, obwohl er ihn nicht ansah.»Vielleicht flehen sie ihre Götter um Hilfe an.«

«Nein«, murmelte Indiana.»Das ist … etwas anderes. «Er hatte viele Indianer-Tänze gesehen, bekannte und unbekannte, verbotene und solche, die zu keinem anderen Zweck als für die Augen neugieriger weißer Forscher bestimmt waren — aber so etwas noch nicht. Musik und Gesang der Indios, obgleich scheinbar unabhängig voneinander, ja verschiedenen unhörbaren Melodien folgend, vereinigten sich zu etwas schwer in Worte zu Fassendem, Bedrohlichem, Aggressivem. Trotzdem spürte er gleichzeitig, daß es kein Kriegstanz war.»Ich weiß es nicht«, sagte er noch einmal.»Aber ich glaube, es ist besser, wenn wir sie dabei nicht stören.«

Reuben sah ihn unsicher an, aber ein weiterer Blick auf die tanzenden Indianer schien auch ihn davon zu überzeugen, daß Indiana recht hatte. Vielleicht war es auch der Anblick des Häuptlings, der sie beide so verunsicherte — die reglos und hoch aufgerichtet zwischen den Flammen stehende Gestalt hatte etwas Unheimliches.

Sie gingen zurück, und Reuben führte Indiana zu einer der wenigen stehengebliebenen Hütten. Die Aymará hatten sie für Reubens Männer und ihre Ausrüstung geräumt. Reubens Begleiter hatten ihre Lager im hinteren Teil des Gebäudes aufgeschlagen, während das vordere Drittel sich in eine Art improvisiertes Warendepot verwandelt hatte: Offensichtlich war das Schiff bis unter die Luken mit Fracht beladen gewesen. Indiana musterte den Stapel aus Kisten und eng verschnürten Ballen einen Moment lang und suchte vergeblich nach irgendeiner Aufschrift oder einem Anhaltspunkt für das, was er enthalten mochte. Aber zu seiner Überraschung entdeckte er etwas anderes: Außer Reubens Söldnern waren auch die beiden Polizeibeamten ins Dorf gekommen. Einer von ihnen hatte sich zum Schlafen ausgestreckt und schnarchte, was das Zeug hielt. Der andere saß an einem tragbaren Funkgerät, das auf einem kleinen Klapptisch aufgestellt worden war, betätigte die Morsetaste und lauschte ab und zu auf die Antwort, die aus seinen Kopfhörern drang.

Indiana tauschte einen Blick mit Reuben.»Was tut er da?«

«Wir bekommen Hilfe aus La Paz«, antwortete Reuben.»In einer Stunde sind zwei Wasserflugzeuge mit Medikamenten und einem Arzt hier.«

Indiana schwieg dazu. Natürlich war Reubens Entscheidung richtig. Es gab nicht sehr viele Aymará in diesem Dorf, die völlig ohne Verwundung davongekommen waren. Und sie hatten weder die Mittel noch das Wissen, diesen Menschen die notwendige medizinische Hilfe angedeihen zu lassen. Und trotzdem gefiel ihm der Gedanke nicht. Irgendwie spürte er, daß Reuben mehr angefordert hatte als ärztliche Hilfe. Aber er sagte nichts dazu, sondern steuerte den Tisch an und setzte sich auf einen der Klappstühle, die davorstanden. Reuben setzte sich zu ihm.

«Haben Sie Hunger?«fragte er.

Indiana zog eine Grimasse. Nach dem, was er in den letzten Stunden in dem Rundbau in der Mitte des Dorfes gesehen hatte, hatte er das Gefühl, nie wieder etwas essen zu können, aber sein Magen knurrte, und so nickte er. Reuben stand auf und kam nach einigen Augenblicken mit einem Stück Brot und zwei Dosen Ölsardinen zurück, die er ungeschickt mit einem Klappmesser zu öffnen versuchte. Indiana sah ihm einen Moment lang dabei zu und nahm ihm diese Arbeit dann ab, ehe Reuben sich selbst ein Auge ausstechen oder einen Finger abschneiden konnte.

«Ich möchte wissen, was sie dort tun«, murmelte Reuben, während Indiana lustlos in der Fischdose herumzustochern begann.»Es ist irgendwie …«

«Unheimlich?«half Indiana aus, als Reuben nicht weitersprach.

«Richtig«, sagte der FBI-Mann. Er lächelte unsicher.»Ich dachte, Sie wären Spezialist für so etwas.«

«Wofür?«fragte Indiana und brach ein Stück von dem trok-kenen Weißbrot ab.»Für unheimliche Dinge? Oder für indianische Tänze?«

Reuben lächelte pflichtschuldig, aber sein Blick blieb kalt.»Wissen Sie, Jones«, sagte er,»das Schlimme an Ihnen ist, daß ich einfach nicht schlau aus Ihnen werde. Ich weiß immer noch nicht genau, auf wessen Seite Sie stehen. Sind Sie jetzt hier, um Ihren Freund zu befreien oder um uns zu helfen?«

«Ich bin hier, oder?«erwiderte Indiana.

Reuben starrte ihn finster an, zog es aber vor, nicht weiter auf das Thema einzugehen, sondern sah Indiana eine geraume Weile schweigend beim Essen zu.»Ich habe vorhin noch einmal mit dem Häuptling gesprochen«, sagte er schließlich.

Indy sah ihn wortlos an.

«Er bleibt bei seiner Geschichte«, fuhr Reuben fort.»Angeblich haben Ramos und seine Männer völlig grundlos das Feuer eröffnet. Aber damit wird er nicht durchkommen.«

«Wieso?«

Reuben machte eine Kopfbewegung auf den Polizeibeamten, der noch immer vor seinem Funkgerät saß und von Zeit zu Zeit die Morsetaste bediente.»Die Sache wird verdammt große Kreise ziehen, Dr. Jones«, sagte er.»Es geht jetzt nicht mehr darum, Mr. Brody zu befreien und Ramos hinter Gitter zu bringen. Jedenfalls nicht nur.«

«Sondern?«

«Ich fürchte, Sie verstehen den Ernst der Lage nicht«, sagte Reuben.»Ramos ist amerikanischer Staatsbürger. Und er hat dieses Dorf überfallen und mehr als ein Dutzend Menschen umgebracht.«

«Und das ist etwas, was die bolivianische Regierung gar nicht gern sieht«, vermutete Indiana sarkastisch.»Selbst wenn es sich nur um Indios handelt.«

Reuben blieb ernst.»Stellen Sie sich vor, ein bolivianischer Gangsterboß käme nach Texas und würde dort eine kleine Ortschaft überfallen. Das würden wir auch nicht besonders gern sehen. Und das kompliziert die ganze Sache.«

«Ach?«

«Bisher lief die ganze Angelegenheit noch mehr oder weniger diskret ab«, erklärte Reuben. Er lächelte flüchtig, als er den zweifelnden Blick bemerkte, den Indiana auf den Polizeibeamten warf.»Der Polizeichef von Trinidad ist mir … — nun, sagen wir, einen Gefallen schuldig gewesen«, sagte er.»Aber jetzt läßt sich unser Hiersein nicht mehr vertuschen. Vermutlich wird das Flugzeug tatsächlich nur einen Arzt und einige Kisten voller Medikamente bringen. Aber spätestens morgen früh wird hier ein Boot aus Trinidad anlegen, darauf wette ich. Und eine halbe Stunde später wimmelt es hier von Polizisten und möglicherweise sogar Militär. Bis dahin müssen wir weg sein.«

Indiana war nicht sehr überrascht. Er hatte sich im Gegenteil gewundert, daß Reuben keinerlei Einspruch dagegen erhoben hatte, daß sie den Rest des Tages darauf verwandten, den Indianern zu helfen, obwohl Ramos’ Vorsprung dadurch um mehrere Stunden wachsen mußte. Trotzdem sagte er:»Das ist unmöglich. Die Männer sind völlig erschöpft. Sie können keinen Nachtmarsch von ihnen verlangen.«

«Wer sagt das?«fragte Reuben.

Indiana sah ihn fragend an.

Reuben lächelte, überzeugte sich mit einem raschen Blick davon, daß der Polizeibeamte weiterhin die Kopfhörer auf den Ohren hatte, und fuhr mit gesenkter Stimme und beinahe im Flüsterton fort:»Sie schicken zwei Flugzeuge, Dr. Jones. Ich habe vor, mir eines davon … auszuleihen.«

«Sie meinen stehlen«, vermutete Indiana.

Reuben machte eine wegwerfende Handbewegung.»Nennen Sie es, wie Sie wollen. Sie wissen ja, worum es geht. Ich würde auch den Kronschatz von England stehlen, wenn es nötig wäre. Kann ich auf Ihre Mithilfe rechnen?«

«Wobei? Das Flugzeug zu stehlen?«

Diesmal war Reubens Verärgerung schon deutlicher.»Nein«, antwortete er scharf und etwas lauter.»Für so etwas haben wir Spezialisten dabei. Aber das Flugzeug nutzt uns überhaupt nichts, wenn wir nicht wissen, wohin wir fliegen sollen. Ich bitte Sie, noch einmal mit dem Häuptling zu sprechen. Vielleicht gelingt es Ihnen, ihn davon zu überzeugen, daß er uns die Wahrheit erzählen muß.«

«Sie glauben, daß er weiß, wohin Ramos und Corda gegangen sind.«

«Vielleicht. «Reuben zuckte mit den Achseln.»Wenn ich ehrlich sein soll — es ist meine letzte Hoffnung. Wenn wir ihre Spur nicht wiederfinden, können wir genausogut umkehren.«

«Sie sprachen davon, daß Corda einen Lastwagen mitgebracht hat«, erinnerte Indiana.»Ein solches Fahrzeug hinterläßt Spuren. Ganz besonders im Dschungel.«

Abermals machte Reuben eine entsprechende Handbewegung.»Theoretisch ja«, sagte er.»Praktisch wird der Boden hier aber schon nach einigen Meilen so steinig, daß nicht einmal ein Panzer eine Spur hinterlassen würde. Der Dschungel ist zwar sehr dicht, aber nicht besonders tief. Eigentlich ist es nur ein schmaler Streifen rechts und links des Flusses. Wir wissen, daß sie nach Norden gefahren sind, aber das ist auch schon alles.«

«Ich spreche ja nicht einmal ihre Sprache«, sagte Indiana.

