Eine Stunde später Nördlich den Fluß hinauf

Es hatte eine gute halbe Stunde gedauert, den Dampfkessel so weit aufzuheizen, daß das Schiff sich gegen die Strömung stemmen und nennenswerte Fahrt aufnehmen konnte. Der kleine Hilfsdiesel war längst nicht stark genug, das eiserne Boot effektiv anzutreiben, so daß sie für eine geraume Weile kaum von der Stelle gekommen waren, sondern eigentlich nur ihre Position in der Flußmitte hatten halten können. Reuben hatte in dieser Zeit zwei starke Scheinwerfer am Heck und Bug des Schiffes aufstellen lassen, deren Lichtkegel beständig über das Wasser tasteten, und tatsächlich waren zwei- oder dreimal die Gestalten schwimmender Aymará sichtbar geworden, die versuchten, trotz der Strömung das Schiff zu erreichen. Reuben hatte ein paar Warnschüsse auf sie abgegeben, und sie hatten tatsächlich kehrtgemacht. Aber Indiana atmete erst erleichtert auf, als das Schiff nach einer Weile wirklich Fahrt aufnahm und das Aymará-Gebiet langsam hinter ihnen zurückblieb. Er gab sich nicht der Illusion hin, daß sie damit wirklich in Sicherheit waren — wenn schon nicht die Indios, so würde spätestens die bolivianische Polizei ihre Verfolgung aufnehmen. Daß Ramos’ Männer die beiden Flugzeuge verbrannt hatten, verschaffte ihnen möglicherweise einen Vorsprung, aber nicht sehr viel. Reuben hatte ja selbst gesagt, daß eine dritte Maschine zu ihnen unterwegs war, und es gab noch immer das Funkgerät, über das die beiden im Dorf zurückgebliebenen Polizisten verfügten. Ihr einziger Schutz war die Dunkelheit.

Auf Reubens Gesicht lag ein sehr besorgter Ausdruck, als er die Tür des Ruderhauses hinter sich zuzog und fröstelnd die Hände aneinanderrieb. Die Nacht hier draußen auf dem Fluß war sehr kalt.»Das war knapp«, sagte er.

«Und ich fürchte, das bleibt es auch«, fügte Henley hinzu, der das Ruder übernommen hatte und versuchte, das Schiff in der fast vollkommenen Dunkelheit in der Flußmitte zu halten. Dann und wann ließ er den Scheinwerfer im Bug aufflammen.»Ihr glaubt doch nicht wirklich, daß sie uns so einfach davonkommen lassen? Nicht nach dem, was diese Verbrecher den Indios angetan haben.«

«Sie werden uns nicht folgen«, erklärte Ramos. Es waren die ersten Worte, die er überhaupt sprach, seit Indiana ihn hierhergebracht hatte.

«Wieso sind Sie so sicher?«fragte Reuben lauernd.

«Hier ist der Fluß tabu für sie«, erwiderte Ramos.»Sie würden nicht einmal hierher kommen, wenn der Teufel selbst ihnen im Nacken säße.«

«Aber vielleicht, wenn sie ihn verfolgen«, murmelte Henley.

Ramos quittierte seine Bemerkung mit einer Grimasse, aber er sagte nichts mehr. Reuben warf seinem Kollegen einen strafenden Blick zu, schüttelte wortlos den Kopf und blickte Ra-mos dann auffordernd an, aber es vergingen weitere Sekunden, bis ihm klarwurde, wie sinnlos das vor einem Blinden war. Er seufzte.»Okay, Mr. Ramos«, begann er.»Reden Sie. Warum sind Sie zurückgekommen? Was sollte dieser völlig sinnlose Überfall? Wo sind Corda und die anderen?«

«Das letztere weiß ich genausowenig wie Sie«, antwortete Ramos.»Glauben Sie tatsächlich, ich wäre hier, wenn ich wüßte, wo er ist? Wir haben seine Spur verloren.«

«Sie lügen!«behauptete Indiana.»Ich glaube, Sie wissen sehr gut, wo Corda ist.«

Ramos machte ein verächtliches Gesicht.»Und warum bin ich dann hier statt auf seiner Spur?«

«Das weiß ich nicht«, antwortete Indiana.»Aber es interessiert mich auch gar nicht. Ich will Marcus. Wo ist er?«

«Ich sagte Ihnen doch — in Sicherheit. Und das wird er auch bleiben, solange mir nichts geschieht. Und dasselbe gilt auch für Sie. Wenn Sie vernünftig sind, dann gibt es überhaupt keinen Grund, daß irgend jemandem etwas zustoßen sollte.«

Reuben blickte den Blinden einen Moment lang fassungslos an. In seinem Gesicht arbeitete es.»Ich fürchte, Sie verstehen Ihre Lage immer noch nicht, Ramos«, sagte er dann mit mühsam beherrschter Stimme.»Sie haben verloren. Es ist aus. Sie können uns weder drohen noch irgendwelche Forderungen stellen.«

«Sind Sie sicher?«fragte Ramos lächelnd.

«Vollkommen«, erwiderte Reuben zornig.»Und falls ich mich nicht deutlich genug ausgedrückt haben sollte, Ramos: Falls wir Professor Cordas Spur nicht wiederfinden — egal ob mit oder ohne Ihre Hilfe —, dann gibt es keinen Grund mehr für mich, Sie zu schützen. Und ich verspreche Ihnen, daß ich Sie an die Aymará oder an die bolivianischen Behörden ausliefere, je nachdem, auf wen wir zuerst stoßen. Aber ich fürchte, es werden wohl die Indios sein.«

«Das wäre Mord«, sagte Ramos.»Und Sie sind nicht der Typ, der einen Mord begeht.«

«Mord?«Reuben lachte unecht.»Sie irren sich, Ramos. Ich glaube, daß meine Regierung das anders sieht. Was ich vor einer Stunde getan habe, das wird für eine Menge Aufregung sorgen. Und meine Vorgesetzten haben ganz bestimmt kein Verständnis dafür, daß ich internationale, diplomatische Verwicklungen auslöse, ohne einen triftigen Grund dafür nennen zu können.«

«Vielleicht gibt es den ja«, sagte Ramos.»Ich könnte mir sogar ein paar Millionen Gründe vorstellen.«

«Was soll das heißen?«fragte Reuben mißtrauisch.

«Was verdienen Sie in Ihrem Job?«fragte Ramos anstelle einer Antwort.»Zweitausend im Jahr? Drei?«

Reubens Gesicht verfinsterte sich noch weiter.»Ich bin nicht zu kaufen, Ramos«, sagte er.

«Unsinn. Jeder Mensch hat seinen Preis, auch Sie.«

«Selbst wenn es so wäre«, erwiderte Reuben, der sich zwar äußerlich noch in der Gewalt hatte, aber sichtlich vor Wut kochte,»so könnten Sie meinen ganz bestimmt nicht bezahlen.«

«Sehen Sie, Mr. Reuben, und genau da irren Sie sich«, antwortete Ramos.»Wenn wir Corda finden, dann kann ich jeden Preis bezahlen. Können Sie sich vorstellen, was es heißt, reich zu sein? Ich meine, wirklich reich. Sich alles leisten zu können, was immer Sie wollen?«

«Sparen Sie sich die Mühe«, sagte Reuben.»Ich bin nicht zu bestechen. Und wissen Sie auch warum? Selbst wenn ich käuflich wäre — ich traue Ihnen nicht.«

«Oh, Sie meinen, ich würde Sie betrügen?«Ramos lachte leise und schüttelte den Kopf.»Das würde ich nicht, mein Wort darauf. Ich bin immer gut mit dem Prinzip gefahren, einen Mann lieber zu kaufen, als ihn zu töten. Und was Corda gefunden hat, ist so wertvoll, daß Ihr Preis keine Rolle mehr spielt.«

«Sie glauben doch nicht wirklich an diesen Unsinn?«fragte Henley.

«Unsinn?«Ramos schnaubte erregt.»Es ist kein Unsinn. Corda hat El Dorado entdeckt, davon bin ich fest überzeugt. Wenn Sie mir nicht glauben, dann fragen Sie Professor Jones. Er wird es Ihnen bestätigen.«

Henley sah ihn fragend an, aber Indiana zögerte, etwas dazu zu sagen. Nach allem, was er bisher erlebt hatte, war er nicht mehr sicher, ob seine Vermutung wirklich zutraf. Und wenn ja, ob El Dorado nicht vielleicht etwas völlig anderes war, als sie alle sich bisher unter diesem Wort vorgestellt hatten.

«Nun?«fragte Reuben.

«Ich … bin nicht sicher«, murmelte Indiana ausweichend.»Es spricht einiges dafür, daß er recht hat.«

«Aber El Dorado ist doch nur eine Legende«, sagte Henley verwirrt.»Ich meine — ein Mythos wie …«Er suchte nach Worten.

«Troja?«schlug Indiana lächelnd vor.

«Genug!«unterbrach Reuben ungeduldig.»Von mir aus kann er den Weihnachtsmann höchstpersönlich entdeckt haben, das interessiert mich nicht. Was mich interessiert, ist, wohin Professor Corda mit seinen Begleitern will und wo er sich jetzt aufhält. «Er trat einen Schritt näher an Ramos heran.

«Und ich bin mir inzwischen ziemlich sicher, daß Sie beides wissen.«

«Wenn das so wäre, dann wäre ich kaum zurückgekommen, nicht wahr?«erwiderte Ramos abfällig.

«Das bringt uns wieder zurück zu der Frage«, mischte sich Indiana ein,»warum Sie es getan haben.«

«Ich habe etwas vergessen«, sagte Ramos.

«Und was?«

«Das geht Sie nichts an.«

Indiana wollte auffahren, aber Reuben warf ihm einen mahnenden Blick zu, schüttelte unmerklich den Kopf und trat so dicht an Ramos heran, daß der Blinde seine Nähe spüren mußte.»Für einen Mann in Ihrer Lage, Ramos«, sagte er,»sind Sie ziemlich mutig. Ich kann es mir immer noch anders überlegen und Sie zurückbringen.«

«Blödsinn!«antwortete Ramos.»Sie brauchen mich, Reuben. Sie brauchen mich dringender als ich Sie, denn im Moment bin ich der einzige, der Sie zu Corda führen könnte.«

«Oh, ich denke, das kann Dr. Jones auch erledigen«, antwortete Reuben.»Zugegeben — vielleicht nicht ganz so schnell wie Sie, dafür aber sehr viel bereitwilliger.«

«Glauben Sie?«Ramos lachte häßlich.»Dann frage ich mich allerdings, wieso Sie sich überhaupt mit einem Verbrecher wie mir abgeben. Sie bluffen, Reuben. Dr. Jones ist mit seinem Latein genauso am Ende wie Sie. Corda hat drei Tage Vorsprung. Wissen Sie, was drei Tage in einem Land wie diesem bedeuten? Ebensogut könnten es drei Monate sein. Oder drei Jahre. «Er lachte abermals. Der Blick seiner blinden Augen wanderte von Reuben zu Henley und Indiana und zurück, und wieder hatte Indiana das unheimliche Gefühl, er könnte sie auf eine unheimliche Art und Weise sehen.»Ich will Ihnen etwas verraten, Reuben. Wir sind nicht einmal mehr weit von ihm entfernt — keine fünfzig Meilen mehr, um genau zu sein. Aber fünfzig Meilen in diesem Land sind mehr als fünfhundert in dem, aus dem Sie kommen. Sie haben keine Chance, ihn zu finden, wenn ich Ihnen nicht verrate, wo er ist.«

«Was Sie allerdings nicht tun werden«, vermutete Indiana.

Ramos machte eine vage Handbewegung.»Wer sagt das? Vielleicht werden wir uns ja einig? Ich will nicht viel — nur einen fairen Anteil.«

Reuben ächzte.»Sie wagen es, jetzt noch Forderungen zu stellen?«

«Und warum nicht? Sie wollen etwas von mir — und ich will etwas von Ihnen — was liegt da näher, als daß —«

«Das reicht!«unterbrach ihn Reuben scharf.»Ich denke nicht daran, Geschäfte mit einem Mörder zu machen!«

«Aber haben Sie das denn nicht schon?«sagte Ramos beinahe freundlich.

Reuben wollte abermals auffahren, doch Indiana brachte ihn mit einer besänftigenden Geste zum Schweigen.»Warten Sie«, sagte er.»Möglicherweise brauchen wir diesen …«Er blickte Ramos verächtlich an.»Herrn gar nicht.«

Sowohl Reuben als auch Henley sahen ihn mit neu erwachender Aufmerksamkeit an, und auch Ramos wirkte plötzlich ein ganz kleines bißchen nervös. Indiana lächelte, obwohl Ra-mos es gar nicht sehen konnte.»Fünfzig Meilen, sagten Sie?«

Ramos reagierte nicht, aber Indiana wandte sich mit einer auffordernden Geste an Henley, der lässig gegen das Ruder gelehnt dastand und abwechselnd ihn und seinen Kollegen ansah.»Ich glaube, ich weiß jetzt alles«, sagte er.»Haben Sie eine Karte von diesem Gebiet?«

Henley nickte und wandte sich wortlos um, um aus dem Durcheinander auf dem Pult vor ihm die verlangte Karte herauszufischen, während Reuben ungeduldig von einem Fuß auf den anderen zu treten begann.

