Irgendwo im Regenwald
Die Höhle war groß, feucht und kalt und von einem Dutzend blakender Fackeln erhellt, die rotes Licht und Schatten an die Wände warfen und die Winkel mit einer Bewegung füllten, die nicht wirklich war.
Indiana wußte nicht, wie lange sie gebraucht hatten, um diesen Unterschlupf zu erreichen — keiner von ihnen wußte das. Keiner von ihnen wußte, wo sie überhaupt waren. Indiana konnte nicht einmal mehr sagen, ob sie einen oder zwei oder vielleicht sogar drei Tage unterwegs gewesen waren. Ihre unheimlichen Retter hatten ihnen Zeit genug gelassen, sich zu erholen und wieder zu Kräften zu kommen, aber diese kurze Rast war auch die letzte gewesen, die sie ihnen gönnten.
Sie waren nahezu ununterbrochen marschiert. Zuerst nach Osten, in nahezu rechtem Winkel vom Fluß fort und tiefer in den Dschungel hinein, später wieder in nördliche Richtung. Die Zahl ihrer Bewacher war auf gut zwei Dutzend angewachsen. Nicht alle von ihnen waren so monströs wie die, die Indiana und die anderen Männer gerettet hatten, und doch war nicht einer unter ihnen, der nicht eine oder mehrere mehr oder minder schlimme Mißbildungen hatte. Obwohl keiner von ihnen des Englischen oder einer anderen, Indiana oder den anderen geläufigen Sprache mächtig war, waren ihre Gesten und die stumme Präsenz ihrer Waffen — und vor allem ihr Aussehen — Warnung genug gewesen, daß keiner der Männer es gewagt hatte, einen Fluchtversuch zu unternehmen. Davon abgesehen hatten sie alle spätestens während der ersten Nacht hoffnungslos die Orientierung verloren. Der Dschungel war so dicht geworden, daß sie die meiste Zeit über nicht einmal den Sternenhimmel sehen konnten, und als der nächste Tag heraufdämmerte, stieg mit der Sonne auch ein dichter, wattiger Nebel über den Horizont, so daß Indiana schließlich nicht einmal mehr wußte, in welche Himmelsrichtung sie marschierten.
Was danach kam, war in Indianas Erinnerung zu einem Durcheinander graugrüner, monotoner Bilder geworden, in denen nur eines immer gleich blieb: einen Fuß vor den anderen zu setzen und weiterzumarschieren. Ihre Bewacher gaben ihnen zu essen und zu trinken, aber sie redeten nicht, und sie gestatteten ihnen nicht die winzigste Pause. Als Henley schließlich zusammenbrach und einfach nicht mehr weiterkonnte, bauten zwei der Monster-Indios eine Trage aus Ästen und Pflanzenfasern, ohne daß sie eine Pause einlegten.
Immerhin glaubte Indiana sich zu erinnern, daß das Gelände allmählich unwegsamer wurde. Der Boden stieg sanft, aber beharrlich an, und immer mehr Steine und später große, scharfkantige Felsblöcke erschienen zwischen den Urwaldriesen.
Und schließlich hatten sie diese Höhle erreicht; ein jäh aufklaffendes Loch im Boden, das so perfekt getarnt war, daß Indiana es nicht einmal gesehen hatte, als ihre Bewacher sie direkt darauf zuführten. Wie alle anderen war er dort praktisch zusammengebrochen und auf der Stelle eingeschlafen, wo man ihn hingeführt hatte, und wie alle anderen fand er nach seinem Erwachen eine Schale mit frischem Wasser und ein wenig Obst sowie eine Portion eines undefinierbar aussehenden, aber köstlich schmeckenden Breies neben sich. Er hatte gegessen, getrunken und wieder geschlafen; wahrscheinlich einen ganzen Tag oder länger. Als er das nächste Mal erwachte, waren die heruntergebrannten Fackeln an den Wänden durch neue ersetzt worden, und mit Ausnahme von Henley, der fiebernd dalag und fantasierte, waren auch alle anderen wach.
Seither waren Stunden vergangen. Stunden, die sie zum Teil mit Reden und dem Aufstellen und Verwerfen der wildesten Theorien über ihre unheimlichen Lebensretter, die meiste Zeit aber stumm und dumpf vor sich hinbrütend zugebracht hatten. Gegen Reubens Rat hatte Indiana einmal versucht, ihr steinernes Gefängnis zu verlassen. Er war nicht sehr weit gekommen. Vor dem Eingang stand der gleiche Monster-Indio Wache, der ihn aus dem Schiffswrack gerettet hatte. Sein Kopf mit den winzigen, aber sehr aufmerksam blickenden Augen kam Indiana immer hoch lächerlich klein für den riesigen Körper vor; aber dafür war die steinerne Axt, die er in einer seiner gewaltigen Pranken hielt, um so größer. Indiana verzichtete darauf, herauszufinden, wie gut er mit dieser Waffe umgehen konnte, und kehrte zu den anderen zurück.