«Aber er unsere«, antwortete Reuben. Indiana sah erstaunt hoch. Reuben lächelte wieder, beugte sich vor und angelte mit der Spitze seines Klappmessers die letzte Sardine aus Indianas Dose.»Wie gesagt — ich habe noch einmal mit ihm gesprochen. Er spricht ein ganz gutes Englisch, aber er hat es wohl vorgezogen, zuerst einmal so zu tun, als verstünde er uns nicht. Der Mann ist vielleicht alt, aber nicht dumm.«

«Ich kann es versuchen«, sagte Indiana.»Aber ich kann Ihnen nichts versprechen.«

«Das verlange ich auch nicht«, sagte Reuben kauend. In fast beiläufigem Ton fügte er hinzu:»Ach ja, da wäre noch etwas.«

«So?«

«Marian Corda«, sagte Reuben.»Ich halte es für besser, wenn sie hierbleibt.«

«Ich fürchte, da wird sie wieder einmal anderer Meinung sein«, erwiderte Indiana.

«Bestimmt sogar. Aber darauf kann ich keine Rücksicht mehr nehmen. «Seine Stimme wurde eindringlich.»Sehen Sie sich doch um, Jones. Was hier passiert ist, ist vielleicht nur ein Vorgeschmack auf das, was uns erwartet. Ramos gibt keinen Pfifferling für ein Menschenleben. Wollen Sie sie wirklich einer solchen Gefahr aussetzen?«

«Sie wird nicht hierbleiben«, seufzte Indiana.

«Das wird sie müssen. Wir werden weg sein, ehe sie überhaupt merkt, was los ist.«

Indiana wollte antworten und Reuben erklären, daß er offensichtlich noch immer nicht verstanden hatte, wer Marian Corda wirklich war — aber im selben Moment erscholl vor der Tür ein scharfer Ruf, gefolgt von einem überraschten Aufschrei und dem gedämpften Aufprall eines Körpers. Eine halbe Sekunde lang blickten sich Reuben und Indiana nur überrascht an, dann sprangen sie beide fast gleichzeitig auf die Füße und stürmten aus der Hütte, gefolgt von drei oder vier Söldnern, die noch im Laufen nach ihren Waffen griffen.

Indiana rannte so dicht hinter Reuben her, daß er um ein Haar gegen ihn geprallt wäre, als der FBI-Beamte plötzlich stehenblieb und sich zu einer Gestalt hinabbeugte, die vor der Tür auf dem Boden lag. Im schwachen Widerschein der Feuer konnte Indiana erkennen, daß es Henley war. Er blutete aus einer häßlichen Platzwunde über dem linken Auge und wirkte benommen, war aber bei Bewußtsein. Mühsam hob er die Hand und gestikulierte in Richtung auf den Waldrand.

Reuben spurtete weiter, und auch Indiana und die Söldner folgten ihm, obwohl Indiana sich insgeheim bereits sagte, daß das völlig sinnlos war. Bei der herrschenden Dunkelheit konnten sie den Mann, der Henley niedergeschlagen hatte, praktisch um drei Meter verfehlen, ohne ihn auch nur zu sehen. Aber plötzlich stieß einer von Reubens Begleitern einen scharfen Ruf aus und deutete nach links, und als Indiana und die anderen herumfuhren, da glaubte auch er einen Schatten zu sehen, der in großer Eile davonhastete.

«Stehenbleiben!«schrie Reuben. Der Schatten bewegte sich noch hektischer und verschwand im Schwarz des Waldrandes, während Reuben noch seine Pistole zog und einen Warnschuß abgab.

Der Schuß krachte in der Stille der Nacht wie ein Kanonenschlag. Der Gesang der Indianer verstummte, und für eine Sekunde breitete sich ein unnatürliches Schweigen über das Dorf aus. Dann erscholl ein ganzer Chor schreiender, aufgeregt durcheinanderrufender Stimmen. Und plötzlich hasteten aus allen Richtungen Menschen auf sie zu.

Reuben beachtete es nicht einmal, sondern rannte weiter, und auch Indiana verdoppelte seine Anstrengungen, nicht zurückzufallen. Der Schatten war mittlerweile völlig verschwunden, aber sie hörten das Brechen von Zweigen und Unterholz — und plötzlich einen spitzen Schrei!

Indianas Herz machte einen erschrockenen Sprung, als er die Stimme erkannte.»Marian!«schrie er. Die Angst gab ihm zusätzliche Kraft. Er griff schneller aus, spurtete an Reuben und seinen Begleitern vorbei und erreichte als erster den Waldrand — um beinahe über einen Körper zu fallen, der zusammengekrümmt im Unterholz lag.

Es war tatsächlich Marian. Sie zitterte am ganzen Leib, als Indiana neben ihr niederkniete und ihr ins Gesicht sah. Ihre Haut war bleich wie die einer Toten und ihre Augen groß und dunkel vor Angst. Im allerersten Moment schien sie Indiana nicht einmal zu erkennen, denn sie zuckte erschrocken vor ihm zurück und hob angstvoll die Hände vor das Gesicht, aber dann sprach er ihren Namen aus, und aus der Furcht in ihrem Blick wurde unendliche Erleichterung.

«Marian!«sagte Indiana.»Was ist passiert? Was tust du hier?«

Auch Reuben und die anderen kamen jetzt bei ihnen an. Der FBI-Agent blieb stehen, aber die drei Männer liefen weiter und brachen splitternd durch das Unterholz.»Was ist passiert?«herrschte nun auch Reuben Marian an. Und was Indianas erschrockener Ton nicht bewirkt hatte, das gelang seiner in befehlendem Ton gestellten Frage. Marian schrak zusammen und faßte sich sichtlich wieder. Sie zitterte noch immer am ganzen Leib, war jetzt aber offensichtlich nicht mehr in Gefahr, einfach hysterisch loszuweinen.»Ich weiß es nicht«, murmelte sie verstört.»Ich … ich wollte ein bißchen frische Luft schnappen. Ich mußte einfach raus. Und plötzlich … hörte ich Schritte und Rufe. Und dann tauchte ein Mann auf und schlug mich nieder.«

«Ein Mann?«schnappte Reuben.»Was für ein Mann? Ein Indianer? Oder ein Weißer?«

Marian schüttelte unglücklich den Kopf.»Ich weiß es nicht«, gestand sie.»Ich habe nur einen Schatten erkannt. Es ging alles so furchtbar schnell.«

Reuben setzte zu einer weiteren Frage an, aber Indiana fiel ihm ins Wort.»Ich glaube, sie hat wirklich nichts gesehen«, sagte er.»Vielleicht fragen wir Henley. Möglicherweise hat er mehr erkannt.«

«Möglicherweise auch nicht«, sagte eine Stimme hinter ihnen. Indiana und Reuben drehten sich im gleichen Moment um und erkannten den zweiten FBI-Beamten, der sich aufgerappelt hatte und ihnen gefolgt war. Er war noch immer blaß. Die Platzwunde über seinem Auge blutete heftig, schien aber nicht weiter ernst zu sein, denn sein Blick war wieder klar.»Ich habe überhaupt nichts erkannt«, sagte er mit einer Geste auf Marian.»Es war genau wie bei ihr. Ich dachte, einen Schatten zu sehen, und dann wurde ich auch schon niedergeschlagen.«

«Vielleicht einer der Indios«, vermutete Reuben.»Sie beobachten uns.«

«Sie haben es wohl kaum nötig, im Dunkeln um die Hütte zu schleichen«, gab Indiana zu bedenken.

Reuben warf ihm einen unsicheren Blick zu, aber er antwortete nicht, denn aus dem Dorf kamen jetzt immer mehr Aymará herbeigerannt, und nicht wenige von ihnen waren wieder bewaffnet und hatten den gleichen, grimmigen Ausdruck auf den Gesichtern, mit dem sie sie am Abend am Fluß empfangen hatten.

Reuben wandte sich zu den Indios um und machte eine besänftigende Geste. Aber die nutzte nicht sehr viel. Die Indianer kamen weiter näher, und das drohende Murren verstärkte sich eher noch. Aber fast im gleichen Augenblick trat auch der alte Häuptling aus der Dunkelheit heraus, und die Krieger wichen wieder ein Stück weiter zurück, um ihm Platz zu machen.

Reuben sprudelte ein paar hastige Worte im Dialekt der Ay-mará hervor, auf die der Indio in der gleichen Sprache antwortete. Dann stockte er, blickte Indiana, Henley und Marian der Reihe nach und sehr nachdenklich an und wechselte übergangslos in ein zwar schleppendes, aber beinahe akzentfreies Englisch über.»Sprechen wir Ihre Sprache, Mr. Reuben. So können Ihre Freunde hören, was wir sagen. Warum haben Sie geschossen?«

«Das war nur ein Warnschuß«, sagte Reuben. Er wirkte nervös, und ein weiterer Blick in die finsteren Gesichter der Ay-mará bestätigte Indiana, daß er auch allen Grund dazu hatte. Das Eis, auf dem sie sich bewegten, war so dünn, daß man glauben konnte, es schon knistern zu hören. Obwohl sie den Indios nach Kräften geholfen hatten, war deren Mißtrauen längst nicht besänftigt. Vielleicht würde es das nie wieder werden.