«Ich glaube, ich weiß jetzt, woran mich der Tanz der Indianer erinnert hat«, beantwortete Indiana die unausgesprochene Frage des FBI-Agenten.»Ich bin noch nicht ganz sicher, aber …«Nervös drehte er sich wieder zu Henley herum und wartete, bis dieser ihm das zerknitterte Etwas gereicht hatte, das wohl den Vorstellungen des Bootsbesitzers von einer Karte entsprechen mochte. Im schwachen Licht der Kabinenbeleuchtung waren nicht sehr viele Details zu erkennen, als Indiana sie hastig auf dem kleinen Tisch an der Rückseite der Steuerkabine ausbreitete und mit dem Handrücken glattstrich. Aber er sah schnell, wonach er suchte.

«Hier!«Indiana deutete mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf drei grob kreisförmige Markierungen am oberen Rand der Karte, die ein ungleichmäßiges Dreieck bildeten.

Reuben beugte sich neugierig über seine Schulter, blickte einen Moment stirnrunzelnd auf die Karte hinab und sah ihn dann völlig verwirrt an.»Und?«

«Erinnern Sie sich nicht?«fragte Indiana.»Denken Sie an die Aymará. Drei Feuer, zwischen denen der Häuptling gestanden hat.«

«Und?«wiederholte Reuben.

«Das hier — «Indiana tippte triumphierend mit Zeige- und Mittelfinger auf die Karte,»sind erloschene Vulkane. Ich war nicht sicher, aber jetzt erinnere ich mich wieder.«

Reubens Gesicht hellte sich auf.»Und Sie glauben, das, was wir suchen — «

«— liegt genau dazwischen«, führte Indiana den Satz zu Ende.»Dort, wo der Häuptling gestanden hat.«

Er behielt Ramos bei diesen Worten genau im Auge und sah, daß der Gangster erschrocken zusammengefahren war.

«Aber das ist unmöglich«, protestierte Henley.»Wenn es so wäre, hätte man es längst gefunden. Dieses Gebiet — «

«— ist so gut wie unerforscht«, fiel ihm Indiana ins Wort.

«Lassen Sie sich nicht von dieser Karte täuschen. Man hat ein paar Luftaufnahmen gemacht und die Informationen verwertet, die man gerade bekommen konnte. Realistisch ist eher die Annahme, daß diese Karte so glaubwürdig ist wie Ramos’ letzte Einkommensteuererklärung. Es würde mich nicht wundern, wenn herauskäme, daß noch kein Weißer einen Fuß in dieses Gebiet gesetzt hat.«

Reuben beugte sich abermals vor und blickte aus zusammengekniffenen Augen auf die Stelle am oberen Rand der Karte, auf die Indiana gedeutet hatte. Zwischen den drei angedeuteten Kreisen waren nur die grünen Striche zu sehen, mit denen der Kartenzeichner Dschungel angedeutet hatte,»Fünfzig Meilen …«murmelte er.

«Wenn die Karte stimmt, sind es eher achtzig oder auch hundert«, wandte Henley ein.»Und der Fluß macht eine Biegung. Mit dem Boot werden wir nicht sehr nahe herankommen.«

«Und zu Fuß auch nicht«, mischte sich Ramos ein. Er hatte seinen Schrecken überwunden und seine alte Überheblichkeit zurückgewonnen. Auf seinem entstellten Gesicht erschien sogar wieder die Andeutung eines Lächelns.»Wissen Sie, Mr. Henley — in einem Punkt hat Dr. Jones recht. Diese Karte ist nicht besonders genau. Es gibt zwischen dem Fluß und diesen Vulkanen ein paar Dinge, die gar nicht eingezeichnet sind. Was mich wieder zu unserer Abmachung zurückbringt.«

Reuben durchbohrte ihn mit Blicken, schwieg aber.

«Und da wäre zu guter Letzt noch Mr. Brody«, fügte Ramos lächelnd hinzu.»Ich nehme doch an, daß Sie immer noch daran interessiert sind, ihn lebend und unverletzt zurückzubekommen?«

«Genauso wie Sie daran denken, wie Sie lebend und unverletzt aus diesem Land herauskommen können«, sagte Indiana. Die Drohung in seinen Worten war nicht zu überhören, aber Ramos lächelte nur noch breiter.

«Ich sehe, wir sind dabei, eine gemeinsame Basis zu entwikkeln«, sagte er.»Ich schlage vor, Sie lassen mich und meine Leute frei, und dafür verrate ich Ihnen den Aufenthaltsort von Mr. Brody.«

«Ha!«sagte Reuben.

Und dabei blieb es für die nächsten Stunden, bis die Sonne aufging.

Indiana hatte versucht, noch ein wenig Schlaf zu finden, aber es war bei dem Versuch geblieben. Auf dem Schiff herrschte nicht nur eine drückende Enge, sondern auch eine gespannte, gereizte Atmosphäre, die an einen Vulkan kurz vor dem Ausbruch erinnerte. Weder Ramos’ Männer noch er selbst hatten auch nur den Versuch unternommen, auszubrechen oder ihnen auch nur Schwierigkeiten zu bereiten — aber gerade das war es, was Indiana nervös machte. Ramos gehörte nicht zu den Männern, die aufgaben, selbst wenn sie sich in einer vermeintlich aussichtslosen Situation befanden.

Als die Sonne aufging, war Indiana schon wieder an Deck und blickte aus brennenden, rotgeränderten Augen nach Norden. Der Fluß wälzte sich träge in seinem Bett dahin, und der Dschungel war so dicht geworden, daß er eine undurchdringliche Mauer zu beiden Seiten des Flusses zu bilden schien. Hen-ley, der noch immer am Ruder stand, hielt das Boot genau in der Flußmitte, so daß kaum die Gefahr bestand, daß sie abermals überfallen wurden. Obwohl auf der Landkarte wenig mehr als ein dünner blauer Strich, war selbst dieser Nebenfluß doch in Wahrheit ein breiter Strom, der sich in zahllosen Windungen und Kehren durch das Land schlängelte. Und trotz ihrer vermeintlichen Sicherheit wurde Indiana immer nervöser.

Er hörte Schritte hinter sich, drehte sich um, blickte in Reubens Gesicht und erkannte, daß es dem FBI-Mann nicht anders ging. Auch er sah müde aus, und auch hinter dessen rein körperlicher Erschöpfung verbarg sich eine zweite, tiefere Nervosität, die zu überspielen er nicht ganz imstande war.

«Ich habe das Gefühl, in eine Falle zu laufen«, begann Reuben übergangslos.

«So?«Indiana lächelte müde.»Ich nicht.«

Reuben seufzte.»Ihren Optimismus möchte ich haben.«

«Wieso Optimismus? Bei mir ist es nicht nur ein Gefühl, in eine Falle zu tappen, ich weiß es«, antwortete Indiana.

Reubens Antwort bestand nur aus einem Stirnrunzeln und einem tiefen, erschöpften Seufzen, während er sich schwer auf die Reling stützte und ins Wasser sah. Eine ganze Weile schwiegen sie beide, dann fragte Reuben unvermittelt:»Woher haben Sie es gewußt?«

Indiana blickte ihn fragend an.

«Das mit den drei Vulkanen«, erklärte Reuben.»Ist Südamerika Ihr Spezialgebiet?«

Indiana schüttelte den Kopf.»Im Gegenteil. Es war …«Er zögerte unmerklich, lächelte knapp und gestand:»Eigentlich war es ein purer Zufall. Ich habe in Stans Haus ein paar Bücher durchgeblättert. Dabei ist mir eine bestimmte Landkarte aufgefallen. Und als ich gestern abend den Häuptling beobachtet habe, fiel es mir wieder ein. Das ist alles.«

Reuben lächelte müde.»Sie wären erstaunt, Jones, wenn Sie wüßten, wie oft große Dinge durch solche Kleinigkeiten entschieden werden«, sagte er. Er lachte leise und nicht sehr humorvoll.»Wenn ich ehrlich sein soll, dann tut der Zufall die Hälfte unserer Arbeit. Mindestens.«

Indiana wollte mit irgendeiner Belanglosigkeit antworten, aber plötzlich legte er den Kopf schräg und lauschte. Gleichzeitig blickte er gespannt nach vorn.

Reuben sah auf, wenn auch nur deshalb, weil ihm Indianas plötzliche Aufmerksamkeit aufgefallen war.»Was haben Sie?«fragte er. Plötzlich klang er überhaupt nicht mehr müde, und er sah auch nicht mehr so aus, sondern wirkte im Gegenteil aufs Höchste gespannt. Indiana zuckte mit den Schultern.»Ich weiß nicht«, murmelte er.»Da … da ist irgend etwas.«

Aus den Augenwinkeln sah er, daß Reuben sich automatisch straffte und nach der Waffe an seinem Gürtel griff, die Bewegung dann aber nicht einmal ganz zu Ende führte, denn in diesem Moment hörte er es auch, und er begriff, daß die Gefahr, die vor ihnen lag, nicht mit einer Waffe zu beseitigen war.

Durch die Geräusche des allmählich erwachenden Dschungels und das monotone Tuckern des Dieselmotors drang ein dumpfes, grollendes Donnern; noch sehr weit entfernt, aber schon deutlich genug, um die beiden Männer wissen zu lassen, was da war: ein Wasserfall oder eine Stromschnelle.

Indiana runzelte die Stirn.»Das muß eines von den Hindernissen sein, von denen Ramos gesprochen hat«, sagte er.

«Auf der Karte war aber nichts eingezeichnet«, sagte Reuben in beinahe vorwurfsvollem Ton.

«Ich habe Ihnen doch schon gesagt, was ich von dieser Karte halte«, antwortete Indiana.

Reuben blickte noch einen Moment lang konzentriert nach vorn, dann zuckte er mit den Achseln.»Es spielt keine Rolle«, sagte er.»Wir müssen ohnehin an Land. Ob nun ein paar Meilen früher oder später, das macht keinen Unterschied.«

Sie gingen zurück ins Ruderhaus. Reuben erklärte Henley mit wenigen Worten, was sie entdeckt hatten, und bat ihn, das Schiff näher ans Ufer zu bringen und zugleich Ausschau nach einem möglichen Anlegeplatz zu halten, während Indiana sich entschuldigte und unter Deck ging, um Marian zu wecken.

Sie war nicht da. Reuben hatte ihr die Kapitänskajüte zugewiesen — den einzigen abschließbaren Raum an Bord —, aber die Tür stand offen, und die schmale Koje war unberührt. Offensichtlich hatte Marian in dieser Nacht so wenig Schlaf gefunden wie sie auch. Aber Indiana fragte sich irritiert, wo sie sein mochte. Das Schiff war weiß Gott nicht groß genug, um darauf Spazierengehen zu können, ohne gesehen zu werden. Mit Ausnahme dieser und der Kabine, die sich Reuben und Indiana geteilt hatten, gab es im Grunde nur noch den Maschinenraum — und den Lagerraum, in dem Ramos’ Männer eingesperrt waren!

Verwirrt verließ er die Kabine wieder und ging in sein eigenes Quartier zurück, um seine wenigen Habseligkeiten zusammenzusuchen. Nur einige Minuten später trat er wieder an Deck hinaus.

Das Grollen der Stromschnellen war mittlerweile so laut geworden, daß es beinahe das Geräusch des Motors übertönte. Wo bisher die grüne Mauer des Dschungels den Fluß begrenzt hatte, erhob sich jetzt eine glitzernde Woge aus Schaum und Gischt, in der scharfkantiger, nasser Stein glänzte. Die Strömung hatte zugenommen, aber das Schiff näherte sich bereits dem Ufer. Reuben und Henley waren nicht mehr allein. Wie am Abend zuvor war Ramos wieder ins Steuerhaus gebracht worden, bewacht von einem der Söldner.

Indiana streifte ihn mit einem flüchtigen Blick, dann wandte er sich an Reuben.»Wo ist Marian?«

«Mrs. Corda?«Der FBI-Beamte zuckte mit den Schultern.»Ist sie denn nicht in ihrer Kabine?«

«Dann würde ich kaum fragen«, antwortete Indiana gereizt.

Reuben sah ihn irritiert an, zuckte aber nur noch einmal mit den Achseln und konzentrierte sich im übrigen weiter auf das allmählich näher kommende Ufer. Indiana bemerkte mit einem leisen Gefühl von Sorge, daß der Dschungel an dieser Stelle ganz besonders dicht zu sein schien. Aber dann beruhigte er sich damit, daß sie noch Meilen von den Stromschnellen entfernt waren. Und das Schiff, so klein und alt es war, hatte starke Maschinen.

«Was machen wir jetzt bloß mit ihm und seinen Leuten?«fragte er mit einer Kopfbewegung auf Ramos.

Reuben deutete auf das Funkgerät.»Wir lassen sie hier. Es wäre reichlich unpraktisch, ein Dutzend Gefangene mit durch den Dschungel zu schleppen, oder etwa nicht? Ich werde einen Funkspruch an die bolivianische Polizei aufgeben, sobald wir an Land gegangen sind, damit die sie abholen. Wahrscheinlich sind sie sowieso schon hinter uns her. «Er legte eine kurze, genau berechnete Pause ein und fuhr fort, wobei er sich direkt an Ramos wandte:»Was mit Ihnen geschieht, Ramos, liegt ganz bei Ihnen selbst. Es macht mir nichts aus, Sie zusammen mit Ihrer Mörderbande unten im Laderaum einzusperren. Was die Bolivianer mit Ihnen tun werden, können Sie sich vorstellen. Das andere wäre, Sie begleiten uns — zu unseren Bedingungen.«

Ramos antwortete nicht. Reuben schien auch nicht ernsthaft damit gerechnet zu haben, denn er drehte sich mit einem beiläufigen Achselzucken um und konzentrierte sich wieder auf das Ufer.