«Das ist doch vollkommen sinnlos«, sagte Reuben, resignierend, aber auch mit einer Spur von Schadenfreude in der Stimme, als Indiana sich wieder neben ihn auf den nackten Felsboden sinken ließ.»Ich habe es auch schon versucht. Sowohl mit guten Worten als auch mit Gewalt. «Er lächelte schmerzlich.»Aber der Bursche ist nicht nur taub wie ein Felsen, sondern auch genauso widerspenstig. «Er beugte sich über Henley, der im Schlaf den Kopf hin- und hergeworfen hatte und stöhnte, sah einen Moment lang besorgt auf ihn hinab und richtete sich dann wieder auf.»Außerdem«, knüpfte er an seine Worte an,»würde es wahrscheinlich auch nichts nützen, wenn wir hier herauskämen. Oder wissen Sie zufällig, wo wir sind?«
«Nein«, gestand Indiana.»Aber ich glaube, einer der Gründe dafür, daß ich immer noch am Leben bin, ist der, daß ich mir über solche Dinge erst den Kopf zerbreche, wenn sie akut werden.«
Reuben blickte ihn einen Moment lang irritiert an, dann zuckte er andeutungsweise mit den Achseln.»Das gilt vielleicht in einer normalen Gegend«, sagte er,»mit normalen Menschen. Aber nicht in einer Welt voller … voller Ungeheuer.«
«Glauben Sie, daß sie das sind?«fragte Indiana.»Ungeheuer?«
«Jedenfalls sind es keine normalen Menschen!«antwortete Reuben weitaus heftiger als nötig gewesen wäre. Er begriff wohl selbst, daß er sich im Ton vergriffen hatte, denn er lächelte entschuldigend und fuhr mit jetzt eher verwundert als zornig klingender Stimme fort.»Aber der Teufel soll mich holen, wenn ich weiß, was sie sind. «Er machte eine hilflose Geste und ein entsprechendes Gesicht.»Wissen Sie, Jones«, fuhr er fort.»Ich habe so etwas bisher nur ein einziges Mal gesehen.«
Indiana sah ihn fragend an.
«Auf dem Jahrmarkt«, erklärte Reuben.»Ich war damals noch ein Kind — vielleicht vierzehn oder fünfzehn. Mein Vater hat mich in eine dieser Freak-Shows mitgenommen. Sie wissen doch — eines dieser Zelte, in denen man die bärtige Frau oder Siamesische Zwillinge oder einen Mann mit Schlangenhaut begaffen kann. Aber das waren …«Er suchte krampfhaft nach Worten.»Mißgeburten, Krüppel — bedauernswerte Geschöpfe im Grunde.«
«Sind das diese Indios nicht?«
Der verkappte Vorwurf, der in dieser Frage mitschwang, tat Indiana beinahe im gleichen Moment schon wieder leid. Aber Reuben schien ihn gar nicht zu hören; und wenn, so überging er ihn.
«So etwas kommt vielleicht einmal bei hunderttausend Menschen vor!«fuhr Reuben fort und wurde wieder heftiger.»Es ist die Ausnahme, Jones. So erstaunlich, daß es lohnt, sie auf dem Jahrmarkt auszustellen. Aber hier scheint ein … ein ganzes Volk von Mißgeburten zu leben.«
«Vielleicht hat das einen Grund«, sagte Indiana nachdenklich.
«Und welchen?«
«Ich weiß es nicht«, erwiderte Indiana.»Und ich bin auch nicht besonders sicher, daß ich es wissen will.«
Reuben schwieg sekundenlang und starrte an Indiana vorbei ins Leere. Dann sagte er:»Wissen Sie, woran mich diese Männer noch erinnern, Jones?«
«Nein.«
«Wirklich nicht?«Reuben lachte humorlos.»Haben Sie unseren blinden, verkrüppelten Freund schon vergessen?«
«Ramos?«fragte Indiana zweifelnd.»Wie kommen Sie darauf?«
«Ich weiß es nicht«, murmelte Reuben.»Aber ich habe das Gefühl, daß die ganze Geschichte viel komplizierter ist, als wir bisher alle geglaubt haben. «Er wollte weitersprechen, legte aber plötzlich den Kopf schräg und lauschte einen Moment.»Da kommt jemand«, sagte er dann.