«Ein Warnschuß? Wieso?«

Reuben deutete auf Henleys blutüberströmte linke Gesichtshälfte.»Jemand hat meinen Kollegen niedergeschlagen. Und Miss Corda hier auch. Jemand, der versucht hat, uns zu belauschen, und dabei von Henley überrascht wurde. «Er zögerte einen winzigen Moment, dann fragte er geradeheraus:»War es einer Ihrer Krieger?«

Der Alte sah Reuben eine Sekunde lang fast verächtlich an.»Wenn wir deinen Tod wollten, weißer Mann«, sagte er,»dann hättest du unser Dorf niemals betreten.«

«So war das nicht gemeint«, verteidigte sich Reuben nervös.»Aber es ist — «

«Ich bin sicher, daß es keiner deiner Krieger war«, mischte sich Indiana ein.»Aber vielleicht haben deine Leute etwas gesehen. Jemanden, der nicht hierhergehört.«

In die Verachtung im Blick des alten Mannes mischte sich etwas anderes, das Indiana im ersten Moment nicht deuten konnte. Dann wandte er sich mit einer Frage in seiner Muttersprache an einen der Krieger, die hinter Reuben standen, und der Aymará antwortete mit einem Kopf schütteln und einer heftigen Geste.»Niemand hat etwas gesehen«, sagte der Häuptling.»Ich habe Befehl gegeben, euch wie Gäste zu behandeln. Wir belauschen unsere Gäste nicht.«

Mit einer heftigen Bewegung wandte er sich um und wollte gehen, aber Indiana rief ihn noch einmal zurück.»Häuptling!«

Der Aymará blieb stehen. Er drehte sich nicht um, aber er wandte den Kopf und maß Indiana mit einem so eisigen Blick, daß es diesem im ersten Moment unmöglich war, weiterzusprechen. Schließlich überwandt er sich, trat einen Schritt auf den alten Mann zu und blieb wieder stehen, als einer der Krieger neben ihm eine drohende Bewegung machte.»Bitte, hör mir zu«, begann Indiana.»Du mußt uns vertrauen. Wir sind nicht deine Feinde. Aber die Männer, die das hier getan haben«— er machte eine weit ausholende Handbewegung —,»sind es. Und der, den wir gerade verfolgt haben, gehört wahrscheinlich zu ihnen. «Die Reaktion auf dem Gesicht des Häuptlings bewies Indiana, daß dessen Überlegungen in die gleiche Richtung gegangen waren. Erstaunlicherweise registrierte er weder Furcht noch Erschrecken, obwohl schon der erste Zusammenprall zwischen den Aymará und Ramos’ Männern fast zur Vernichtung des Stammes geführt hatte.»Ich glaube es zwar selbst nicht«, fuhr Indiana fort,»aber sie werden möglicherweise wiederkommen. Was immer sie dort im Dschungel suchen, sie haben es wahrscheinlich nicht gefunden.«

«Der Wald ist groß«, antwortete der Häuptling.»Und er weiß seine Geheimnisse gut zu verbergen.«

«Du weißt also, wonach sie suchen«, hakte Reuben nach.

Der Häuptling antwortete nicht direkt. Er sah Reuben nicht einmal an. Sein Blick blieb weiter unverwandt auf Indiana gerichtet.»Es gibt Dinge, die Menschen nicht wissen sollten«, antwortete er.»Und es gibt Dinge, die Menschen wissen und besser für alle Zeiten für sich behalten.«

«Ramos wird wiederkommen«, sagte Indiana ernst.»Er wird deinen ganzen Stamm auslöschen, wenn du ihm nicht sagst, was er wissen will.«

«Wenn es der Wille der Götter ist, so wird es geschehen«, bestätigte der Aymará gelassen. Er hob die Hand, als Indiana etwas sagen wollte.»Es ist sinnlos, daß du weitersprichst, weißer Mann. Wir alle würden eher sterben, als die Geheimnisse unseres Volkes preiszugeben.«

Die Offenheit dieser Antwort überraschte Indiana. Nachdem der Aymará den ganzen Tag über beharrlich geschwiegen hatte, machte er sich jetzt nicht einmal mehr die Mühe zu leugnen. Dann begriff Indiana, daß dieses Eingeständnis nichts anderes als ein Zeichen des Vertrauens war, das der Alte ihnen trotz allem entgegenbrachte.»Ich weiß das«, sagte er.»Und ich bitte dich, mir zu glauben, daß ich so denke wie du. Niemand hat das Recht, sich in die heiligen Geheimnisse anderer Völker einzumischen.«

«Warum seid ihr dann hier?«

«Weil nicht alle so denken wie wir«, erwiderte Indiana.»Die Männer, die hier waren, und die, die ihnen folgten und euch das hier angetan haben, sind schlechte Menschen. Verbrecher und Mörder. Sie werden nicht ruhen, bis sie gefunden haben, wonach sie suchen. Willst du wirklich, daß dein Volk noch mehr Leid ertragen muß?«

Der Alte lächelte.»Und du glaubst, das würde nicht geschehen, wenn ich euch verrate, was ich ihnen nicht gesagt habe?«

«Vielleicht«, antwortete Indiana.

«Warum?«

Indiana deutete auf die beiden FBI-Beamten, dann auf sich selbst.»Weil wir vielleicht die Möglichkeit haben, sie aufzuhalten. Und weil es nicht Gold und Ruhm ist, was wir suchen, sondern Gerechtigkeit.«

«Gerechtigkeit …«Wieder lächelte der Alte, und diesmal war es ein fast melancholisches Lächeln.»Aus deinem Mund klingt das Wort anders als aus dem deiner Begleiter. Ich glaube dir. Ich glaube, du bist ein Mann, dem man vertrauen kann. Aber wir haben geschworen, das Geheimnis zu wahren.«

Reuben trat mit einem Schritt neben Indiana. Er wollte auffahren, aber Indiana legte ihm rasch die Hand auf die Schulter und schüttelte den Kopf.»Lassen Sie ihn«, sagte er.»Es hat keinen Sinn. Er wird nicht antworten.«

Reubens Augen verschossen kleine zornige Blitze in seine Richtung, aber er sagte nichts von alledem, was ihm sichtlich auf der Zunge lag, sondern preßte die Lippen zu einem schmalen, ärgerlichen Strich zusammen und drehte sich dann mit einem Ruck herum.»Ich danke dir, Häuptling«, sagte er, wieder an den Aymará gewandt.»Und ich verspreche dir trotz allem, daß wir die Männer, die das hier getan haben, finden und bestrafen werden.«

«Sie müssen völlig verrückt geworden sein, Jones«, sagte Reuben zornig, als der Alte und seine Begleiter gegangen waren und Indiana sich wieder zu ihm herumdrehte.»Wie, glauben Sie, sollen wir Ramos denn finden? Haben Sie überhaupt eine Ahnung, wie groß diese Wälder sind? Der Alte war unsere einzige Chance. Sie hätten ihn mit etwas mehr Nachdruck fragen sollen.«

«So wie Ramos?«

Reubens Gesichtsausdruck verfinsterte sich noch einmal um mehrere Grade, und Indiana spürte den drohenden Wutausbruch und fuhr hastig fort:»Außerdem gibt es vielleicht noch eine andere Möglichkeit.«

«Und welche?«

Indiana zögerte einen spürbaren Moment. Sie waren allein. Die Indios waren so rasch gegangen wie sie aufgetaucht waren, und seine Augen hatten sich an das schwache Licht hier draußen gewöhnt; er war sicher, daß niemand in der Nähe war. Und trotzdem hatte er das intensive Gefühl, beobachtet zu werden. Unwillkürlich senkte er die Stimme, als er antwortete.»Vorhin, als wir die Indios beobachtet haben«, sagte er.»Ist Ihnen nichts aufgefallen?«

Reuben schüttelte den Kopf.

«Aber mir«, fuhr Indiana fort.»Ich glaube, ich weiß, in welcher Richtung wir suchen müssen.«

Reuben blickte ihn aufmerksam an. Aber Indiana sagte nichts mehr, sondern lächelte nur flüchtig und wandte sich dann wieder zu Marian um, um zusammen mit ihr zur Hütte zurückzugehen.

Es war einer jener Gedanken, die einfach da sind; man fühlt ihre Nähe, man spürt, daß da etwas ist, das sich nur noch nicht greifen läßt. Es war kein Zufall gewesen, daß er nicht weitergesprochen, sondern Reuben mit verdutztem Gesicht und wachsendem Ärger stehengelassen hatte. Ihm war etwas aufgefallen, vorhin, beim Anblick der tanzenden Indianer und vor allem an ihrem Häuptling, aber er konnte noch nicht genau sagen, was es war. Trotzdem war er sehr sicher, eine Spur gefunden zu haben, und er verschwendete nicht einmal Zeit darauf, sich den Kopf zu zermartern, was seine Beobachtungen bedeuteten und was sein Unterbewußtsein ihm sagen wollte. Er kannte dieses Gefühl. Es war ihm schon so oft begegnet, daß er wußte, er würde im richtigen Moment auch sagen können, was es bedeutete.

Für die nächsten zwei Stunden jedenfalls war dieser richtige Moment noch nicht gekommen. Sie waren in die Hütte zurückgegangen, in der sich Reubens provisorisches Hauptquartier befand, und Indianas Vermutung erwies sich als richtig — solange sie sich in der Nähe der Söldner, und außerdem vor allem der beiden bolivianischen Polizeibeamten, aufhielten, versuchte der FBI-Beamte nicht mehr, weiter in ihn zu dringen, sondern durchbohrte ihn nur mit zornigen Blicken. Indiana quittierte sie stets auf die gleiche Weise, mit einem freundlichen Lächeln, und nutzte die verbliebene Zeit bis zur Ankunft des Flugzeuges, ein wenig von dem Schlaf nachzuholen, den er seinem Körper schon zu lange vorenthalten hatte.