Indianas Blick wanderte unentschlossen zwischen seinem und Ramos’ Gesicht hin und her. Er wußte, daß Reuben getan hatte, was in seiner Macht stand — aber das änderte nichts daran, daß Marcus’ Schicksal so gut wie besiegelt war, wenn sie Ramos hier zurückließen. Er fühlte sich hilflos wie nie zuvor im Leben. Er mußte irgend etwas tun.

Eine Bewegung im hinteren Teil des Schiffes weckte plötzlich seine Aufmerksamkeit. Er drehte sich um und erkannte Marian, die gebückt aus der Tür am Achteraufbau trat und sich einen Moment lang suchend umsah und dann das Ruderhaus ansteuerte.»Wo warst du?«fragte Indiana, als sie die Tür öffnete und eintrat.

«Unten«, antwortete sie.»Ich habe den Männern einen Kaffee gekocht — sie hatten ihn nötig. Die Nacht war — «

Sie brach ab. Ihr Gesicht verdüsterte sich, als ihr Blick auf Ramos fiel, und Indiana sah, wie sie am ganzen Leib zu zittern begann. In ihren Augen flatterte etwas.

Wie beiläufig trat er zwischen sie und Ramos und erklärte:»Wir werden bald an Land gehen, und wenn du irgendwelche Sachen in der Kabine hast, solltest du sie holen.«

«An Land?«Marian war nur kurz irritiert:»O ja, die Stromschnellen.«

Reuben sah verwirrt auf, und auch Indiana musterte Marian einen Moment lang verblüfft.»Woher weißt du davon?«

«Sie sind doch kaum zu überhören«, lächelte Marian.»Außerdem hat Stan einmal etwas davon erwähnt. «Sie trat einen Schritt auf Indiana zu, aber ihr Blick blieb unverwandt auf Ramos geheftet.

«Nicht, Marian«, sagte Indiana sanft. Er hob den Arm und berührte sie leicht an der Schulter.»Ich weiß, was du empfindest. Aber er ist es nicht wert.«

Marians Lippen wurden zu einem dünnen, blutleeren Strich. Indiana konnte fast sehen, wie es hinter ihrer Stirn arbeitete. Dann wandte sie sich mit einem Ruck um und trat neben Reuben ans Fenster. Ihr Gesicht war starr und unbewegt, aber ihre Hände ballten sich unentwegt zu Fäusten und öffneten sich wieder.

Einen Moment lang musterte Reuben sie besorgt, aber er sagte nichts, sondern hob nur die Augenbrauen, schüttelte fast unmerklich den Kopf und drehte sich dann erneut zu Ramos herum.

«Ihre Bedenkzeit ist vorbei, Ramos«, sagte er.»Also, zum unwiderruflich letzten Mal: Möchten Sie mit Ihren Männern hier auf das Eintreffen der Bolivianer warten, oder ziehen Sie es vor, mit uns zusammenzuarbeiten?«

«Vielleicht gibt es ja noch eine dritte Möglichkeit«, sagte Ramos ruhig.

Reuben legte den Kopf schräg und sah ihn mißtrauisch an, und im selben Moment drehte sich Marian vom Fenster weg, zog mit einer raschen Bewegung die Pistole aus Reubens Halfter und wich mit zwei ebenso raschen Schritten von ihm zurück, als er nach der Waffe greifen wollte. Reuben erstarrte, als Marian den Hahn zurückzog und die Mündung der Pistole auf seinen Kopf richtete.

«Marian!«Auch Indiana machte einen Schritt und blieb abrupt stehen, als Marian drohend mit dem Revolver fuchtelte.

«Geh zur Seite!«verlangte Marian.

Indiana rührte sich nicht.

«Geh zurück!«verlangte sie noch einmal. Und diesmal war in ihrer Stimme eine Schärfe, die Indiana klarmachte, daß sie es ernst meinte. Für die Dauer eines Herzschlags sah er sie noch beschwörend an, wich aber dann gehorsam und mit halb erhobenen Händen weiter zurück — ohne ihr allerdings die Schußlinie auf Ramos freizugeben.»Tu das nicht«, sagte er.»Er ist es nicht wert, Marian. Und wir brauchen ihn.«

«So?«

«Denk an Marcus«, sagte Indiana.»Und an Stanley. Ohne ihn finden wir deinen Mann vielleicht nie.«

«Bitte, Mrs. Corda«, sagte auch Reuben.»Seien Sie vernünftig. Legen Sie die Waffe weg. Dr. Jones hat recht — er ist es wirklich nicht wert.«

Marians Blick flackerte. Sie sah Reuben an, dann Indiana und schließlich Henley, der in gespannter Haltung am Ruder stand, aber die Waffe in ihrer Hand blieb unverwandt weiter auf Ramos gerichtet — genauer gesagt: auf Indianas Brust.

«Geh zur Seite, Indy«, flüsterte sie.

Indiana schüttelte den Kopf.»Nein«, sagte er entschlossen.»Das werde ich ganz bestimmt nicht tun.«

«Bitte, Indy«, sagte Marian.»Ich möchte dich nicht verletzen. «Ihre Stimme schwankte, klang aber trotzdem fest und entschlossen. Und Indiana hörte auf, auf sie einzureden. Er begriff, daß Marian nicht in der Verfassung war, in der sie mit Worten zu beeindrucken war. Blitzschnell überschlug er seine Chancen, sich auf sie zu werfen und ihr die Waffe zu entreißen, verwarf diesen Gedanken aber sofort wieder.

«Das hat doch keinen Sinn, Mrs. Corda«, versuchte nun auch Henley, Marian zu beruhigen.»Was versprechen Sie sich denn davon, ihn zu erschießen? Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß er seine Strafe bekommen wird. Er wird den Rest seines Lebens im Gefängnis verbringen, das schwöre ich.«

«Das glaube ich eigentlich nicht«, sagte Ramos ruhig.

Beinahe gelassen trat er hinter Indiana hervor, ging auf Mari-an zu und blieb einen Schritt neben ihr stehen, als er ihre Nähe spürte. Indiana starrte ihn fassungslos an, und auch auf Reubens und Henleys Gesichtern erschien ein verblüffter, dann beinahe entsetzter Ausdruck.

«Was ist mit den Männern?«fragte Reuben.

Marian lächelte flüchtig.»Ich sagte doch — ich habe ihnen einen Kaffee gekocht. Ich schätze, daß sie noch mindestens zwei oder drei Stunden schlafen werden.«

«Marian …«, murmelte Indiana.»Was …«

«Das glaube ich einfach nicht«, flüsterte Reuben.»Das kann nicht Ihr Ernst sein!«

«Versuchen Sie lieber nicht, das herauszufinden«, sagte Ma-rian ruhig.

Reuben versuchte es auch gar nicht. Aber Henley. Blitzschnell und ohne jede Vorwarnung warf er sich vor und schlug nach Marians Arm. Sie wich dem Hieb aus, senkte ihre Waffe um eine Winzigkeit und jagte ihm eine Kugel in den Oberschenkel. Henley schrie auf, taumelte zurück und gegen das Ruder und brach mit schmerzverzerrtem Gesicht zusammen. Die Waffe in Marians Hand drehte sich blitzschnell herum und richtete sich auf Reuben, der nur einen Schritt auf sie zu gemacht hatte.

«Versuchen Sie es nicht«, sagte sie.»Bitte. Ich möchte niemanden verletzen. Aber ich werde es tun, wenn Sie mich dazu zwingen.«

Auch Reuben hob langsam die Hände und wich wieder ein Stück zurück. Auf seinem Gesicht mischten sich Schrecken und Verblüffung, aber es war ihm deutlich anzusehen, wie schwer es ihm fiel, wirklich zu glauben, was er da sah.

Marian deutete auf Henley.»Helfen Sie ihm.«

Während sich Reuben um seinen verwundeten Kollegen kümmerte, starrte Indiana Marian weiter fassungslos an. Sie hielt seinem Blick einen Moment lang stand, sah aber dann weg, wenn auch, ohne die Waffe zu senken. Indiana war nicht sicher, ob sie auf ihn schießen würde — aber er war auch nicht sicher, daß sie es nicht tat.

«Warum?«murmelte er.

«Warum?«wiederholte Marian, ohne ihn anzusehen. Sie lachte, sehr leise, sehr hart und sehr traurig.

«Was hat er dir versprochen?«fragte Indiana.»Dich zu Stan zu bringen? Das wird er nicht tun. Und wenn, dann wird er euch beide umbringen.«

«Stan?«Marian sah mit einem Ruck auf und blickte ihn nun doch an. Und plötzlich war in ihren Augen eine Härte, die Indiana erschreckte.»Stan?«wiederholte sie.»Stanley ist mir egal, Indy. Es ist mir gleich, ob Ramos ihn tötet oder am Leben läßt, ob er mit ihm teilt oder ihn davonjagt. Was weißt du schon!«

«Ich — «

«Nichts!«fiel ihm Marian ins Wort.»Du weißt wahrhaftig nicht, wie Stanley wirklich ist. Keiner von euch weiß das! Die letzten zehn Jahre mit ihm waren die Hölle! Oh, du denkst, du wüßtest alles über uns?«Wieder lachte sie.»Du weißt nichts, ebensowenig wie alle anderen. Ich habe die Blicke bemerkt, die sie mir zugeworfen haben, und ich habe gehört, wie sie hinter meinem Rücken getuschelt haben, wenn sie glaubten, ich merke es nicht. Aber es war nicht so schlimm, wie ihr alle dachtet. Es war schlimmer. Er hat mir alles gestohlen. Meine Familie. Meine Freiheit. Meine Jugend. Ich habe ihm die besten Jahre meines Lebens geopfert, und zum Dank hat er mich geschlagen und schlimmer behandelt als seinen Hund.«

«Und du glaubst jetzt, Ramos wäre besser?«

Marian machte ein abfälliges Geräusch.»Was interessiert mich Ramos. Wir sind Geschäftspartner, mehr nicht.«

«So wie Stan und er?«

«Stan hat ihn betrogen«, antwortete Marian so heftig, daß es fast wie ein Schrei klang.»Ich betrüge ihn nicht. Ich halte meinen Teil der Abmachung, und er wird seinen Teil halten. Es ist nicht viel, was ich will. Nicht genug jedenfalls, daß es sich lohnen würde, mich deswegen zu töten. Aber genug für mich.«

«Bitte, Marian«, sagte Indiana in fast flehendem Tonfall.»Komm zur Vernunft. Du weißt ganz genau, daß du Unsinn redest.«

«Unsinn?! Weil ich für die letzten zehn Jahre auch etwas haben will? Weil ich auch einmal etwas abkriegen möchte?«

«Und du glaubst, Geld könnte wiedergutmachen, was Stan dir angetan hat?«

«Nein«, antwortete Marian.»Aber ich kann ein neues Leben beginnen. Ein Leben ohne Angst und Demütigungen.«

«Mit Geld, das dir nicht gehört? Dann bist du nicht besser als Stanley.«

«Dann bin ich eben nicht besser als er«, antwortete Marian trotzig.»Warum sollte ich? Schließlich hat er Erfolg gehabt. Ihr habt doch alle gewußt, wie er ist. Ihr habt gewußt, woher sein Reichtum kam. Und ihr habt auch gewußt, wie er mich behandelt. Aber ihr habt mich verachtet, nicht ihn.«

«Aber das stimmt doch nicht«, rief Indiana.

«Genug!«mischte sich Ramos ein.»Sie werden später noch Gelegenheit genug haben, mit Mrs. Corda zu reden, Dr. Jones.«

«So?«fragte Indiana böse.»Haben Sie etwa vor, uns gemeinsam zu beerdigen?«

«Sie sollten Ihren Freunden glauben, Dr. Jones«, erwiderte Ramos spöttisch.»Ich habe wirklich nicht vor, Ihnen etwas zuleide zu tun. Nicht, solange Sie mich nicht dazu zwingen. Aber Sie werden uns begleiten. «Er lächelte.»Erinnern Sie sich an gestern abend, Dr. Jones? Sie fragten mich, warum ich zurückgekommen bin. Nun, jetzt werde ich Ihnen diese Frage beantworten. Ich bin eigens zurückgekommen, um Mrs. Corda zu holen. Und Sie.«

«Mich?«

«Ich brauche Sie, Jones«, sagte Ramos.»Ich gestehe es nur ungern ein, aber ich fürchte, ich bin an einem Punkt angelangt, an dem ich auf Ihre Hilfe angewiesen bin.«

«Sie sind ja verrückt«, sagte Indiana.

«Möglich«, antwortete Ramos gelassen.»Das hat man mir schon öfter nachgesagt. Aber ich lebe immer noch, während die meisten von denen, die diese kühne Behauptung aufgestellt haben, nicht mehr unter uns weilen. Das sollte Ihnen zu denken geben. Und bevor Sie weitere kostbare Zeit damit verschwenden, mir zu versichern, daß Sie mir ganz bestimmt nicht helfen werden, bedenken Sie bitte, daß sich Mr. Brody noch immer in meiner Gewalt befindet. Ganz egal aber, was Sie von mir halten — ich stehe zu meinem Wort. Helfen Sie mir, und ich lasse Mr. Brody und Sie gehen.«

«Und Reuben und seine Männer?«

Ramos zuckte mit den Achseln.»Für sie gilt dasselbe, was Mr. Reuben vorhin so treffend formulierte: Es wäre sehr unpraktisch, mit einem Dutzend Gefangener durch den Dschungel zu marschieren, nicht wahr?«

«Er wird uns umbringen«, sagte Reuben ruhig. Er hockte neben Henley auf den Knien und preßte ein zusammengefaltetes Taschentuch auf die heftig blutende Wunde in dessen Oberschenkel.