Die beiden Maschinen kamen nicht nach einer, wie Reuben vermutet hatte, sondern nach mehr als zwei Stunden. Und es war die Aufregung, die beim Geräusch der Motoren unter den Aymará entstand, die Indiana wieder weckte. Erschrocken setzte er sich auf, im ersten Moment felsenfest davon überzeugt, daß Ramos und seine Killertruppe zurückgekommen waren, um zu Ende zu bringen, was sie vor drei Tagen begonnen hatten, doch dann hörte er das tiefe Brummen der Flugzeugmotoren über dem Fluß und somit eine halbe Stunde Fußmarsch entfernt, aber in der stillen, klaren Nachtluft so deutlich zu hören, als kreisten die Maschinen über dem Dorf. Schlaftrunken erinnerte er sich daran, weshalb der Polizist sein Funkgerät bedient hatte.

Noch immer ein wenig benommen, setzte er sich ganz auf und drehte sich zur Seite, um Marian zu wecken, die sich neben ihn auf eines der provisorischen Lager gelegt hatte.

Sie war nicht da.

Indiana blinzelte, rieb sich mit den Fingerknöcheln den Schlaf aus den Augen und sah sich noch einmal und diesmal sehr viel aufmerksamer in der Hütte um. Mit Ausnahme eines einzelnen, schnarchenden Söldners war er allein. Offenbar hatten alle anderen die Flugzeuge vor ihm gehört und die Hütte bereits verlassen. Auch er stand auf, trat aus dem Haus und registrierte mit einer Mischung aus Resignation und Verärgerung, daß noch immer tiefste Nacht herrschte. Es war dunkler geworden, bis auf zwei waren sämtliche Feuer gelöscht, aber der ganze Stamm schien auf den Beinen zu sein, und in einiger Entfernung erkannte er Reuben und Henley, die heftig gestikulierend auf den Häuptling einredeten und ihm offensichtlich zu erklären versuchten, was der Lärm zu bedeuten hatte. Automatisch hielt er auch nach Marian Ausschau, konnte sie aber nirgendwo entdecken. Aber nach den schlechten Erfahrungen, die sie vorhin gemacht hatte, nahm er doch an, daß sie jetzt vorsichtiger war.

Als Indiana die kleine Gruppe erreicht hatte, drehte sich der Häuptling gerade um und schritt stolz erhobenen Hauptes davon. Reuben blickte ihm finster nach, antwortete aber nicht, als Indiana eine entsprechende Frage stellte, sondern machte eine rüde Kopfbewegung in die Richtung, in der der Fluß lag.»Die Flugzeuge sind da«, sagte er überflüssigerweise.»Wir sollten ihnen entgegengehen. Sie können sicher Hilfe beim Ausladen gebrauchen.«

Indiana sah ihn fragend an, und Reuben reagierte darauf mit einem fast beschwörenden Blick. Indiana verstand. Außer Hen-ley und drei oder vier von Reubens Söldnern befand sich auch einer der Polizeibeamten in Hörweite. Offensichtlich hatte aber Reuben seinen — Indianas Meinung nach völlig verrückten — Plan, sich eines der Flugzeuge zu bemächtigen, immer noch nicht aufgegeben. Indiana fragte sich nur, wohin sie dann aber fliegen wollten.

Er beherrschte sich mühsam, bis sie die Lichtung verlassen hatten und ein Stückweit in den Wald eingedrungen waren.

Dann stellte er die Frage laut.

Reuben fuhr zusammen wie jemand, der bei etwas Verbotenem ertappt worden ist, und sah sich hastig nach allen Seiten um, obwohl es so dunkel war, daß man kaum die sprichwörtliche Hand vor Augen sehen konnte.»Zuallererst einmal weg hier«, sagte er, nach einer geraumen Weile und in einer Tonlage, die deutlicher als seine Worte klarmachten, wie widerwillig er überhaupt antwortete.»Wenn sich die bolivianischen Behörden erst in die Untersuchung einschalten, dann können wir jede Hoffnung begraben, Ramos noch einzuholen. Von Professor Corda ganz zu schweigen. «Er warf Indiana einen schrägen Blick zu und fügte in lauerndem Tonfall hinzu:»Und Mr. Bro-dys Leben ist dann keinen Pfifferling mehr wert.«

Indiana wußte, daß er nur zu recht hatte. Aber das änderte nichts daran, daß ihm nicht wohl in seiner Haut war. Einen Verrückten wie Ramos, der sich in Begleitung einer Bande mit Maschinenpistolen und Flammenwerfern bewaffneter Killer befand, quer durch den bolivianischen Regenwald zu jagen, war schlimm genug. Die Vorstellung aber, daß sie zu allem Überfluß vielleicht nun ihrerseits von der bolivianischen Polizei oder gar dem Militär gesucht werden würden, trieb ihm einen kalten Schauer über den Rücken. Aber er sprach nichts von alledem aus, sondern ging wortlos neben Reuben her. In einem Punkt hatte der FBI-Mann recht: Wenn Ramos auch nur den Anflug des Gefühls hatte, in Gefahr zu sein, dann war Marcus Brodys Leben keinen roten Heller mehr wert. Und Indiana hätte, ohne zu zögern, sein eigenes Leben geopfert, um das seines Freundes zu retten.

Sie brauchten länger als am Nachmittag, um die Strecke vom Dorf bis zum Fluß zurückzulegen, und als sie sich dem Wasser näherten und Licht und Geräusche durch das Unterholz zu ihnen zu dringen begannen, wichen sie ein Stückweit vom geraden Weg ab und näherten sich der Anlegestelle der beiden Wasserflugzeuge in einem weiten Bogen.

Es waren zwei große, schwerfällig aussehende Maschinen, die unweit des Bootes, mit dem sie hergekommen waren, im Wasser lagen. Eine von ihnen war bereits entladen worden: Eine große Anzahl Männer drängte sich in der Dunkelheit um das Frachtgut, das am Ufer aufgestapelt worden war, und Indiana sah das gelegentliche Aufblitzen einer Taschenlampe und hörte spanische Wortfetzen. Reuben gab ihm und den anderen mit Gesten zu verstehen, still zu sein und sich wieder ein kleines Stück weit in den Dschungel zurückzuziehen, dann schlich er selbst geduckt und sehr geschickt jede Deckung ausnutzend weiter, verschwand für einen Moment in der Dunkelheit und kam nach kaum einer Minute zurück. Der Ausdruck auf seinem Gesicht war besorgter geworden.

«Probleme?«fragte Indiana nicht ohne Schadenfreude.

Reuben bedachte ihn mit einem ärgerlichen Blick.»Sie haben schneller reagiert, als ich geglaubt habe«, gestand er.»Ein paar sind Polizisten. Und ich bin nicht sicher — aber ich glaube, ich habe etwas von einem dritten Flugzeug gehört, das auf dem Weg hierher ist.«

Er starrte einen Moment lang düster an Indiana vorbei ins Leere, dann gab er sich einen sichtlichen Ruck und wandte sich an einen der Männer.»Wo sind die anderen?«

«In Position. «Der Söldner deutete den Fluß hinab.»Sie warten auf das Zeichen.«

«Noch nicht«, sagte Reuben.»Wir müssen warten. Es sind mindestens zwanzig Mann.«

«Das ist kein Problem«, antwortete der Söldner.»Wir haben den Vorteil der Überraschung auf unserer Seite und — «

«Halten Sie den Mund!«unterbrach ihn Reuben in scharfem Ton.»Ich habe nicht vor, mir auch noch ein Feuergefecht mit der bolivianischen Polizei zu liefern, Sie Narr! Wir warten. Mit ein bißchen Glück gehen sie alle zum Dorf. Oder lassen nur eine Wache zurück.«

Der Mann senkte betreten den Blick und zog sich vorsichtshalber einige Schritte zurück, und auch Indiana trat wieder einige Schritte weit in den Wald hinein und lehnte sich gegen einen Baum.»Was haben Sie überhaupt vor?«fragte er, als sich Reuben und Henley nach einer Weile wieder zu ihm gesellten. Er machte eine Kopfbewegung in Richtung auf die Wasserflugzeuge.»Wollen Sie mit dem Ding starten und darauf hoffen, daß Ramos Ihnen Lichtzeichen gibt?«

Er konnte Reubens zornigen Blick in der Dunkelheit nicht sehen, aber sehr deutlich spüren.»Wir sind nicht ganz so dumm, wie Sie anscheinend glauben, Dr. Jones«, antwortete Reuben beleidigt.»Ich gebe zu, daß es sehr viel leichter gewesen wäre, wenn Sie den Häuptling zum Reden gebracht hätten, aber es gibt noch andere Möglichkeiten.«

«Zum Beispiel?«

Reuben antwortete nicht, sondern hüllte sich in beleidigtes Schweigen, aber sein Kollege Henley erwies sich als etwas zugänglicher.»Wir haben eine ziemlich genaue Vorstellung von der Gegend, in die Corda und damit auch Ramos wollen«, sagte er.

«So?«Indiana wurde hellhörig.»Woher?«

«Nun, zum Beispiel durch die Dinge, die sie mitgenommen haben«, erklärte Henley, wobei er Reubens wütende Blicke einfach ignorierte.»Corda und seine Männer haben einen geländegängigen Lastwagen bei sich. Nicht unbedingt das ideale Fahrzeug für den Dschungel, nicht wahr?«

«Unter Umständen schon«, erwiderte Indiana, aber Henley schüttelte lächelnd den Kopf und zündete sich eine Zigarette an, ehe er weitersprach. Er nahm allerdings nur einen einzigen Zug, dann fuhr er erschrocken zusammen und blickte hastig zum Fluß zurück, während er die Zigarette zu Boden warf und sie sorgfältig austrat.