«Ich bitte Sie, Mr. Reuben«, sagte Ramos. Er brachte das Kunststück fertig, ehrlich betrübt zu klingen.»Ich werde Ihnen die gleiche Chance einräumen, die Sie mir und meinen Männern einräumen wollten. Allerdings werden Sie verstehen, daß ich darauf verzichte, die Behörden von Ihrem Aufenthaltsort in Kenntnis zu setzen. Wahrscheinlich sind sie ohnehin schon auf dem Weg hierher. Sie werden die Unbequemlichkeit Ihres eigenen Gefängnisses also allerhöchstens für wenige Stunden in Kauf nehmen müssen.«

Sie waren den Stromschnellen bis auf eine halbe Meile nahe gekommen, ehe am Ufer endlich eine Stelle auftauchte, wo das Schiff anlegen konnte. Das Grollen des tobenden Wassers war so laut geworden, daß es nahezu jedes andere Geräusch übertönte, und das Schiff zitterte und bebte in der reißenden Strömung so heftig, daß Indiana fast Mühe hatte, auf den Beinen zu bleiben. Über dem Fluß hing eine gewaltige Gischtwolke, und was aus der Entfernung wie winzige Felsen ausgesehen hatte, entpuppte sich aus der Nähe als ein Gewirr zyklopischer Brok-ken und Steintrümmer, die den Fluß auf zwei oder drei Meilen in eine Todesfalle verwandelten. Obwohl die Dampfturbine und der Hilfsdiesel beide arbeiteten, hatten sie alle Mühe, das Schiff auf der Stelle zu halten.

Indiana war der letzte ihres Trupps, der von Bord ging — genauer gesagt der vorletzte, denn zwei Schritte hinter ihm folgte noch einer von Ramos’ Männern, der eine entsicherte Maschinenpistole auf seinen Rücken gerichtet hatte. Ramos hatte nicht mehr sehr viel gesagt, aber er hatte keinen Zweifel daran gelassen, daß der Bursche die Waffe auch benutzen würde, wenn Indiana auch nur einen winzigen Fehler machte; ganz egal, ob er ihn brauchte oder nicht. Und Indiana glaubte ihm.

Aber ganz abgesehen davon — er fühlte sich ohnehin nicht in der Verfassung, irgend etwas zu tun. Der ungläubige Schrek-ken, der ihn gepackt hatte, als er sah, wie Marian Reubens Waffe an sich nahm, war keinen Deut schwächer geworden. Er fühlte sich immer noch wie vor den Kopf geschlagen, und selbst jetzt, nachdem viel Zeit vergangen war, fiel es ihm schwer, auch zu glauben, was geschehen war. Er begriff es einfach nicht. Es war nicht das erste Mal, daß er belogen und sogar benutzt worden war, und doch hatte ihn seine Menschenkenntnis noch niemals so im Stich gelassen wie jetzt. Und er weigerte sich einfach, es als Tatsache hinzunehmen. Nicht bei Marian.

Mit erhobenen Armen, unsicher auf der schwankenden Planke balancierend, die vom Bord des Schiffes zum Ufer hinabführte, näherte er sich Ramos und seiner Mörderbande, legte die letzten eineinhalb Meter mit einem gewagten Satz zurück und richtete sich sehr vorsichtig wieder auf, als gleich ein halbes Dutzend Gewehrläufe zugleich auf ihn zielte.

«Was tun Sie?«fragte Ramos scharf.

«Nichts«, antwortete Indiana hastig.»Ich bin … ausgerutscht.«

Ramos’ erloschene Augen starrten ihn an, als könnten sie ihn sehen, aber der Krüppel sagte nichts, sondern drehte sich mit einem Ruck wieder zu seinen Leuten um und machte eine herrische Geste.»Kümmert euch um das Schiff.«

Während zwei von Ramos’ Männern darangingen, das Boot mit Tauen zu befestigen, die Indianas Meinung nach allerdings viel zu dünn waren, um der reißenden Strömung standzuhalten, durchsuchten die anderen die von Bord mitgebrachten Ausrüstungsgegenstände. Obwohl Reubens Truppe kaum halb so groß war wie die des Killers, gab es notfalls genug Vorräte für einen wochenlangen Marsch durch den Busch, und die Gangster hatten alles mitgenommen, was nicht niet- und nagelfest war. Trotzdem fiel Indiana auf, daß sie sehr genau auswählten, was sie wirklich mitzunehmen gedachten und was dableiben sollte, und daß sie nur sehr wenige Vorräte an sich nahmen. Er vermutete, daß sie nicht mehr sehr weit von ihrem Ziel entfernt waren — oder daß es ein zweites Lager gab, in dem Ramos bereits sein eigenes Depot errichtet hatte.

Er bemerkte Marian am anderen Ende der kleinen Lichtung, an der sie angelegt hatten, und machte einen Schritt in ihre Richtung. Der Bursche, der ihn zu bewachen hatte, folgte ihm getreulich, hielt ihn aber nicht zurück, so daß Indiana weitergehen konnte. Marian blickte ihm mit einer Mischung aus Trauer und Trotz entgegen.

Eine ganze Weile blickte Indiana sie nur stumm an. Er wollte irgend etwas sagen, aber er konnte es nicht. Dies war nicht der Moment, um ihr Vorwürfe zu machen oder etwas so Albernes zu tun, wie an ihre alte Freundschaft zu appellieren. Was immer in Marian vorgegangen war, um sie so weit zu bringen, hatte lange gedauert, sehr lange. Und es war nicht mit ein paar Worten wieder rückgängig zu machen.

«Es tut mir leid«, sagte er schließlich nur.

«Mir auch, Indy«, antwortete Marian.»Hoffentlich wirst du mich verstehen, wenn alles vorbei ist.«

«Wer sagt dir, daß ich das nicht jetzt schon tue?«fragte Indiana.

Marian biß sich auf die Unterlippe. Sie hielt seinem Blick jetzt nicht mehr stand, sondern sah unstet hierhin und dorthin und begann, sich nervös auf der Stelle zu bewegen. Als Indiana hinter sich Ramos’ schleifende Schritte und einen Augenblick später seine Stimme hörte, stellte er fest, daß sie sichtlich aufatmete.

«Es ist Zeit, Dr. Jones«, sagte Ramos.»Sie werden später noch ausreichend Gelegenheit haben, sich mit Mrs. Corda zu unterhalten.«

Ramos’ Männer hatten Reubens Ausrüstung geplündert und die Reste achtlos am Ufer verstreut. Indiana bemerkte, daß sich eine große Anzahl von Waffen und Munition unter diesen Dingen befand, die sie nicht mitnehmen wollten. Der Anblick irritierte ihn ein wenig. Entweder dieses Verhalten zeugte von einem geradezu bodenlosen Leichtsinn — oder sie rechneten nicht damit, überhaupt verfolgt zu werden. Sein Blick wanderte zurück zum Ufer und dem Schiff, das in der Strömung zitterte und an den beiden Tauen zerrte. Aber als er besorgt eine entsprechende Bemerkung machen wollte, unterbrach ihn Ramos wütend und gab das endgültige Zeichen zum Aufbruch. Der Mann hinter Indiana nutzte die Gelegenheit, ihm einen derben Stoß mit dem Lauf der Maschinenpistole zu versetzen.

Eine gute halbe Stunde wanderten sie am Ufer des Flusses entlang, ohne in dieser Zeit mehr als eine Meile zurückzulegen. Vom Boot aus betrachtet hatte der Dschungel wie eine kompakte Mauer ausgesehen, und genau das war er auch: ein fast undurchdringliches Gestrüpp aus Bäumen, Unterholz, Farn und den faulen Resten umgestürzter Baumriesen, aus deren Wurzeln schon wieder neue Bäume sprossen. All das setzte den unablässig hackenden Macheten der Männer zähen Widerstand entgegen. Sie entfernten sich nie sehr weit vom Fluß, den Ra-mos zumindest im Moment noch als Wegweiser zu benutzen schien. Die meiste Zeit über konnte Indiana es blau und silbern durch das Gestrüpp zur Linken glitzern sehen, und nur einmal mußten sie einen Bogen durch den Dschungel schlagen, als der Mann an der Spitze eine Warnung rief, die Indiana zwar nicht verstand, die aber die anderen dazu brachte, hastig die Richtung zu wechseln.

Aber schließlich lichtete sich das Unterholz doch ein wenig, und nach einer weiteren schweißtreibenden halben Stunde lag vor ihnen plötzlich kein Urwald mehr, sondern ein vielleicht fünfzig Yards breiter steiniger Uferstreifen, der unmittelbar neben den ersten Felsen der Stromschnellen in eine fast lotrechte, wie glatt geschliffen wirkende Felswand überging. Indiana fragte sich unwillkürlich, wie Ramos bloß dieses Hindernis überwinden wollte, und er stellte diese Frage auch laut.

Ramos lachte nur.»Warten Sie es ab, Dr. Jones.«

Das Vorankommen wurde jetzt noch schwieriger. Hatten sie sich im Dschungel zwar langsam aber doch einigermaßen sicher bewegen können, so war das Gehen auf dem unebenen, mit scharfkantigen Felsen und Steintrümmern übersäten Boden nicht nur schwieriger, sondern manchmal direkt lebensgefährlich. Mehr als einmal stürzte einer von Ramos’ Männern oder löste eine kleine Steinlawine aus, und auch Indiana glitt auf dem unsicheren Boden mehrmals aus und fand erst im letzten Moment seine Balance wieder.

Dafür bewegte sich Ramos mit geradezu unheimlicher Sicherheit. Indiana hatte es längst aufgegeben, sich darüber zu wundern, wieso sich ein blinder Mann in einem Land wie diesem überhaupt zurechtfand; geschweige denn, wie er ohne Hilfe in diesem Felsengewirr überhaupt auf den Beinen blieb. Man sagte zwar, daß Blinde über ein fantastisches Gehör verfügen und sich allein anhand von Geräuschen zu orientieren vermögen, aber wenn das stimmte, dann mußte Ramos über die Ohren einer Fledermaus verfügen.

Es dauerte eine weitere halbe Stunde, bis sie den Fuß der Felswand erreicht hatten. Nicht nur Indiana war mit seinen Kräften völlig am Ende. Auch Ramos’ Männer schleppten sich mehr dahin, als daß sie gingen, und Marian war zweimal gestürzt und das letzte Mal nur noch mühsam wieder auf die Beine gekommen. Indiana hatte ihr helfen wollen, aber sein Bewacher hatte das verhindert. Der einzige, der keinerlei Spuren von Erschöpfung zeigte, war Ramos selbst. Aber er erhob auch keinen Einspruch, als sich die Männer am Fuße der Felswand niedersinken ließen, um eine Pause einzulegen.

Auch Indiana ließ sich erschöpft gegen die Wand fallen und schloß für einen Moment die Augen. Die Hitze war hier draußen außerhalb des Dschungels unerträglich geworden. Die Luftfeuchtigkeit war so hoch, daß er das Gefühl hatte, Flüssigkeit zu atmen, und sein Herz hämmerte in seiner Brust, als wolle es jeden Moment zerspringen. Er begann allmählich zu begreifen, was Ramos gemeint hatte, als er sagte, fünfzig Meilen in diesem Land wären mehr als fünfhundert in dem, aus dem Reuben stammte.

Nach einer Weile hob er wieder die Lider und sah sich mühsam um. Er fragte sich, wie es überhaupt weitergehen sollte. Zur Rechten, so undurchdringlich und abweisend wie zuvor, erstreckte sich das Schwarz-Grün des Dschungels. Auf der anderen Seite tobten die von einer gewaltigen Gischtwolke gekrönten Stromschnellen. Der Felsen — ein nahezu würfelförmiger, sicherlich fünfzig oder sechzig Yards hoher massiver Block — reichte bis unmittelbar an den Fluß heran. Sein Fuß versank im weißen Schaum des kochenden Wassers.

Ein Schatten legte sich über ihn, und als er aufsah, blickte er in Ramos’ entstelltes Gesicht. Es erfüllte Indiana mit einem absurden Gefühl von Genugtuung, auch auf seiner Stirn Schweißperlen zu sehen.

«Was wollen Sie?«fragte er unfreundlich. Er mußte fast schreien, um das Tosen der Stromschnellen zu übertönen.

Ramos sah ihn nicht direkt an, sondern blickte auf eine Stelle ungefähr dreißig Zentimeter neben seinem Gesicht, als er antwortete. Indiana begriff, daß der Lärm des Flusses seinen fast unheimlichen Orientierungssinn störte. Er merkte sich diese Beobachtung für später. Vielleicht würde sie noch einmal wichtig werden.»Mit Ihnen reden, Jones.«

«Was gibt es da noch zu bereden?«erwiderte Indiana knapp.

«Bitte, Dr. Jones«, sagte Ramos.»Wir wissen beide, was wir voneinander zu halten haben, und wir wissen beide, in welcher Situation wir sind. Wir haben nicht genügend Zeit, um sie mit Wortspielereien zu verschwenden.«

«Dann kommen Sie doch endlich zur Sache«, knurrte Indiana.

Er stand auf. Ramos’ blinde Augen folgten der Bewegung, aber erst nach einigen Sekunden und nicht sehr präzise.»Das nächste Stück des Weges wird sehr anstrengend, Dr. Jones«, sagte er.»Sehr anstrengend und sehr gefährlich. Sie werden möglicherweise auf die Idee kommen zu fliehen. Deshalb möchte ich, daß Sie folgendes wissen: Ich habe meinen Männern befohlen, nicht nur Sie, sondern auch Mrs. Corda zu erschießen, sollten Sie einen Fluchtversuch unternehmen. Und was dann mit Mr. Brody geschehen wird, können Sie sich ja wohl denken.«

Indiana starrte ihn zornig an und schwieg.

«Ich sehe, Sie haben verstanden«, sagte Ramos nach einer Weile.»Und nun kommen Sie. «Er machte eine auffordernde Bewegung. Als Indianas Blick der Geste folgte, sah er, daß sich Ramos’ Männer an einem Punkt vor der Felswand, vielleicht fünf oder zehn Yards neben dem Fluß, versammelt hatten. Im gleißenden Licht der Sonne eigentlich nur durch seinen Schatten zu erkennen, hing ein geflochtenes Seil am Felsen herab. Als Indiana näher kam und genauer hinsah, erkannte er Steighaken, die in regelmäßigen Abständen in den Stein getrieben worden waren. Ein überraschter Laut kam über seine Lippen.

Ramos lächelte dünn.»Professor Corda war so freundlich, diesen Weg für uns vorzubereiten«, sagte er.

Indiana musterte das Seil und die Steighaken verwirrt.»Hat er auch seinen Lastwagen dort hinaufgezogen?«fragte er spöttisch.

«Natürlich nicht. Er steht gar nicht weit entfernt von hier im Wald. Haben Sie ihn denn nicht gesehen?«Ramos lachte humorlos.»Ich dachte, nur ich wäre hier blind.«

Indiana ersparte sich eine Antwort darauf.

Nacheinander begannen die Männer, an der Wand empor-zuklettern. Sie taten es in großem Abstand, so daß sich immer nur zwei Mann gleichzeitig am Seil befanden. Offensichtlich trauten sie dessen Tragfähigkeit nicht allzuweit. Indiana zögerte, als die Reihe an ihn kam. Er war gut in Form und ein geübter Kletterer, aber der Anblick dieser dreifach haushohen, spiegelglatten Felswand ließ ihn trotzdem schaudern.

«Worauf warten Sie, Jones?«schnappte Ramos.

Indiana deutete mit einer Kopfbewegung auf Marian.»Das schafft sie niemals.«

«Oh, ich denke schon«, antwortete Ramos.»Sie muß es einfach.«

«Lassen Sie uns zusammen hinaufsteigen«, bat Indiana.»Ich helfe ihr.«

Ramos lachte.»Für wie dumm halten Sie mich eigentlich, Dr. Jones? Aber wenn es Sie beruhigt — ich werde meinen besten Mann mit ihr hinaufsteigen lassen. Nachdem Sie oben angekommen sind. Und nun — bitte. Unsere Zeit ist knapp.«

Indiana starrte Ramos böse an, beeilte sich aber, nach dem Seil zu greifen, bevor der Mann an seinem Rücken Ramos’ Worten mit einem weiteren Gewehrstoß Nachdruck verschaffen konnte.

Die ersten Meter waren leichter, als er geglaubt hatte. Das Seil war rauh und lag gut in der Hand, und auf den regelmäßig eingeschlagenen Steighaken fanden seine Füße sicheren Halt. Rasch, aber nicht hastig kletterte er fünf, sechs Meter weit in die Höhe und hielt inne, um sich umzusehen.

Der Wald und der Fluß machten auch von oben betrachtet keinen vertrauenerweckenden Eindruck. Er befand sich noch nicht ganz auf Höhe der Baumwipfel, konnte aber bereits erkennen, daß sich der Dschungel zu beiden Seiten des Flusses so weit erstreckte, wie der Blick reichte, und der Fluß selbst –

Indiana erstarrte. Auf dem Fluß bewegte sich etwas. Ein kleines, plumpes Boot aus rostigem Eisen, das offensichtlich steuerlos in der Strömung trieb und sich der tödlichen Felsbarriere mit wachsender Geschwindigkeit näherte!

«Worauf warten Sie, Jones?«schrie Ramos von unten.»Klettern Sie weiter!«

Indiana löste die linke Hand vom Seil und deutete heftig gestikulierend den Fluß hinab.»Das Boot!«schrie er zurück.»Es hat sich losgerissen! Es treibt auf die Stromschnellen zu!«

Die Männer unter ihm drehten sich um. Nur Ramos’ Gesicht blieb weiter auf ihn gerichtet.»Klettern Sie weiter, Dr. Jones!«befahl er.

«Aber sie werden auf die Riffe prallen!«schrie Indiana zurück.»Das Boot ist führerlos! Sie werden alle sterben!«

«Was für ein schreckliches Unglück«, grinste Ramos spöttisch.

Indiana starrte ihn voller Zorn an.»Das haben Sie getan!«schrie er.»Sie wollen, daß sie ertrinken!«

«Sie können sie sowieso nicht mehr retten«, erwiderte Ramos kalt.»Also klettern Sie weiter, Dr. Jones. Bevor ich Sie an den Füßen dort hinaufziehen lasse.«

Indiana rührte sich nicht. Seine Gedanken rasten. Sein Blick wanderte zwischen den Stromschnellen und dem Schiff, das sich ihnen immer rascher näherte, hin und her. Die Strömung war hier so stark, daß das Schiff wahrscheinlich nicht einmal mehr zu retten wäre, wenn seine Maschinen laufen würden und seine Mannschaft nicht im Laderaum eingesperrt wäre. Aber er konnte nicht einfach zusehen, wie mehr als ein halbes Dutzend Menschen hilflos ertrank!

Ramos wartete weitere zehn Sekunden lang vergeblich darauf, daß Indiana weiterkletterte, dann trat er zurück und machte eine befehlende Geste mit der linken Hand. Zwei seiner Männer richteten ihre Gewehre auf Indiana, während ein dritter die Waffe über die Schulter schwang und dann mit beiden Händen nach dem Seil griff, um mit raschen Bewegungen zu ihm hinaufzusteigen.

Das Boot war mittlerweile noch weiter näher gekommen. Indiana schätzte, daß allerhöchstem noch eine Minute Zeit blieb, bis es auf die ersten Riffe treffen und unweigerlich daran zerschellen mußte.

Entschlossen packte er das Seil wieder mit beiden Händen, stemmte die Füße gegen die Felswand — und stieß sich mit aller Kraft davon ab!

Der Mann unter ihm schrie überrascht auf und klammerte sich mit Armen und Beinen an das Seil. Indiana warf sich herum, wodurch das Tau wild zu pendeln begann.

«Jones!«schrie Ramos.»Was tun Sie?«

Indiana verschwendete keine Energie darauf, diese sinnlose Frage zu beantworten, sondern stieß sich abermals von der Wand ab und sah schnell nach unten. Obwohl das Seil jetzt wie ein Pendel an der Wand auf- und abschwang, kletterte der Bursche unter ihm verbissen weiter und war jetzt allerhöchstens noch einen oder eineinhalb Meter von ihm entfernt. Jemand schoß auf ihn. Die Kugel schlug meterweit unter ihm gegen den Felsen und gefährdete eher den anderen. Ramos sorgte auch sofort mit einem gebrüllten Befehl dafür, daß das Feuer wieder eingestellt wurde. Indiana stieß sich abermals von der Wand ab. Das Seil pendelte immer stärker und begann hörbar zu knirschen. Seine rechte Schulter streifte immer wieder den Felsen und tat höllisch weh, aber Indiana nahm keine Rücksicht darauf, sondern versuchte im Gegenteil, die Pendelbewegung des Seiles noch zu verstärken.

Etwas berührte seinen Fuß. Indiana sah nach unten und bemerkte entsetzt, daß Ramos’ Killer ihn beinahe erreicht hatte. Trotz seiner lebensgefährlichen Lage war der andere weitergeklettert und grinste hämisch, während er sich nur noch mit einer Hand am Seil festklammerte und mit der anderen nach seinem Fuß angelte. Indiana fluchte, holte mit dem anderen Fuß aus und plazierte den Absatz seines rechten Stiefels zielsicher in diesem Grinsen, das sich unverzüglich in eine schmerzerfüllte Grimasse verwandelte. Aber der Kerl schien nicht nur über die Muskeln und den Intelligenzquotienten eines Orang-Utan zu verfügen, sondern auch über dessen Nervensystem, denn er ließ immer noch nicht los, sondern klammerte sich nur noch um so verbissener an Indianas Fuß fest.

Dessen Blick suchte das Boot. Es war bis auf achtzig oder hundert Yards herangekommen, wurde immer schneller und schoß, dem Sog der Strömung folgend, auf eine Lücke zwischen den Felsen zu, vielleicht fünfzehn, zwanzig Meter vom Ufer entfernt. Das Wasser war an dieser Stelle so glatt, daß Indiana sich die Strömung, die dort herrschte, lieber erst gar nicht vorzustellen versuchte.

Das Seil schwang wieder zurück, und für einen Moment kam der Fluß außer Sicht. Fünf oder sechs Meter unter sich sah er Ramos’ Männer kopflos durcheinander rennen. Ramos gestikulierte wie wild und schien nun doch die Orientierung verloren zu haben, denn er brüllte in eine Richtung, in der niemand war, während Marian starr vor Schrecken zu ihm hinaufsah.

Das Seil hatte den höchsten Punkt seiner Pendelbewegung erreicht und schwang zurück. Indiana half abermals mit den Füßen nach, um seine Geschwindigkeit noch zu erhöhen. Wieder schrammte seine Schulter an der Wand entlang, und diesmal hinterließ sie eine blutige Spur auf dem Stein. Schneller und schneller werdend raste Indiana auf Ramos’ Bande zu, warf sich noch einmal herum und trat nach der Hand, die sich um seinen linken Knöchel klammerte. Er traf. Ein gellender Schrei erscholl, und plötzlich war der furchtbare Druck auf sein Bein verschwunden, und der Bursche flog wie ein lebendes Geschoß mitten unter Ramos’ Männer und riß drei oder vier von ihnen gleichzeitig von den Füßen. Das Seil bewegte sich weiter, schwang wieder in die Höhe — und dann war unter ihm kein Fels mehr, sondern weißes, schaumgekröntes Wasser.

Indiana ließ los.

Eine Sekunde lang hatte er das Gefühl, schwerelos in der Luft zu hängen, dann begann er zu stürzen. Brodelndes Wasser und rasiermesserscharfe Felskanten schienen ihm entgegenzuspringen, doch plötzlich sah er etwas Graues, Auf- und Abhüpfendes unter sich.

Der Aufprall auf dem eisernen Deck des Schiffes war weniger hart, als er erwartet hatte. Indiana wurde von den Füßen gerissen und überschlug sich drei- oder viermal, aber er kam allein durch den Schwung seiner Bewegung wieder auf die Beine. Blitzschnell fuhr er herum, machte einen Schritt und stürzte nun doch, als sich das Boot unter ihm aufbäumte wie ein durchgehendes Pferd. Irgend etwas traf mit einem fürchterlichen Knirschen den Rumpf unter der Wasseroberfläche. Indiana kämpfte sich auf Hände und Knie hoch und kroch auf das Ruderhaus zu. Durch die tobende Gischt konnte er Ramos’ Männer erkennen, die ans Ufer gestürmt waren und wild mit den Armen fuchtelten und schrien. Einige zielten mit ihren Gewehren auf ihn, aber niemand schoß. Oder vielleicht doch — aber das Brüllen des Wassers war hier so gewaltig, daß es jeden anderen Laut verschlang.

Wieder traf irgend etwas mit unvorstellbarer Wucht den eisernen Rumpf des Schiffes, und Indiana wurde erneut herumgeschleudert. Hilflos schlitterte er über das Deck, prallte schmerzhaft gegen eine Wand und suchte instinktiv irgendwo nach Halt.

Er hatte Glück im Unglück — die Tür, gegen die er geprallt war, war die des Ruderhauses, und trotz des wild auf- und abspringenden Decks unter seinen Füßen gelang es ihm, in die Höhe zu kommen und sie aufzureißen.

Er torkelte durch den Raum, prallte schwer gegen das Ruder und klammerte sich instinktiv daran fest. Das hölzerne Rad warf sich in seinen Händen hin und her wie ein wildes Tier, das sich gegen seinen Griff zur Wehr setzte, und vor den Scheiben der Ruderkabine war nichts als kochende Gischt, in der es manchmal rauh und tödlich aufblitzte. Das Schiff kippte zur Seite, richtete sich wieder auf und schlug zum dritten Mal gegen ein Hindernis. Diesmal konnte Indiana hören, wie Metall splitterte und nachgab.

Mit verzweifelter Kraft versuchte er, das Ruder geradezuhalten. Er konnte kaum etwas sehen. Das Schiff wurde immer noch schneller, obwohl es jetzt unablässig gegen Riffe und Felsen krachte. Vor ihm schien etwas wie eine Lücke zwischen zwei großen Riffen zu sein, aber er war sich nicht sicher — und er wußte erst recht nicht, was sich unter der schäumenden Wasseroberfläche verbarg.

Sein Blick irrte über die Kontrollen des Bootes, und schließlich fand er den Anlasser der Dieselmaschine. Mit verzweifelter Kraft drückte er ihn nieder und hörte, wie tief im Rumpf des Bootes der Motor anzuspringen versuchte. Es gelang nicht. Und selbst wenn — der kleine Hilfsdiesel war viel zu schwach, um das Schiff gegen diese Strömung zu halten.