«Außerdem mehrere Schlauchboote und eine komplette Bergsteigerausrüstung.«

«Dschungel, Wasser und Felsen«, zählte Indiana auf.»Von jedem gibt es reichlich hier.«

«Aber nicht in dieser Kombination«, beharrte Henley.»Das engt die Auswahl ihrer Ziele doch beträchtlich ein. «Er zögerte einen winzigen Moment. Dann senkte er die Hand zum Gürtel und löste ein kaum handtaschengroßes Metallkästchen von einer Schnalle. Es schien sehr schwer zu sein, und Indiana erkannte eine Skala und mehrere Knöpfe auf seiner Vorderseite. Und etwas, das wie ein abnehmbares Mikrophon aussah, aber keines war.»Vielleicht finden wir ihn damit.«

Reuben sog scharf die Luft ein und setzte gleichzeitig an, etwas zu sagen, aber Indiana kam ihm zuvor:»Ich weiß es sowieso, Reuben.«

Reubens Augen wurden schmal.»Woher?«fragte er.

«Auch ich bin nicht so dumm, wie Sie glauben«, erwiderte Indiana.»Ich bin durchaus in der Lage, zwei und zwei zusammenzuzählen. «Er sah aus den Augenwinkeln, daß Henley im allerersten Moment überrascht, dann aber eindeutig erleichtert aussah. Reuben wirkte eher mißtrauisch. Und sehr aufgebracht.

«Wenn Sie wirklich wissen, warum wir hier sind, Dr. Jones, dann wissen Sie ja auch, wie wichtig unser Auftrag ist. Vielleicht stehen Tausende von Menschenleben auf dem Spiel. Vielleicht sogar Millionen.«

«Ihre gar nicht mitgezählt, nicht wahr?«fragte Indiana mit einer Geste auf die Gestalten der Söldner.»Von Ihrem eigenen und meinem und Marians ganz zu schweigen. Wissen die auch?«

«Was?«

«Daß der Ort, an den Sie sie führen, sie vielleicht umbringt«, sagte Indiana.»Ich meine, es sind ja schließlich nur Söldner. Männer, die für Geld kämpfen und die man für Geld auch umbringen kann, nicht wahr?«

«Allmählich reicht es, Dr. Jones«, sagte Reuben mit mühsam beherrschter Stimme.»Ich habe Sie gewarnt. Ich habe Ihnen sehr dringend davon abgeraten, uns zu begleiten. Sie haben es trotzdem getan. Gut. Aber wenn Sie schon wußten, worauf Sie sich einlassen, dann verstehe ich nicht, warum Sie mir jetzt Vorwürfe machen.«

«Wissen Sie, Reuben«, antwortete Indiana in fast freundlichem Tonfall.»Ich konnte Ihnen von Anfang an nicht glauben. Und ich glaube, ich weiß jetzt auch, warum. Sie und Ihr Kollege sind hier, weil es Ihr Job ist, sich notfalls auch in Lebensgefahr zu begeben. Ich bin hier, weil ich noch eine Rechnung mit Ramos offen habe und einen Freund befreien muß. Aber diese Männer sind wahrscheinlich nur hier, weil Sie ihnen genug dafür bezahlt haben. Ich frage mich nur, ob Sie ihnen auch gesagt haben, worauf sie sich vielleicht einlassen.«

«Warum gehen Sie nicht hin und sagen es ihnen?«erwiderte Reuben kalt.»Ich beginne mich allmählich immer mehr zu fragen, auf welcher Seite Sie stehen, Dr. Jones.«

«Auf Ihrer«, antwortete Indiana im gleichen, eisigen Tonfall.»Ich bin nur nicht mehr sicher, ob es wirklich die richtige ist.«

«Ruhe!«sagte Henley plötzlich. Und der Tonfall, in dem er sprach, bewirkte, daß Indiana und Reuben auf der Stelle verstummten und sich zum Fluß umwandten. Henley deutete flußaufwärts. Das Sternenlicht reichte nicht aus, mehr als Schatten zu erkennen, aber einer dieser Schatten bewegte sich. Er blieb ein verwaschener, undeutlicher Fleck in der Dunkelheit, aber er kam ganz langsam näher, und nach einigen weiteren Sekunden hörten sie das leise Plätschern, mit dem sich das Wasser am Rumpf eines Bootes bricht.

«Wer ist das?«flüsterte Indiana.

Reuben zuckte mit den Schultern und machte eine hastige Geste, still zu sein. Das Boot war immer noch zu weit entfernt, um mehr als ein Schatten in der Nacht zu sein, aber sie konnten zumindest erkennen, daß es entschieden zu groß für einen der Einbäume war, die sie bei den Aymará gesehen hatten. Außerdem kam es mit der Strömung flußabwärts getrieben, und das Dorf lag in der entgegengesetzten Richtung.

«Da stimmt etwas nicht«, murmelte Reuben.

Auch die Männer, die das zweite Flugzeug entluden, schienen das Boot mittlerweile bemerkt zu haben. Sie hörten auf, Kisten und Kartons aus dem Rumpf über die schwankende Laufplanke an Land zu tragen, und wandten sich dem näher kommenden Schatten zu, dann flammte eine starke Taschenlampe auf und schickte einen zitternden Lichtkreis über den Fluß.

Nur eine Sekunde lang. Denn plötzlich zerriß der peitschende Knall eines Schusses die Nacht, jemand schrie auf, und die Taschenlampe überschlug sich zwei- oder dreimal in der Luft und verschwand dann im Wasser.

«Was —?«begann Reuben erschrocken. Der Rest seiner Worte ging im Krachen einer ganzen Gewehrsalve unter. Weitere Schreie gellten auf, und zwei der schattenhaften Gestalten zwischen dem Flugzeug und dem Ufer brachen zusammen und stürzten ins Wasser.

«Ramos!«schrie Henley.»Das ist bestimmt Ramos!«

Und wie um seine Worte zu bestätigen, glomm plötzlich im Bug des näher kommenden Bootes ein grell-orangefarbenes, unerträglich helles Licht auf. Ein furchtbares Zischen und Heulen erklang, und mit einem Male spannte sich ein lodernder Flammenbogen zwischen dem Boot und dem vorderen der beiden Wasserflugzeuge. Gleichzeitig begann eine Maschinenpistole zu hämmern; im flackernden Licht des Flammenwerfers war eine doppelte Spur aufspritzender Miniaturgeysire zu erkennen, die sich über die Wasseroberfläche bewegte und sich rasend schnell den Männern am Ufer näherte. Aus den erschrockenen Rufen wurde ein Chor gellender Schmerzens- und Angstschreie, und wieder brachen zwei, drei Gestalten gebrochen zusammen. Der Rest spritzte in heller Panik auseinander und suchte sein Heil in der Flucht.

Indiana schloß geblendet die Augen und wandte sich ab, als das Flugzeug mit einem einzigen, krachenden Schlag Feuer fing und sich in eine lodernde Fackel auf dem Wasser verwandelte. Die Druckwelle ließ die zweite Maschine taumeln. Der Laufsteg zerbrach, und Spritzer der brennenden Benzingelatine, die der Flammenwerfer verschleuderte, regneten auf Tragfläche und Rumpf herab und setzten auch sie in Brand. Eine zweite MP-Salve raste über das Wasser und hämmerte in ihren Rumpf, und plötzlich flog die Kanzeltür der Maschine auf und eine Gestalt taumelte ins Freie und rettete sich mit einem Sprung ins Wasser; kaum eine Sekunde, ehe der Flammenwerfer eine zweite, brüllende Feuerlanze ausstieß, die den Rumpf der Maschine regelrecht aufspießte, ehe auch in ihrem Inneren etwas explodierte und sie in Stücke riß. Im flackernden, grellen Licht der Explosion bot sich Indiana ein fast unheimlicher Anblick: Das Boot mit Ramos’ Männern war bis auf dreißig oder vierzig Meter herangekommen. Fast ein Dutzend Gestalten drängte sich an Bord, und an seinem Bug stand Ramos selbst, hoch aufgerichtet und vom flackernden Widerschein des Feuers in rotes Licht wie in Blut getaucht.

«Warum tun Sie nichts?«fragte Indiana.»Reuben! Sagen Sie Ihren Männern, daß —«

«Noch nicht«, unterbrach ihn Reuben.»Warten Sie!«

Gebannt beobachteten sie, wie das Boot näher kam. Die beiden Flugzeugwracks brannten lichterloh und tauchten den Fluß und das Ufer in fast taghelles Licht. Von der Flugzeugbesatzung war nichts mehr zu sehen. Wer den heimtückischen Überfall überlebt hatte, war geflohen. Aber Indiana war sehr erleichtert, daß die Männer nicht versucht hatten, Widerstand zu leisten. Selbst wenn einige von ihnen bewaffnet waren, hatten sie doch mit allem gerechnet, nur nicht damit, in einen Hinterhalt zu laufen. Gegen die überlegene Bewaffnung von Ramos’ Söldnertruppe hätten sie wahrscheinlich keine Chance gehabt.