Indiana gab seine vergeblichen Bemühungen auf, den Motor zu starten, und verwandte statt dessen seine Kraft und Konzentration darauf, den stumpfen Bug des Schiffes auf die Lücke zwischen den Felsen vor sich auszurichten. Die rasende Strömung warf das Boot hin und her, schleuderte es in die Höhe und drückte den Bug fast einen Meter weit unter Wasser. Irgend etwas traf die rechte Seite des Ruderhauses und ließ sämtliche Scheiben zerbersten. Eiskaltes Wasser und ein Hagel scharfkantiger Glassplitter überschütteten Indiana. Er ignorierte das alles und konzentrierte sich ganz auf die Lücke zwischen den Felsen, die rasend schnell näher kam. Das Boot driftete nach rechts, schwenkte zurück und legte sich wieder gefährlich auf die Seite, ehe es sich schwerfällig und beinahe widerwillig wieder aufrichtete. Die Felsen kamen näher, schienen dem Schiff plötzlich entgegenzuspringen, und Indiana registrierte voller Entsetzen, daß die Lücke nicht halb so breit war, wie es bisher den Anschein gehabt hatte, und sich auch unter Wasser eine Barriere aus tödlichen Riffen dahinzog.

Er fand gerade noch Zeit, jeden Muskel im Leib anzuspannen, dann lief das Schiff mit einem fürchterlichen Schlag auf. Der Rumpf dröhnte wie eine übergroße Glocke, irgend etwas zerbrach mit einem furchtbaren Geräusch, und dann gab es einen zweiten, noch härteren Ruck, in den sich der schreckliche Laut von Metall mischte, das gegen einen noch härteren Widerstand gepreßt wurde.

Und mit einem Male hörte der Boden auf zu zittern.

Das Brüllen des Wassers und die eiskalte Gischt, die durch das zerborstene Fenster hereinströmte, dauerten an, aber das Schiff lag von einer Sekunde auf die andere still.

Indiana war durch den Aufprall von den Füßen gerissen worden und richtete sich nun mühsam und benommen wieder auf. Es dauerte einige Sekunden, bis er begriff, daß sich das Boot zwischen den beiden Felsen festgekeilt haben mußte. Unsicher — zu jeder Zeit auf einen neuen, furchtbaren Schlag gefaßt — stand er ganz auf und watete wieder zum Ruder.

Die Steuerkabine bot einen furchtbaren Anblick. Alles, was nicht angeschraubt oder geschweißt war, war losgerissen und zertrümmert worden. Das Wasser stand bereits knöcheltief, und mit Ausnahme der Frontscheibe waren auch alle anderen Fenster zerbrochen. Die Tür hing schräg und halb aus den Angeln gerissen im Rahmen, und das Heck des Bootes war in einer Wolke aus brodelnder Gischt verschwunden. Er spürte jetzt, daß der Boden nicht ganz so ruhig war, wie es ihm im ersten Moment vorgekommen war. Er zitterte und vibrierte ganz sacht. Vielleicht, dachte er voller Schrecken, würde sich das Schiff doch wieder losreißen. Und er konnte kaum damit rechnen, ein zweites Mal ein solches Glück zu haben.

Mit zusammengebissenen Zähnen und wie ein Mann, der sich schräg gegen einen Sturm stemmt, verließ er vornübergebeugt das verwüstete Steuerhaus und kämpfte sich zum Heck. Er brauchte fast fünf Minuten, um das knappe Dutzend Schritte zurückzulegen — immer wieder glitt er aus und rutschte den Weg zurück, den er sich mühsam nach hinten gekämpft hatte. Immer wieder trafen ihn eiskalte Brecher und drohten, ihn über Bord zu spülen, und das Zittern der eisernen Planken unter seinen Füßen nahm ganz allmählich, aber spürbar zu.

Als Indiana die Tür des Achteraufbaus erreicht hatte, war er mit seinen Kräften fast am Ende. Auf Händen und Knien kroch er die eiserne Treppe zum Laderaum hinunter und suchte blind im Dunkel umher, bis er die Tür fand. Seine Finger tasteten über rostiges, nasses Metall, zerrten am Riegel — und ertasteten ein gewaltiges Vorhängeschloß.

Indiana fluchte. Einen Moment lang zerrte er vergeblich an dem Schloß, dann begann er mit beiden Fäusten gegen die Tür zu hämmern. Sekundenlang geschah gar nichts, dann antwortete eine Folge dumpfer Schläge, und Reubens Stimme drang verzerrt durch das Metall.»Jones? Sind Sie das?«

«Die Tür ist verriegelt!«schrie Indiana zurück.

«Machen Sie auf!«brüllte Reuben.»Wir ertrinken. Hier dringt Wasser ein!«

«Die Tür ist zu!«schrie Indiana verzweifelt.»Sie haben ein Schloß angebracht!«

Hinter der Tür erklangen jetzt andere Stimmen voller Panik. Jemand begann gegen die Wand zu hämmern, und für Augenblicke verstand Indiana überhaupt nichts mehr. Dann sorgte Reuben mit erhobener Stimme halbwegs für Ruhe.»Eine Brechstange!«schrie er.»Irgendwo dort draußen muß eine Brechstange liegen! Suchen Sie sie! Und beeilen Sie sich!«

Indiana drehte sich auf den Knien herum und begann blind um sich zu tasten. Seine Hände patschten durch eiskaltes Wasser, fuhren über den Boden und die Wände und glitten über das eiserne Treppengeländer. Einen Moment lang zerrte er vergeblich daran, ehe er weitersuchte.

In Wahrheit dauerte es wahrscheinlich nur Sekunden, bis er die Brechstange fand, von der Reuben geredet hatte, aber ihm kam es vor wie eine Ewigkeit. Das Wasser schlug weiter mit fürchterlicher Gewalt gegen den Schiffsrumpf, und aus dem sanften Zittern war mittlerweile ein deutlich spürbares Vibrieren geworden, in das sich immer mehr und immer heftigere Schläge mischten. Manchmal drang ein mahlender, knirschender Laut aus den Wänden des Schiffes, und er glaubte zu spüren, wie das Metall rings um sie herum zerbrach. Als er die Brechstange schließlich fand und sich aufzurichten versuchte, hatte sich das Schiff so weit zur Seite geneigt, daß es ihm erst beim zweiten Anlauf gelang, und auch das nur, indem er das linke Bein ausstreckte und in einem absurden Spagat zwischen dem Boden und einer der Seitenwände abstützte.

«Beeilen Sie sich!«schrie Reuben.»Um Gottes willen!«

Indiana tastete mit der linken Hand nach dem Vorhängeschloß, setzte das Brecheisen an und stemmte sich mit aller Kraft dagegen. In den ersten Sekunden hielt das Metall seinen Bemühungen stand, und er begann bereits zu fürchten, daß seine Kraft einfach nicht mehr reichen würde. Dann gab der Bügel mit einem knirschenden Laut nach und zerbrach. Indiana schleuderte das Brecheisen von sich, zerrte mit fliegenden Fingern das Schloß herunter und riß den Riegel zurück.

Im selben Augenblick wurde die Tür von innen aufgestoßen, als Reuben, Henley und zwei der anderen gleichzeitig versuchten, den Laderaum zu verlassen.

Und im selben Augenblick traf ein unvorstellbarer Schlag das Schiff. Indiana wurde von den Füßen gerissen, segelte hilflos durch die Luft und stürzte gegen Reuben und die anderen, die unter seinem Anprall in den Laderaum zurücktaumelten. Neben- und übereinander stürzten sie zu Boden, während sich das Schiff weiter und weiter aufbäumte und, von der unvorstellbaren Gewalt des Wassers geschoben, zwischen den Felsen hervorglitt, zwischen denen es eingekeilt gewesen war.

Das letzte, was Indiana für die nächsten Minuten wahrnahm, war einer von Reubens Männern, der wie ein lebendes Geschoß quer durch den Lagerraum und direkt auf ihn zugeflogen kam.

Dann sah er nichts mehr.

Und auch nach seinem Erwachen sah er nichts. Er lag in halb aufgerichteter Position in eiskaltem Wasser, umgeben von einer Finsternis, in der man nur Schemen wahrnehmen konnte, ohne zu erkennen, wer sie waren, und er hörte die Geräusche zahlreicher Menschen, Stimmen, ein Stöhnen, dicht neben sich die raschen hektischen Atemzüge eines Menschen, der große Schmerzen litt oder einer Panik nahe war. Dann Reubens Stimme, die halblaut mit jemandem sprach, ohne daß er die Worte verstehen konnte, die aber einen sonderbaren Hall hatten. Dann glomm eine flackernde Streichholzflamme in der Schwärze auf und erlosch sofort wieder.

Reuben fluchte, Indiana hörte es rascheln und knistern, und ein zweites Streichholz wurde angerissen, flackerte, brannte diesmal einen kleinen Moment länger und erlosch wieder.

Reuben fluchte erneut und lauter.

Indiana bewegte vorsichtig die Hände, die sich unter Wasser befanden, und stellte fest, daß es ging. Das eiskalte Wasser saugte fast jedes Gefühl aus seinen Gliedern, aber er konnte sich bewegen — offensichtlich hatte er sich weder einen Knochenbruch noch eine andere größere Verletzung zugezogen.

Zum dritten Mal wurde ein Streichholz angerissen, und diesmal erlosch die Flamme nicht, sondern wuchs im Gegenteil nach einigen Augenblicken zum ruhig brennenden gelben Licht einer Petroleumlampe heran.»Paßt auf mit dem Ding«, hörte er Reubens Stimme.»Es ist die einzige. Alle anderen sind verschwunden.«

Indiana blinzelte in die ungewohnte Helligkeit. Im ersten Moment konnte er nur Schatten und formlose Umrisse erkennen, denn das Licht brach sich in verwirrender Vielfalt auf der Wasseroberfläche. Aber dann gewöhnten sich seine Augen daran, und er sah, daß sie sich noch immer im Laderaum des kleinen Dampfschiffes befanden. Allerdings hatte der sich auf erstaunliche Weise verändert.

Der Raum stand zu gut zwei Dritteln unter Wasser und war völlig verwüstet. Auf der Wasseroberfläche trieben Holz und Stoffetzen und aufgerissene Lebensmittelpakete mit verquollenem Inhalt. Aber das war nicht das Schlimmste.

Fußboden und Wände hatten die Plätze getauscht. Das Schiff trieb kieloben im Wasser.

Reuben mußte bemerkt haben, daß Indiana zu sich gekommen war, denn er watete durch die eiskalten Fluten auf ihn zu.»Sind Sie verletzt?«erkundigte er sich besorgt. Bevor Indiana auch nur antworten konnte, fügte er hinzu:»Sie wären um ein Haar ertrunken, Dr. Jones. Sie waren bewußtlos. Einer der Männer hat Sie aus dem Wasser gefischt und an die Wand gelehnt.«

Indiana hob die Hand an den schmerzenden Kopf und stöhnte.»Ich bin noch nicht sicher, ob ich ihm dankbar dafür sein soll«, murmelte er.

Reuben lächelte, aber sein Blick blieb ernst. Als Indiana ihn genauer ansah, erkannte er unter der mühsam aufrechterhaltenen Maske von Sicherheit eine Furcht, wie er sie bisher an dem FBI-Beamten noch nie entdeckt hatte.

«Was ist passiert?«fragte er alarmiert.

«Das weiß ich nicht«, antwortete Reuben.»Sie waren oben, ich nicht. Aber es sieht so aus, als wären wir gekentert.«

«Die Stromschnellen«, murmelte Indiana. Er hatte noch immer Mühe, sich zu erinnern. Der Schlag auf seinen Kopf war nicht so heftig gewesen, daß er das Gedächtnis verloren hätte, aber er fühlte sich benommen, und es fiel ihm schwer, seine Gedanken in die richtige Reihenfolge zu bringen.»Das Boot muß sich losgerissen haben«, murmelte er.»Ich habe Ramos gesagt, er soll es besser vertäuen lassen.«

«Losgerissen!?«Reuben lachte hart.»So kann man es auch nennen.«

Indiana sah auf.»Wie meinen Sie das?«

Ein grimmiger Ausdruck huschte über Reubens Gesicht.»Nachdem alle von Bord gegangen sind, ist er noch einmal zurückgekommen und hat eines der Taue gelöst«, sagte er.»Ich habe es zwar nicht gesehen, aber man konnte alle Schritte hier unten deutlich hören, und das waren seine.«

Indiana war nicht einmal besonders erstaunt. Aber er war zutiefst erschüttert. Er war im Laufe seines abenteuerlichen Lebens so manchem Verbrecher begegnet, und er hatte mehr Menschen sterben sehen (und auch einige selbst getötet) als fast alle anderen Menschen in ihrem ganzen Leben. Aber er war niemals einem Menschen begegnet, der so völlig ohne Gewissen handelte wie Ramos. Einen Moment lang fragte er sich, ob es vielleicht daran lag, daß er blind war. Vielleicht war das Leben für einen Menschen, dessen Welt nur aus Geräuschen, Gerüchen und dem bestand, was er ertasten konnte, nicht so kostbar und heilig wie für ihn und all die anderen, die sehen konnten.

Er verscheuchte den Gedanken. Wahrscheinlich war es eher so, daß Ramos verrückt war; verrückt und unberechenbar und gefährlich. Warum er das war, darüber konnte er sich den Kopf zerbrechen, wenn sie hier heraus waren. Falls sie jemals hier herauskamen.

Obwohl er sich die Antwort auf seine Frage denken konnte, wandte er sich wieder an Reuben.»Was ist mit der Tür?«

«Verklemmt«, antwortete der FBI-Beamte.»Irgend etwas muß von außen dagegengefallen sein, als sich das Schiff überschlagen hat. Wir haben versucht, sie aufzubrechen. Es geht nicht. Sie liegt unter Wasser.«

Indianas Blick suchte die Wand, in der sich die Tür befand. Der Lagerraum hatte sich ein gutes Stück unter dem Niveau des Ganges draußen befunden. Die kurze Eisenleiter, die zu seinem Boden herabgeführt hatte, hing jetzt von der Decke aus vier oder fünf Stufen weit nach unten, ehe sie im Wasser verschwand.

«Steigt es?«flüsterte er.

«Das Wasser?«Reuben zuckte mit den Schultern und machte gleichzeitig eine Bewegung, die ein wenig überzeugtes Kopfschütteln sein mochte.»Im Augenblick nicht. Das Schiff scheint auf Grund gelaufen zu sein. Wie es aussieht, haben wir Glück im Unglück gehabt — wenn die Strömung uns weitergerissen hätte, wären wir wahrscheinlich längst alle ertrunken.«

Indiana blickte ihn mit gemischten Gefühlen an. Er dachte an die furchtbare Kraft des Wassers, die er selbst erlebt hatte. Das Schiff war hoffnungslos zwischen den Felsen eingekeilt gewesen, und doch hatten der Strömung wenige Minuten gereicht, es loszureißen.

«Aber das alles wird uns sowieso nicht viel nützen«, fuhr Reuben düster fort.»Die Luft hier drinnen reicht vielleicht noch für eine Stunde — wenn wir Glück haben.«

Und wie um seine Kassandra-Rufe zu bestätigen, durchlief in diesem Moment ein sachtes Zittern den Rumpf des Bootes. Die Wasseroberfläche begann Wellen zu schlagen, und einige der Männer bewegten sich unruhig. Trotzdem legten sie eine erstaunliche Disziplin an den Tag, überlegte Indiana, wenn man bedachte, daß sie dem sicheren Tod ins Auge sahen. Soweit es in der spärlichen Beleuchtung möglich war, sah er sich die Männer aufmerksam an. Das hatte er bisher eigentlich noch nicht getan. Ihrem Aussehen und der Art nach zu schließen, wie Reuben und Henley mit ihnen umgingen, hatte er sie für Söldner gehalten, käufliche Abenteurer wie die, die in Ramos’ Diensten standen und die für Geld alles taten; Männer, die er zur Genüge kannte und mied, wo es ging.

Aber er war mit einem Male gar nicht mehr so sicher. Die Gesichter, in die er blickte, waren bärtig und übermüdet und zeigten Spuren der überstandenen Anstrengung. Er las Furcht in ihren Augen, aber da war auch noch etwas anderes.

«Das sind keine Söldner«, sagte er plötzlich.

Reuben blickte ihn an und schwieg.

«Das sind Soldaten, nicht wahr?«fuhr Indiana fort. Reuben sagte immer noch nichts, und es gelang Indiana auch nicht, genau den vorwurfsvollen Ton in seine Stimme zu legen, den er eigentlich vorgehabt hatte.»Sie sind mit einer kleinen Armee hierher gekommen, Reuben. In ein fremdes Land. Mit ein bißchen bösem Willen könnte man das als einen kriegerischen Akt bezeichnen. Deshalb hatten Sie es auch so eilig zu verschwinden, als sich die bolivianischen Behörden einschalteten. Und Sie haben mich mit in Ihren kleinen Privatkrieg hineingezogen.«

Reuben versuchte, eine zornige Geste zu machen, vergaß aber offensichtlich, daß er bis zur Brust im Wasser stand. Es platschte, Reuben blinzelte überrascht und hob dann zum zweiten Mal und diesmal langsamer die Hand, um sich das Wasser aus den Augen zu wischen.»Es ist kein Privatkrieg«, antwortete er betont.»Und ich schlage vor, daß wir uns darüber unterhalten, wenn wir hier herausgekommen sind — falls wir es überleben, heißt das.«

Indiana schluckte die wütende Antwort, die ihm auf der Zunge lag, hinunter. Statt dessen richtete er sich vorsichtig ganz auf, watete an Reuben vorbei und näherte sich der Treppe, die von der Decke herabhing. Er zitterte am ganzen Leib. Die Kälte war unerträglich, und das eisige Wasser tat sein Bestes, um auch noch das letzte bißchen Wärme aus seinem Körper herauszusaugen. Vielleicht hatten sie nicht nur die Wahl zwischen Ersticken und Ertrinken, sondern auch noch die Chance, zu erfrieren, ehe sie eine der beiden anderen Todesarten kennenlernen konnten.

Er erreichte die Treppe, versuchte einen Moment lang vergeblich, sich in Erinnerung zu rufen, wie dieser Lagerraum ausgesehen hatte, als er noch nicht zu zwei Dritteln unter Wasser und auf dem Kopf stand, atmete tief ein — und tauchte unter. Seine Hände tasteten ziellos umher. Er fühlte Widerstand, griff fester zu und zog sich an den metallenen Treppenstufen weiter unter Wasser und gleichzeitig auf die Wand zu. Sein Herz raste. Er hatte viel zu wenig Luft eingesogen, ehe er untergetaucht war, und spürte bereits Atemnot, ehe er die Tür auch nur erreicht hatte. Trotzdem widerstand er dem Drang, auf der Stelle wieder aufzutauchen, und tastete mit den gespreizten Fingern der rechten Hand über die Tür.

Sie bewegte sich zwei oder drei Zentimeter weit, ehe sie auf Widerstand traf. Indiana drückte heftiger, versuchte, sich mit der linken Hand an der Treppe festzuhalten, und preßte die andere mit aller Gewalt gegen die Tür. Das Metall zitterte, und er glaubte zu spüren, wie irgend etwas nachgab, aber bevor er sich mit aller Gewalt gegen die Tür werfen konnte, wurde die Atemnot unerträglich. Er tauchte auf, rang keuchend nach Luft und klammerte sich an dem erstbesten fest, was er zu fassen bekam — Reubens Schulter.

«Und?«fragte der FBI-Mann ruhig, als Indiana wieder halbwegs zu Atem gekommen war.

«Sinnlos«, murmelte Indiana.»Sie geht nicht auf.«

Reuben zog die Augenbrauen hoch.»Es hätte mich auch gewundert, wenn Sie Erfolg gehabt hätten, Dr. Jones«, sagte er spöttisch.»Wir haben es zu viert versucht.«

Indiana schüttelte beinahe trotzig den Kopf.»Ich … ich hatte das Gefühl, daß sie sich bewegt. Ein kleines bißchen mehr, und — «

«Ich weiß«, knurrte Reuben.»Wahrscheinlich liegt nur irgendein Trümmerstück davor. Ein paar kräftige Stöße und …«Er zuckte mit den Schultern.»Dummerweise kann niemand lange genug die Luft anhalten.«

«Wir brauchten ein Werkzeug«, murmelte Indiana. Er sah sich suchend um, während Reuben ein zweites Mal mit den Achseln zuckte.

«Auf diese Idee sind wir allerdings auch schon gekommen«, sagte er.»Ramos’ Männer haben aber alles mitgenommen. Zumindest alles, was auch nur irgendwie nach einem Ausbruchswerkzeug aussah.«

Indiana antwortete nicht. Konzentriert betrachtete er die herumschwimmenden Trümmerstücke. Reuben schien recht zu haben — obwohl auf dem Wasser genug Gerümpel herumtrieb, um eine kleine Müllkippe damit zu füllen, war nichts darunter, mit dem man eine massive Eisentür aufbrechen konnte. Nichts außer –

Zwischen dem Gerümpel und Reubens Männern trieb ein leerer Zinkeimer auf dem Wasser. Er war zu vier Fünfteln vollgelaufen, so daß nur noch ein handbreiter Metallkreis aus dem Wasser ragte. Aber als Indiana hinüberwatete und ihn hochhob, sah er, daß er unbeschädigt war.

«Wollen Sie das Boot damit leerschöpfen?«fragte Reuben spöttisch, als Indiana triumphierend mit seinem Fund zurückkehrte.

Indiana würdigte ihn nicht einmal einer Antwort, sondern hob den Eimer so weit aus dem Wasser, wie er konnte, drehte ihn herum und überzeugte sich noch einmal davon, daß er tatsächlich vollkommen unbeschädigt war. Reuben betrachtete ihn stirnrunzelnd und sagte jetzt nichts mehr.

«Helfen Sie mir«, befahl Indiana.»Versuchen Sie, ihn geradezuhalten. So gerade wie möglich.«

Reuben runzelte die Stirn — dann hellte sich sein Gesicht auf, als er endlich begriff, was Indiana vorhatte. Auch zwei oder drei seiner Männer, die Indianas Suche neugierig verfolgt hatten, kamen herbeigewatet und streckten hilfreich die Arme aus.

Indiana ging so weit in die Knie, bis ihm das Wasser buchstäblich bis zur Unterlippe reichte, dann stülpte er sich den Eimer — der von einem Dutzend Hände in der Waage gehalten wurde — über wie ein Ritter seinen altertümlichen Helm. Es war schwerer, als er erwartet hatte, ihn genau gerade zu halten, und es war noch schwerer, ihn unter Wasser zu ziehen, denn die darin eingeschlossene Luft strebte nach oben, aber es ging. Behutsam ließ er sich fast bis auf die Knie herabsinken, hielt den Eimer nur noch mit einer Hand fest, tastete mit der anderen um sich und betete, daß keiner der Männer über ihm stolperte oder eine falsche Bewegung machte. Er wußte, daß er trotz allem nur wenig Zeit hatte. Die Luft würde vielleicht für zwei oder drei Minuten reichen, kaum länger. Aber zwei oder drei Minuten und ein bißchen Glück waren vielleicht auch alles, was sie brauchten.

Gut die Hälfte dieser Zeit verging, bis er die Tür überhaupt wiederfand, denn er konnte sich nur langsam bewegen, mußte seine Bewegungen außerdem mit denen von Reuben und den drei anderen abstimmen, die ihm folgten und versuchten, seinen improvisierten Taucherhelm am Umkippen zu hindern, aber schließlich erreichte er die Tür. Seine Finger ertasteten den Spalt und quetschten sich hindurch.

Er drückte mit aller Kraft. Die Tür zitterte, bewegte sich einige Millimeter weiter, ächzte wie ein lebendes Wesen, das sich seiner Kraft entgegenstemmte, und stieß erneut auf Widerstand. Aber sie hatte sich bewegt.

Der Luftvorrat in dem Eimer war so gut wie aufgebraucht, als Indiana auftauchte. Wieder benötigte er Sekunden, bis er seine Lungen soweit mit Sauerstoff gefüllt hatte, um überhaupt sprechen zu können.»Sie bewegt sich«, keuchte er.»Ich brauche ein Werkzeug. Irgend etwas. Einen Hebel.«

Die Männer begannen gemeinsam, den Raum abzusuchen. Sie tauchten unter, rissen die zerfetzten Pakete noch weiter auf und zerrten sogar an den Trägern, die die Decke hielten, aber alles, was Indiana am Schluß in den Händen hielt, war ein losgerissenes Kistenbrett, das vom Wasser völlig verquollen und aufgeweicht war. Aber wenn das wirklich alles war, was sie hatten, dann mußte es eben genügen.

Er atmete noch einmal so tief ein, wie er konnte, stülpte seinen improvisierten Taucherhelm wieder über und ließ sich in die Knie sinken. Diesmal fand er die Tür schneller. Mit zusammengebissenen Zähnen zwängte er die Latte durch den Türspalt, zog mit aller Kraft — und stürzte hilflos nach hinten, als das Brett sich durchbog und abbrach.

Keuchend und nach Luft schnappend kam er wieder hoch. Reuben sah ihn schweigend an, aber diesmal war das Flackern in seinen Augen keine Furcht mehr, sondern etwas, das an Panik grenzte.

Indiana wartete, bis sich seine keuchenden Lungen wieder einigermaßen beruhigt hatten.»Also gut«, sagte er.»Auf ein neues. Ich muß es schaffen.«

Er streckte die Hände nach dem Eimer aus, aber Reuben zögerte.»Sie sind völlig fertig, Jones«, sagte er.»Lassen Sie es einen der Männer versuchen.«

«Das nächste Mal«, antwortete Indiana.»Ich probiere etwas anderes aus. «Er hob die Arme aus dem Wasser und streckte sie nach beiden Seiten aus.»Haltet mich fest.«

Zwei weitere Männer kamen herbeigeeilt und griffen nach seinen Händen, während Reuben und die drei anderen wieder den Eimer hielten. Indiana ließ sich behutsam in die Hocke sinken, krabbelte — in einer grotesken, halb nach hinten geneigten Haltung — auf die Tür zu, sog seinen gesamten Luftvorrat aus dem Eimer auf einmal ein und trat mit aller Gewalt zu, die er aufbringen konnte. Scharfer Schmerz schoß durch sein Bein, und er hätte um ein Haar das Gleichgewicht verloren, trotz der Hände, die seine ausgestreckten Arme hielten. Was noch in dem Eimer war, verdiente nicht mehr den Namen Luft, und seine Lungen schienen zerspringen zu wollen. Trotzdem tauchte er noch nicht auf, sondern ließ mit der Linken seinen Halt los und griff noch einmal nach der Tür. Sie hatte sich weit genug geöffnet, um die geballte Faust durch den Spalt zu schieben. Und den Bruchteil einer Sekunde, bevor er die Hand wieder zurückzog, spürte er das Scharren.

Etwas kratzte von außen an der Tür. Das war kein Trümmerstück, das daran scheuerte. Es war, als kratzten … Fingernägel oder Krallen über das Eisen …

Dieser Gedanke ließ Indianas Herz einen erschrockenen Satz machen; aber gleichzeitig wurde ihm auch schwindelig, und im selben Augenblick begriff er, daß der Sauerstoffmangel wahrscheinlich bereits zu Halluzinationen führte. Trotzdem richtete er sich so hastig und erschrocken auf, daß er fast gestürzt wäre.