«Wir haben ihn!«flüsterte Reuben aufgeregt.»Er läuft uns genau in die Arme.«

«Hoffentlich behalten die anderen die Nerven«, murmelte Henley nervös. Er sah flußaufwärts, wo Indiana die zweite Hälfte ihres kleinen Trupps vermutete. Offensichtlich hatte Reuben vorgehabt, die beiden Flugzeuge aus zwei verschiedenen Richtungen gleichzeitig anzugreifen, vermutlich um eines davon zu entern und das andere flugunfähig zu machen, so daß es ihnen nicht folgen konnte. Und vielleicht hatte Reuben sogar recht. Ramos hatte offensichtlich ganz in der Nähe gewartet und die Landung der beiden Maschinen beobachtet; vielleicht sogar ihr Funkgespräch abgehört. Aber möglicherweise hatte er keine Ahnung, daß er es nicht nur mit einem völlig verschreckten Team aus Ärzten und Helfern, sondern mit einer gut ausgerüsteten und bewaffneten Truppe zu tun hatte, die es mit seiner eigenen durchaus aufnehmen konnte. Doch dann fiel Indiana etwas ein.

«Marian!«sagte er erschrocken.»Wo ist Marian?«

Reuben sah ihn verwirrt an.»Im Dorf, denke ich«, sagte er.»Sie lag schlafend neben Ihnen in der Hütte, als wir es verließen.«

«Genau das tat sie nicht«, erwiderte Indiana.»Ich dachte, sie wäre bei Ihnen.«

Reubens Lippen bewegten sich in einem lautlosen Fluch.»Ich wußte, daß es ein Fehler war, sie mitzunehmen«, sagte er.»Aber daran ist jetzt nichts mehr zu ändern.«

«Außerdem ist es besser so«, fügte Henley hinzu.»Solange sie im Dorf ist, passiert ihr nichts.«

Ramos’ Boot kam langsam näher. Ohne sichtbaren Antrieb und nur in der Strömung treibend, manövrierte es vorsichtig zwischen den beiden brennenden Wasserflugzeugen hindurch, näherte sich Reubens kleinem Dampfschiff und ging längsseits. Zwei von Ramos’ Söldnern kletterten geschickt an Bord, dann trieb das Boot weiter, bis sein stumpfer Bug gegen das Ufer stieß. Auch der Rest der kleinen Söldnerarmee ging von Bord und bildete einen lockeren, waffenstarrenden Halbkreis am Ufer. Ramos selbst ging als allerletzter an Land, vorsichtig und beide Hände tastend ausgestreckt, aber ohne Hilfe. Indiana versuchte, seine Begleiter zu zählen. Die Dunkelheit machte es schwer, aber er schätzte, daß es acht oder zehn sein mußten, die beiden, die an Bord ihres Schiffes gegangen waren, nicht einmal mitgerechnet. Fast so viele Männer wie sie selbst hatten, dachte er. Und annähernd doppelt soviel, wie Reuben behauptet hatte.

Er begann sich immer unwohler zu fühlen. Er hatte keine Angst; er hatte gewußt, daß es gefährlich werden würde, und spätestens der Anblick des verbrannten Indianerdorfes hatte ihm gezeigt, wie skrupellos Ramos war. Aber nun sah es so aus, als würde er mitten in eine Schlacht zwischen zwei Söldnertruppen hineingezogen, und das war nun wirklich nicht mehr das, was er unter einem akzeptablen Risiko verstand.

Reuben schien seine Gedanken lesen zu können, denn er wandte sich plötzlich zu ihm um und sagte:»Sie bleiben hier, Jones. Das da geht Sie nichts an.«

Die Verlockung ja zu sagen war für einen Moment fast übergroß. Trotzdem schüttelte Indiana den Kopf.»Ich bin nicht mit Ihnen gekommen, um tatenlos zuzusehen. Ich will Marcus.«

Reuben machte eine ärgerliche Geste.»Sehen Sie ihn irgendwo? Wahrscheinlich sind das nicht einmal alle Männer, die dieser Verrückte hat. Aber der Rest kann nicht sehr weit sein, sonst wären sie nicht so schnell hiergewesen. Sie tun, was ich Ihnen sage. Meinetwegen gehen Sie zurück ins Dorf und passen auf, daß Miss Corda nichts geschieht. Aber Sie mischen sich nicht ein.«

Indiana wollte widersprechen, aber im selben Moment gewahrte er eine Bewegung am Waldrand, nur wenige Schritte von Ramos’ Truppe entfernt, und plötzlich trat eine Gestalt aus dem Unterholz und nicht nur er, sondern auch Reuben und sein Kollege sogen erschrocken die Luft ein.

Marian Corda trat mit ruhigen Schritten aus dem Busch heraus, sah sich nach beiden Seiten um und steuerte dann, ohne auch nur im Schritt innezuhalten, auf Ramos’ Söldnertruppe zu. Sie war in der Dunkelheit wohl der Meinung, es mit Reuben und seinen Begleitern zu tun zu haben, dachte Indiana entsetzt. Und noch bevor Reuben oder einer der anderen ihn daran hindern konnten, war er mit einem Satz auf den Füßen, brach durch das Gebüsch und schrie Marians Namen, so laut er konnte. »Marian! Nicht! Das ist Ramos!«

Ramos’ Männer fuhren beim Klang seiner Stimme herum, und auch Marian prallte mitten im Schritt zurück, und Indiana konnte trotz der großen Entfernung erkennen, daß sie entsetzt zusammenfuhr, als sie ihren Irrtum begriff. Aber es war zu spät. Sie machte eine fast zaghafte Bewegung rückwärts, doch zwei der Banditen waren blitzschnell bei ihr und packten sie; drei, vier andere richteten ihre Waffen auf Indiana.

Auch Indiana erstarrte mitten in der Bewegung, als sich immer mehr Waffen auf ihn richteten und zwei oder drei der schattenhaften Gestalten in seine Richtung zu laufen begannen; allerdings in einem weiten Bogen, um nicht ins Schußfeld ihrer Kameraden zu gelangen. Er gestand sich ein, daß er möglicherweise ein wenig übereilt gehandelt hatte — aber es konnte gut sein, daß diese Einsicht ein bißchen zu spät kam …

«Halt! Erschießt ihn nicht!«

Noch vor zehn Sekunden hätte Indiana jeden ausgelacht, der behauptet hätte, er würde einmal froh sein, Ramos’ Stimme zu hören; aber jetzt atmete er erleichtert auf. Trotzdem erstarrte er zur Reglosigkeit und wagte es nicht einmal, die Hände zu heben, bis die drei Männer ihn erreicht und gepackt hatten und ihn grob zum Ufer hinüberzerrten. Als er an Marian vorüberkam, fing er einen Blick ihrer großen, schreckgeweiteten Augen auf. Sie wirkte verstört und bis ins Innerste verwirrt, als begreife sie einfach nicht, was geschah. Und wahrscheinlich war es auch so — Ramos und seine Killertruppe hier anzutreffen, war wahrscheinlich das allerletzte, womit sie gerechnet hatte.

Indiana wurde grob auf den Blinden zu gestoßen. Jemand packte seinen Arm und verdrehte ihn so heftig, daß er vor Schmerz aufstöhnte, dann traf ein derber Fußtritt seine Kniekehle und ließ ihn hilflos zu Boden sinken.

«Nicht doch«, sagte Ramos.»Bitte behandeln Sie unseren Gast mit etwas mehr Respekt, meine Herren. Wir wollen doch, daß er sich bei uns wohl fühlt.«

Ein rauhes Gelächter antwortete auf seine Worte, und auch über Ramos’ entstelltes Gesicht huschte ein dünnes, durch und durch böses Lächeln. Er kam näher, streckte die Hand aus und tastete mit den Fingerspitzen über Indianas Gesicht.»Tatsächlich«, sagte er.»Dr. Indiana Jones. Was für eine Überraschung, Sie hier wiederzusehen. Die Welt ist doch klein.«

Er trat zurück und machte eine knappe, befehlende Geste.»Laßt ihn los!«

Der Mann, der Indianas Arm gepackt hatte, zögerte. Dann traf ihn ein Blick aus Ramos’ unheimlichen, blinden Augen, und er ließ Indianas Arm beinahe hastig los und trat einen halben Schritt zurück. Aber Indiana spürte, daß er sich nicht sehr weit entfernte. Und er spürte auch, daß sich die Läufe von mindestens drei oder vier Waffen gleichzeitig auf seinen Rük-ken richteten. Unendlich behutsam und mit nach beiden Seiten ausgestreckten Armen erhob er sich und wagte es erst nach einigen Sekunden, die Hände ganz langsam zu senken. Jemand trat von hinten an ihn heran, riß die Peitsche von seinem Gürtel und warf sie zu Boden.

Ramos legte den Kopf schräg.»Ihre berühmte Peitsche, nehme ich an«, sagte er. Offenbar hatte er die Geräusche gehört und mit dem unheimlichen Gespür des geborenen Blinden richtig gedeutet. Er lächelte humorlos.»Bitte sehen Sie meinen Leuten ihr grobes Benehmen nach, Dr. Jones. Aber man hat mir erzählt, wie gut Sie mit dieser exotischen Waffe umzugehen verstehen. Und wir möchten doch nicht, daß jemand verletzt wird, nicht wahr?«

«Was wollen Sie?«fragte Indiana grob.

«Ich?«Ramos verzog in gespielter Verwunderung das Gesicht.»Oh, ich muß da wohl etwas verwechseln. Ich dachte, Sie wären es, der zu mir gekommen ist, nicht umgekehrt.«

«Das sehe ich zwar anders«, maulte Indiana,»aber im Grunde haben Sie recht. Ich wäre zu Ihnen gekommen, wenn Sie mir den Weg nicht abgenommen hätten.«

«Darf ich fragen, warum?«fragte Ramos beinahe freundlich.