Vor seinen Augen tanzten bunte Farbringe und Lichtblitze, während er keuchend ein- und ausatmete und vergeblich versuchte, etwas zu sagen. Wie durch graue Nebelschleier hindurch registrierte er, wie Reuben einen der anderen Männer herbeiwinkte und ihm ohne ein weiteres Wort den umgedrehten Eimer überstülpte, damit er Indianas Stelle einnehmen konnte. Er hob die Hand, gestikulierte schwach und versuchte vergeblich, den Männern eine Warnung zuzurufen. Alles, was er hervorbrachte, war ein unverständliches Keuchen und Stöhnen.

«Alles in Ordnung?«erkundigte sich Reuben besorgt.

Anstelle einer direkten Antwort ging Indiana an ihm vorbei und verfolgte gebannt die Wellen auf der Wasseroberfläche, die die Spur des Mannes kennzeichneten, der seine Stelle eingenommen hatte. Nach einigen Augenblicken hörte der Schatten unter der Wasseroberfläche auf, sich zu bewegen, und dann erschollen zwei, drei hallende Schläge, als der Mann mit aller Gewalt gegen die Tür hämmerte.

Indiana atmete hörbar auf. Reuben sah ihn verwirrt an, und Indiana stieß keuchend hervor:»Es ist alles in Ordnung. Ich dachte nur für einen Moment, ich — «

Das Wasser zwischen ihnen schien regelrecht zu explodieren. Keuchend und wasserspuckend tauchte der Soldat zwischen ihnen auf, warf sich mit einem gellenden Schrei zurück und überschüttete sie dabei mit einem weiteren Schwall eiskalten Wassers.»Ein Ungeheuer!«brüllte er.»Da ist irgend so ein verdammtes Monster!«

Wieder erklang ein dröhnender Schlag, und obwohl die Tür völlig unter Wasser lag, konnten Indiana und die anderen regelrecht spüren, wie sie mit furchtbarer Gewalt aufgerissen wurde und irgend etwas zu ihnen hereinkam.

Ein monströser Schatten erschien unter der Wasseroberfläche und glitt mit fantastischer Schnelligkeit auf Reuben zu, der gelähmt vor Schrecken und mit weit aufgerissenen Augen dastand und das formlose Etwas anstarrte, das sich ihm näherte. Reuben taumelte zurück, und plötzlich griff ein schuppiger Arm mit einer monströsen, sechsfingrigen Hand nach seiner Schulter, grub sich hinein — und zerrte den FBI-Beamten mit unvorstellbarer Kraft unter Wasser!

Indiana erwachte endlich aus seiner Erstarrung und warf sich vor. Aber seine Hilfe kam zu spät. Schaum und Wellen brodelten dort, wo Reuben verschwunden war. Für einen winzigen Moment glaubte er noch, zwei ineinander verschlungene, kämpfende Schatten zu sehen, aber als er anlangte, fanden seine tastenden Hände nichts mehr.

Auch einige der anderen Männer begannen zu schreien.

Plötzlich stürzten und rannten alle durcheinander. Das Wasser im Lagerraum begann Wellen zu schlagen, und das Licht flak-kerte.

«Die Lampe!«schrie Indiana entsetzt.»Paßt auf die Lampe auf!«

Niemand reagierte auf seine Worte. Ganz im Gegenteil: Die Panik wurde nur noch schlimmer. Und eine Sekunde später vergaß auch Indiana die Petroleumlampe, die kopflos durcheinanderstürzenden Männer und überhaupt alles andere rings um sich herum, denn er starrte ebenso entsetzt wie Reuben zuvor auf eine Stelle dicht neben der Tür, an der plötzlich ein geschuppter, auf entsetzliche Weise mißgestalteter Schädel durch die Wasseroberfläche brach!

Indiana war nicht sicher, ob es ein Mensch war. Das Gesicht war eine verzerrte, glänzende Fratze, aus der ihm Augen wie aus einem Alptraum entgegenstarrten. Die Nase des Wesens war praktisch nicht vorhanden, der Mund ein lippenloser, dünner Schlitz wie der eines Fisches, und der Schädel war nur auf einer Seite behaart; die andere war von Geschwüren und Warzen bedeckt, und hier und da schimmerte es weiß, als träte der blanke Knochen zutage. Als das Wesen den Mund öffnete, erblickte Indiana eine doppelte Reihe nadelspitzer, nach innen gebogener Zähne.

Wieder begann das Wasser zu brodeln, und neben dem Ungeheuer erschien ein zweites, womöglich noch entsetzlicher anzusehendes Ding, das Indiana und die anderen aus riesigen, verquollenen Augen anglotzte. Ein verkrüppelter Arm hob sich aus dem Wasser und griff mit einer Hand, die diesmal zu wenige Finger hatte, nach Indiana.

Der schrie auf und warf sich zurück, aber seine Reaktion kam zu spät, denn er konnte sich in dem brusthohen Wasser nicht schnell genug bewegen. Die Hand packte ihn, zerrte ihn mit furchtbarer Gewalt herum und auf die beiden Ungeheuer zu. Indiana fand gerade noch Zeit, ein letztes Mal Atem zu schöpfen, dann wurde er unter Wasser gezogen und von zwei, drei weiteren unmenschlichen Händen gepackt und auf die Tür zu-gezerrt. Das letzte, was er klar registrierte, war, daß eine weitere Welle die Lampe traf und auslöschte, während mehr und mehr der fürchterlichen Kreaturen in den Laderaum des gekenterten Schiffes eindrangen und über die Männer herfielen.

Er verlor nicht wirklich das Bewußtsein, aber für einen Moment, kurz bevor er draußen durch die Wasseroberfläche brach und wieder atmen konnte, war er dem Tod sehr nahe gewesen; so nahe wie vielleicht niemals zuvor im Leben. Er wußte nicht, wieviel Zeit vergangen und was in diesen Minuten mit ihm geschehen war, bis sich seine Gedanken endlich wieder klärten und er sich keuchend und qualvoll nach Atem ringend, halb gegen einen Felsen am Ufer gelehnt wiederfand. Nur allmählich gewöhnte er sich an den Gedanken, noch am Leben zu sein. Er zitterte am ganzen Leib, und in seiner Brust tobte ein furchtbarer Schmerz, der nicht aufhören wollte, sondern mit jedem Atemzug nur schlimmer zu werden schien. Laute und verzerrte Schatten nahm er um sich wahr, die so fremdartig und nichtmenschlich waren, daß er im ersten Moment bemüht war, nicht hinzusehen und auch die Ohren zu verschließen.

Natürlich ging beides nicht. Er hörte nicht nur weiter das Dröhnen der Stromschnellen, sondern auch Worte, die er nicht nur nicht verstand, sondern die auch gar nicht wie eine Sprache klangen, sondern wie etwas völlig Fremdes, für das es keinen Ausdruck gab. Irgend etwas berührte ihn im Gesicht, etwas Kaltes und Hartes, das sich wie Metall anfühlte, und obwohl er die Augen fest geschlossen hielt, fiel es ihm nicht schwer, sich die zu diesem Gefühl passende Hand vorzustellen: riesig und verkrümmt, eine Kralle mit nur zwei oder drei Fingern, die von stahlharten Schuppen bedeckt war.

Das ist doch verrückt, dachte er. Er mußte sich das alles nur eingebildet haben. Das schlechte Licht und der Sauerstoffmangel hatten ihn Dinge sehen lassen, die es einfach nicht gab. Es gibt keine Monster, dachte er. Weder hier noch sonst wo auf der Welt. Er hämmerte sich diesen Gedanken immer wieder ein, während er sich dazu zwang, mit einer langsamen Bewegung zuerst den Kopf und dann die Lider zu heben. Es gibt keine Monster.

Es gab sie doch. Eines davon stand vor ihm, ein zwei Meter großer Koloß mit einem winzigen Kopf und Schultern, die so breit waren, daß es schon fast mißgestaltet wirkte. Seine Arme waren zu lang, und die Hände hatten tatsächlich nur drei Finger, aber sie waren zumindest nicht mit Schuppen bedeckt, sondern mit einer Haut, die wie Leder wirkte und von zahllosen Geschwüren und entzündeten Wunden übersät war. Obwohl er wie Indiana selbst gerade aus dem Wasser gekommen war und vor Nässe troff, strömte er einen durchdringenden Geruch nach Krankheit und Tod aus.

Das Ding stand einige Augenblicke lang reglos über Indiana gebeugt, dann schien es sich davon überzeugt zu haben, daß er am Leben und halbwegs unverletzt war, denn es wandte sich mit einer Grimasse um, von der Indiana erst sehr viel später begreifen sollte, daß sie ein Lächeln darstellte, und watete wieder ins Wasser zurück. Indianas Blick folgte der bizarren Gestalt wie hypnotisiert. Obwohl ihn der Anblick mit kaltem Entsetzen erfüllte, war es ihm gleichzeitig unmöglich, wegzusehen. Er starrte dem Koloß nach, bis er das gekenterte Schiff fast erreicht hatte und untertauchte.

Wenige Augenblicke später erschien dort, wo das Monster verschwunden war, eine andere, fast ebenso bizarr aussehende Gestalt. Und sie war nicht allein. Als sie sich mit grotesk aussehenden, aber sehr kräftigen Schwimmbewegungen dem Ufer näherte, erkannte Indiana, daß sie einen der Männer aus dem Lagerraum mit sich schleppte. Der Soldat mußte das Bewußtsein verloren haben, aber die bizarre Kreatur transportierte ihn auf die Art eines geübten Rettungsschwimmers — auf dem Rücken liegend und seinen Kopf auf die eigene Brust gebettet, so daß er atmen konnte.

«Sie holen alle raus«, sagte eine Stimme neben ihm.

Indiana wandte den Kopf und bemerkte erst jetzt, daß er nicht allein war. Neben ihm, zitternd, die Knie an den Körper gezogen und mit den Armen umschlungen und mit einer noch immer blutenden Platzwunde unter dem linken Auge, die bewies, daß er sich heftiger als Indiana gewehrt haben mußte, hockte ein kreidebleicher Reuben.»Ich verstehe es nicht — aber es sieht so aus, als wollten sie uns das Leben retten.«

Indiana antwortete nicht — was hätte er denn auch sagen können? Reuben hatte recht. Schweigend und zutiefst verwirrt sahen sie zu, wie die Horrorgestalt den halb bewußtlosen Mann ans Ufer brachte und neben Reuben ablegte. Der Mann stöhnte. Er keuchte, begann plötzlich zu würgen und erbrach sich. Die Kreatur drehte ihn hastig herum, grub die Hand in sein Haar und schüttelte seinen Kopf so lange, bis er wieder frei atmen konnte. Dann legte sie ihn fast behutsam wieder zu Boden, bedeutete Indiana und Reuben mit einer Geste, sich um den Mann zu kümmern, und watete wieder ins Wasser zurück.

Und so ging es weiter. Es waren fünf oder sechs der grausig entstellten Gestalten, die nacheinander die Männer aus dem Laderaum des Schiffes holten. Die meisten waren bewußtlos oder zumindest nicht in der Verfassung, sich zu wehren. Einzig Henley, der als letzter aus dem Schiff herausgebracht wurde, tobte wie ein Wahnsinniger. Es bedurfte zwei der monströsen Geschöpfe, um ihn ans Ufer zu bringen und zwischen den anderen abzulegen. Die hastig verbundene Wunde an seinem Oberschenkel brach dabei wieder auf und begann heftig zu bluten, aber das schien er nicht einmal zu spüren.

Während sich Reuben um seinen verletzten Kollegen kümmerte, betrachtete Indiana ihre unheimlichen Retter etwas aufmerksamer. Das helle Tageslicht ließ sie wieder ein wenig menschlicher aussehen als unten im Schiff. Die vermeintlichen Schuppen entpuppten sich als ledrige Haut, die von Geschwüren und Warzen und bei einigen von weißlichem Geflecht wie von Pilz bedeckt war. Und natürlich waren es keine Ungeheuer. Es waren Menschen; aber Menschen, die auf entsetzliche Weise entstellt waren. Die meisten hinkten, hatten einen Buk-kel, ungleich lange Arme, verkrüppelte Hände, entstellte Gesichter und andere schreckliche Mißbildungen. Bei einem glaubte Indiana tatsächlich so etwas wie Kiemen zu erkennen, aus dem Handgelenk eines anderen wuchs ein faustgroßer Fleischklumpen, als hätte sich dort eine dritte Hand bilden wollen, es aber nicht ganz geschafft.

«Was um Gottes willen ist das?«flüsterte Reuben entsetzt.»Das … das sind doch keine Menschen, oder?«Das letzte Wort hatte er mit schriller, beinahe hysterischer Stimme hervorgestoßen. Es klang wie ein Schrei.

«Ich fürchte doch«, antwortete Indiana leise.

«Aber das ist unmöglich«, flüsterte Reuben.»So … so etwas habe ich noch nie gesehen. Was sind das für Männer?«

Indiana antwortete nicht. Aber nicht deshalb, weil er die Antwort nicht gewußt hätte. Ganz im Gegenteil — er hatte plötzlich das furchtbare Gefühl, daß sie dem Geheimnis, das Corda und Ramos und sie und vor ihnen schon so viele hierhergebracht hatte, jetzt sehr nahe waren. Und er war nicht mehr so sicher, ob er es wirklich ergründen wollte.

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