«Sie haben bei unserem letzten Treffen etwas vergessen, Ramos«, antwortete Indiana.»Wir hatten eine Abmachung, wenn ich mich richtig erinnere. Ich habe Ihnen gewisse Informationen verschafft, aber ich warte immer noch auf Ihre Gegenleistung.«

«Ja, ich erinnere mich«, antwortete Ramos.»Ich glaube, es gab eine solche Abmachung. Aber daß Sie mir mit einer ganzen Armee folgen, gehörte nicht dazu, wenn ich mich richtig erinnere.«

«Wo ist Marcus?«fragte Indiana.»Wenn Sie ihm etwas getan haben, Ramos, dann schwöre ich, daß ich Sie persönlich mit Vergnügen umbringen werde.«

«Getan?«Ramos lachte ganz leise.»Ich bitte Sie, Dr. Jones. Wofür halten Sie mich? Ich werde doch nicht dem einzigen Menschen etwas zuleide tun, mit dem man in dieser Wildnis ein halbwegs gebildetes Gespräch führen kann. Keine Sorge — Mr. Brody ist wohlauf und unversehrt.«

«Wo ist er?«schnappte Indiana. Seine Gedanken rasten. Er mußte Ramos und seine Bande irgendwie ablenken, damit Reubens Männer eine günstige Gelegenheit zum Zuschlagen fanden.

«Ich sagte bereits — er ist wohlauf«, wiederholte Ramos.»Sie werden bald Gelegenheit haben, mit ihm zu reden. Aber vorher eine Frage: Sie sind wohl nicht bereit, mir zu verraten, wo sich Ihre Freunde vom FBI und die Männer, die sie mitgebracht haben, in diesem Moment befinden?«

«Sie sind gut informiert«, sagte Indiana.

«Informiert zu sein ist mein Beruf«, erwiderte Ramos.»Aber das ist keine Antwort auf meine Frage, Dr. Jones. Ich hoffe um Ihret- und Mrs. Cordas willen, daß diese Narren nicht versuchen, uns mit Waffengewalt aufzuhalten. Wie Sie sehen, sind wir ihnen durchaus gewachsen.«

«Da wäre ich nicht so sicher«, sagte Indiana, ließ sich nach vorn fallen und trat noch im Sturz mit beiden Beinen nach hinten aus. Er traf irgend etwas. Ein schmerzerfüllter Schrei erscholl, und eine kurze, abgehackte MP-Salve riß den Boden unmittelbar neben seinem Gesicht auf. Indiana rollte herum, stieß sich mit aller Kraft ab, die er aufbringen konnte, und bekam Ramos’ Fußgelenke zu fassen. Ramos keuchte überrascht und begann mit den Armen zu rudern, um sein Gleichgewicht zu halten, aber Indiana zerrte noch einmal an seinen Beinen, und dieser zweite Ruck war zuviel. Noch während sich zwei, drei seiner Männer gleichzeitig auf Indiana stürzten und ihn mit Fußtritten und Faustschlägen zu traktieren begannen, kippte Ramos rücklings und mit hilflos rudernden Armen zu Boden und riß in der gleichen Bewegung auch noch Marian mit sich.

Und darauf hatten Reuben und seine Begleiter offensichtlich nur gewartet. Aus dem nahen Waldrand stach ein halbes Dutzend orangeroter Mündungsflammen. Ramos’ zorniger Schrei ging im Peitschen der Schüsse unter, und plötzlich spritzten überall zwischen den Banditen kleine Erd- und Schlammfontänen auf.

«Keine Bewegung!«erscholl eine befehlende Stimme.»Wer sich auch nur rührt, wird erschossen!«

Die Überraschung war total. Reuben hatte die Zeit, in der Ramos und seine Killer mit Indiana beschäftigt waren, offensichtlich genutzt, um seine kleine Truppe im Halbkreis im Gebüsch am Ufer zu verteilen, und Ramos’ Männer schienen nicht nur Profis im Morden, sondern auch im Überleben zu sein, denn bis auf einen einzigen sahen sie offensichtlich ein, wie sinnlos ein Widerstand gegen einen Gegner war, den sie nicht einmal sehen konnten. Nur einer von ihnen war dumm genug, seine MP zu heben und eine ungezielte Salve in den Busch abzugeben. Er überlebte diesen Fehler nicht einmal um eine Sekunde.

Indiana stemmte sich mit zusammengebissenen Zähnen auf Hände und Knie hoch. Sein ganzer Körper schmerzte von den Schlägen und Tritten, die er hatte einstecken müssen. Trotzdem kroch er hastig auf Ramos zu, packte ihn bei den Schultern und riß ihn grob in die Höhe. Ramos keuchte und begann blind um sich zu schlagen, bis Indiana ihm eine schallende Ohrfeige versetzte. Dann riß er ihn herum, schlang von hinten den Arm um seinen Hals und drückte so heftig zu, daß Ramos kaum noch Luft bekam.

«Befehlen Sie ihnen, sich zu ergeben«, sagte er.

Ramos rang mühsam nach Luft und begann sich so heftig zu wehren, daß Indiana ihn kaum noch halten konnte.»Sie sind verrückt!«keuchte er.»Wenn Sie mich umbringen, sterben Sie auch!«

«Das kann sein«, antwortete Indiana gelassen.»Aber Sie mit mir — das schwöre ich Ihnen.«

«Legt die Waffen nieder!«drang Reubens Stimme aus der Dunkelheit.»Ihr habt fünf Sekunden, dann eröffnen wir das Feuer!«

Indiana stemmte sich umständlich in die Höhe und verstärkte den Druck auf Ramos’ Kehle noch ein wenig. Der Blinde zappelte in seinem Griff und stellte seinen Widerstand erst ein, als er nun wirklich keine Luft mehr bekam.

«Noch drei Sekunden!«rief Reuben vom Wald her.»Ich meine es ernst!«

Eine weitere Sekunde verging, dann noch eine — und dann ließ sich der erste von Ramos’ Männern vorsichtig in die Hok-ke sinken, legte seine Maschinenpistole auf den Boden und stand mit erhobenen Händen wieder auf. Einer nach dem anderen folgten die übrigen seinem Beispiel. Und auch Ramos versuchte nicht mehr, sich loszureißen, als Indiana seinen Griff wieder ein wenig lockerte und zuließ, daß er atmen konnte.»Das werden Sie bereuen«, keuchte er atemlos.»Ich wollte fair zu Ihnen sein, Dr. Jones, aber Sie haben mich hereingelegt. Niemand betrügt mich zweimal hintereinander. Niemand!«

Die Dunkelheit am Waldrand erwachte rasch zum Leben, als Reubens Männer aus dem Schutz des Gebüsches heraustraten. Die beiden FBI-Beamten selbst folgten ihnen in einigen Schritten Abstand; Henley mit angeschlagener Pistole, während sich Reuben nicht einmal die Mühe gemacht hatte, seine Waffe zu ziehen.

Indiana sah sich nach Marian um. Auch sie hatte sich wieder erhoben und stand einige Schritte abseits, und der Ausdruck auf ihrem Gesicht war noch immer voller Verwirrung und Schrecken wie vorhin. Aber sie war offensichtlich unverletzt, und als sie Indianas Blick begegnete, zwang sie sich zu einem mühsamen Lächeln. Dann sah sie in Ramos’ Gesicht, und ein Schatten huschte über ihre Züge.

Indiana überzeugte sich mit einem raschen Blick davon, daß Marian weder ein Messer noch eine andere sichtbare Waffe bei sich trug, machte vorsichtshalber zwei Schritte zurück und wandte sich dann den beiden FBI-Beamten zu. Reuben kam ohne Hast näher. Er betrachtete Ramos mit einer fast wissenschaftlich anmutenden Neugier, ohne eine Spur von Zorn oder Triumph.»Lassen Sie ihn los, Dr. Jones«, sagte er.

Indiana gehorchte, blieb aber dicht hinter Ramos stehen, bereit, jederzeit wieder zuzugreifen. Daß Ramos blind war, bedeutete ganz und gar nicht, daß er sich nicht wehren konnte, wie er bereits am eigenen Leib gespürt hatte.

«Auf dem Schiff sind noch zwei«, sagte er.

«Ich weiß. «Reuben drehte sich zu Henley um und machte eine Kopfbewegung in Richtung auf das kleine Dampfschiff.»Kümmere dich darum.«

Während Henley und zwei seiner Männer zur Anlegestelle des Bootes hinübergingen, blickte Reuben noch eine Sekunde lang ausdruckslos in Ramos’ Gesicht, ehe er sich mit einem Seufzer an Marian wandte.»Das war nicht besonders klug von Ihnen, Mrs. Corda«, sagte er.»Ich hatte Sie doch gebeten, im Dorf zu bleiben.«

«Ich … hatte Lärm gehört«, verteidigte sich Marian unsicher.»Und Schüsse. Ich wollte nachsehen, was passiert ist.«

«Um ein Haar hätten Sie alles verdorben«, sagte Reuben.»Das war jetzt das zweite Mal, daß Sie sich in Gefahr gebracht haben, Mrs. Corda. Ich kann nicht ständig auf Sie aufpassen wie auf ein Kind.«

«Ich weiß«, sagte Marian kleinlaut.»Es tut mir leid.«

«Das glaube ich Ihnen. Aber es wird Ihnen nichts nützen, wenn das nächste Mal vielleicht niemand da ist, um Sie zu retten. Es war wirklich nicht besonders klug — und von Ihnen auch nicht, Dr. Jones«, fügte er an Indiana gewandt hinzu.

«Wieso?«fragte Indiana trotzig.»Irgend jemand mußte Ra-mos und seine Bande schließlich ablenken, oder?«

Ein spöttisches Lächeln verzog Reubens Lippen.»Sicher. Und deshalb sind Sie blindlings losgestürmt und hätten sich um ein Haar erschießen lassen, nicht wahr?«

«Das war ein kalkuliertes Risiko«, log Indiana.»Ich war sicher, daß sie mich nicht umbringen würden.«

Reuben schien widersprechen zu wollen, sah aber dann wohl ein, wie sinnlos jedes weitere Wort war, und wandte sich wieder dem Blinden zu.»Sie sind also Mr. Ramos«, sagte er.»Ich muß gestehen, ich hatte Sie mir … etwas anders vorgestellt.«

Ramos schürzte trotzig die Lippen.»Wer sind Sie?«

«Mein Name ist Reuben«, antwortete Reuben.»FBI. Ich könnte Ihnen meinen Dienstausweis zeigen, aber ich fürchte, Sie könnten ihn sowieso nicht lesen. Sie müssen sich also auf mein Wort verlassen.«

«FBI? Sie haben hier überhaupt nichts zu sagen. Wir sind hier in Bolivien, nicht in Amerika. Sie haben gar kein Recht, mich zu verhaften.«

«Das stimmt«, gestand Reuben ruhig.»Aber wir haben es nun einmal getan — und ganz davon abgesehen: Wäre es Ihnen lieber, wir würden Sie den Aymará überlassen?«

Ramos antwortete nicht.»Obwohl«, fuhr Reuben nach einer Sekunde fort,»ich nicht sicher bin, ob ich es nicht einfach tun sollte. Was halten Sie von dieser Vorstellung?«

Ramos schwieg noch immer, und Reuben starrte ihn einige Sekunden lang zornig an, bis ihm klarwurde, daß Ramos den drohenden Ausdruck auf seinem Gesicht gar nicht sehen konnte.»Aber das, was die bolivianischen Behörden mit Ihnen tun werden, ist auch nicht viel angenehmer«, fuhr er fort.»Wie Sie gerade so richtig bemerkten, Mr. Ramos — wir sind hier nicht in Amerika. Die Polizei in manchen dieser südamerikanischen Staaten arbeitet manchmal mit erschreckend primitiven Methoden — wenn Sie verstehen, was ich meine. Und ich fürchte, ich werde Sie ausliefern müssen, Mr. Ramos.«

Indiana sah Reuben fragend an. Der FBI-Beamte macht eine rasche Handbewegung, er solle schweigen, und fuhr nach einer neuerlichen Pause und in leicht verändertem Tonfall fort.»Warum sind Sie zurückgekommen, Ramos? Warum dieser zweite Überfall?«

«Warum sollte ich Ihnen auch nur eine einzige Frage beantworten?«gab Ramos trotzig zurück.

«Nun, dafür gibt es mehrere Gründe«, erwiderte Reuben.»Einer wäre zum Beispiel, daß ich eine Waffe in der Hand halte und damit auf Sie ziele.«

Ramos lachte humorlos.»Dann erschießen Sie mich doch einfach«, sagte er,»wenn Sie den Mut dazu haben.«

«Nein«, erwiderte Reuben.»Das wäre zu einfach. Ich fürchte, ich muß Sie ausliefern, Ramos. Entweder an die Aymará oder an die bolivianischen Behörden. Es sei denn …«

«Es sei denn — was?«fragte Ramos, als Reuben nicht weiter sprach, sondern den Satz absichtlich in der Luft hängen ließ.

«Es sei denn, Sie beantworten mir einige Fragen«, sagte Reuben.»Und es wäre besser, Sie versuchten nicht erst, mich zu belügen. Wo ist Professor Corda? Wohin wollte er, und was sucht er hier?«

Ramos schwieg beharrlich.

«Überlegen Sie es sich gut, Ramos«, sagte Reuben eindringlich.»Und tun Sie es schnell. Die Männer aus dem Dorf, das Sie überfallen haben, werden gleich hier sein. Und ich fürchte, ich kann Sie dann nicht mehr beschützen.«

«Das tun Sie doch sowieso nicht«, sagte Ramos.»Wollen Sie mir erzählen, daß Sie mich danach laufen lassen?«

«Nein«, erwiderte Reuben ernst.»Ganz bestimmt nicht. Aber Sie sollten vielleicht einmal über den Unterschied zwischen amerikanischen und bolivianischen Gefängnissen nachdenken, Mr. Ramos. Der dürfte gewaltig sein — selbst für einen Blinden.«

«Niemand bringt mich ins Gefängnis«, sagte Ramos überzeugt.

Reuben ignorierte seine Antwort.»Also?«

«Überlassen Sie ihn mir«, verlangte Marian. Ihre Stimme zitterte.»Ich bringe ihn schon zum Reden.«

«Vielleicht ist das gar keine so schlechte Idee«, sinnierte Reuben.

Ramos wandte das Gesicht in die Richtung, aus der Marians Stimme kam.»Ich habe Ihrem Mann nichts getan, meine Liebe«, sagte er.»Und Ihnen auch nicht. Ich habe mein Wort gehalten, oder? Sie sind frei. Und Sie, Dr. Jones — «Er wandte sich zu Indiana um.»— sollten besser darüber nachdenken, ob Sie mich wirklich diesen FBI-Beamten überlassen. Ich gebe Ihnen mein Wort, daß Marcus Brody stirbt, wenn ich nicht bis Sonnenaufgang zurück in unserem Lager bin.«

Indiana wollte antworten, aber Reuben fiel ihm ins Wort.»Sie verschlimmern Ihre Lage nur, Ramos«, sagte er zornig.

«Dr. Jones weiß, daß ich auf Mr. Brodys Leben keine Rücksicht mehr nehmen kann. Ich fürchte, Sie haben nicht begriffen, worum es hier wirklich geht. Die Sache ist um ein paar Nummern zu groß für Sie, Ramos.«

Auf dem Schiff hinter ihnen wurde eine Tür geöffnet, und Henley trat ins Freie.»Hier ist niemand mehr«, rief er.»Die beiden müssen sich aus dem Staub gemacht haben.«

Reuben runzelte die Stirn, sagte aber nichts dazu, sondern warf einen nervösen Blick in den Dschungel zurück. Indiana war nicht sicher, aber er glaubte, Stimmen zu hören und die Geräusche von Menschen, die näher kamen.

«Entscheiden Sie sich, Ramos«, sagte Reuben.»Ich verspreche Ihnen allerdings nicht die Freiheit. Sie werden den Rest Ihres Lebens im Gefängnis verbringen — aber es ist Ihre Entscheidung, ob es ein amerikanisches oder ein bolivianisches Gefängnis sein wird. Und überlegen Sie sich Ihre Antwort gut. Die Menschen hier mögen Amerikaner nicht besonders. Und was sie mit Ihnen nach allem, was Sie hier getan haben, machen werden, brauche ich Ihnen wahrscheinlich nicht zu erzählen.«

«Sie … Sie wollen doch nicht wirklich ein Geschäft mit diesem … diesem Ungeheuer machen?«fragte Marian fassungslos.

«Sie hören nicht zu, Mrs. Corda«, erwiderte Reuben.»Ich habe ihm nur zugesagt, ihn am Leben zu lassen, mehr nicht. Wenn wir ihn den Indios überlassen, dann bringen sie ihn um. Und dann finden wir Ihren Mann vielleicht gar nicht mehr.«

Die Stimmen und Geräusche waren mittlerweile lauter geworden. Und sehr viel zahlreicher. Indiana erinnerte sich, daß es vielleicht acht oder zehn Männer gewesen waren, die vor Ramos’ Banditen geflüchtet waren — aber was sich da durch das Unterholz auf sie zubewegte, das klang wie eine ganze Armee. Und wahrscheinlich war es das auch.

«Gut, daß Sie vernünftig werden«, sagte Reuben.»Also los jetzt — schnell. Aufs Schiff.«

«Was haben Sie vor?«fragte Indiana mißtrauisch.

«Von hier zu verschwinden«, erwiderte Reuben.»Ehe es hier von rachelustigen Indianern wimmelt. «Er deutete mit einer Kopfbewegung auf das Boot.»Beeilen Sie sich. Ich werde irgendwie versuchen, sie aufzuhalten. Und passen Sie auf Mrs. Corda auf — ich brauche Ramos lebend.«

Sie beeilten sich, an Bord des Schiffes zu gehen, aber am Schluß wurde es doch zu einem Wettlauf um Sekunden. Indiana hatte es selbst übernommen, auf Ramos achtzugeben, obwohl ihm die Logik sagte, daß ein blinder Mann kaum einen Fluchtversuch hier im Wald unternehmen würde. Trotzdem ließ er ihn keine Sekunde aus den Augen, während sie über die schwankende Laufplanke an Bord des Schiffes und ins Ruderhaus hasteten, und er postierte sich wie durch Zufall so, daß er stets zwischen dem Blinden und Marian blieb. Auch Ramos’ Männer, die von Reubens Begleitern mittlerweile entwaffnet und gefesselt worden waren, wurden an Bord und in einen sicheren Raum unter Deck gebracht. Der kleine Hilfsdiesel im Rumpf des Schiffes war kaum angesprungen, als auch schon die ersten Aymará aus dem Dschungel gestürmt kamen. Reubens Versuch, die Indios irgendwie aufzuhalten, schien kläglich gescheitert zu sein, denn er rannte in Riesensätzen vor den Aymará her, und es war deutlich zu erkennen, daß er vor ihnen floh. Während das kleine Schiff zu zittern und sich schwerfällig rückwärts zu bewegen begann, erreichte er im letzten Moment die Reling, zog sich mit einer hastigen Bewegung hinüber und kappte die Laufplanke mit einem Tritt. Ein Aymará, der ihm dicht auf den Fersen gewesen war, fiel mit wildrudernden Armen ins Wasser; zwei, drei andere versuchten, das Schiff mit einem Sprung zu erreichen. Die meisten verfehlten es, und nur einer klammerte sich an die Reling und versuchte, sich in die Höhe zu ziehen. Reuben versetzte ihm einen Faustschlag auf die Finger, und auch dieser Indio schrie auf und kippte rücklings ins Wasser. Dann waren sie weit genug vom Ufer entfernt, um in den Sog der Strömung zu geraten und schneller zur Flußmitte hinauszutreiben.

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