Als Indiana sich zum Eingang umwandte, traten zwei bewaffnete Indios in die Höhle. Und zwischen ihnen –
«Marcus!« schrie Indiana überrascht. Mit einem Satz war er auf den Füßen, rannte auf Marcus Brody zu und schloß ihn so ungestüm in die Arme, daß er ihn um ein Haar von den Füßen gerissen hätte.
Marcus keuchte vor Überraschung. Einige Augenblicke lang ließ er Indianas Wiedersehensfreude wortlos über sich ergehen, dann befreite er sich mit sanfter Gewalt aus seinem Griff und trat einen halben Schritt zurück.
«Marcus«, sagte Indiana noch einmal.»Großer Gott, du lebst! Und du bist unverletzt!«
«Natürlich lebe ich«, sagte er in einem Ton solcher Verblüffung, als hätte Indiana ihn gefragt, warum die Sonne am Morgen aufgeht.»Aber was tust du hier? Du solltest hundert Meilen entfernt sein und diesen Schuft jagen, der mich entführt und hierhergebracht hat.«
Es dauerte einen Moment, bis Indiana ihn verstand.»Ra-mos?«vergewisserte er sich.»Er hat dich hierhergebracht?«
«Nicht direkt«, schränkte Marcus ein.»Und auch nicht ganz freiwillig. Und, wie ich betonen möchte, ist es auch nicht unbedingt sein Verdienst, daß ich mich am Leben und in guter körperlicher Verfassung befinde. «Er legte die Stirn in Falten.»Dieser Ramos ist der unmöglichste Mensch, dem ich jemals begegnet bin, Indiana. Seine Manieren lassen zu wünschen übrig, sehr vorsichtig ausgedrückt. Deshalb habe ich es schließlich auch vorgezogen, mich aus seiner Gesellschaft zu entfernen.«
«Sie sind ihm entkommen?«fragte Reuben zweifelnd.»Wie?«
Marcus wandte sich mit einem herablassenden Lächeln an den FBI-Beamten, aber er schien wohl im letzten Moment Indianas warnenden Blick aufzufangen, denn plötzlich lächelte er fast verlegen und zuckte mit den Schultern.»Eigentlich war es pures Glück«, gestand er.»Die Wächter griffen Ramos’ Mörderbande an, und in dem Durcheinander konnte ich entkommen.«
«Und dann?«fragte Reuben.
Wieder antwortete Marcus nicht sofort. Der Ausdruck von Verlegenheit auf seinen Zügen wurde stärker.»Ich gestehe, daß es vielleicht etwas übereilt war, bei der erstbesten Gelegenheit zu fliehen«, murmelte er.»Um ganz ehrlich zu sein — ich bin stundenlang durch den Dschungel geirrt und war halb verdurstet und zu Tode erschöpft, als die Wächter mich fanden.«
«Die Wächter?«Es war das zweite Mal, daß Marcus diesen Ausdruck benutzte.
«Die Männer, die Sie und Ihre Freunde aus dem sinkenden Schiff gerettet haben, Dr. Jones«, erklärte eine Stimme vom Eingang her.»In unserer Sprache tragen sie einen anderen Namen, aber ich glaube, dieser Ausdruck kommt seiner Bedeutung nahe genug.«
Indiana sah an Marcus vorbei und riß ein zweites Mal und noch verblüffter die Augen auf, als er erkannte, wer da gesprochen hatte. Es war der Häuptling der Aymará-Indianer, dessen Dorf sie vor drei Tagen verlassen hatten.
«Sie?«murmelte er. Er war überrascht — aber nicht allzusehr. Im Grunde hätte er es sich denken können.
Der alte Mann lächelte, deutete ein Nicken an und kam näher. Seltsam — vielleicht lag es an der Beleuchtung, vielleicht war es auch nur Einbildung — aber Indiana hatte das Gefühl, daß er sich hier viel sicherer und kraftvoller bewegte als beim letzten Mal. In seinem Gesicht gab es einen energischen Zug, der vorher nicht dagewesen war. Und er schien jetzt noch viel mehr als zuvor ein Herrscher zu sein, ein Mann, der zwar alt, aber nicht gebrechlich, der sanftmütig, aber nicht weich war.
«Sie?«fragte er noch einmal.»Aber wieso — «
Der Aymará-Häuptling machte eine knappe, befehlende Geste.»Ich bin hier, um Ihnen alles zu erklären, Dr. Jones«, sagte er.»Aber lassen Sie uns zu Ihren Freunden gehen. Das macht es überflüssig, alles zweimal erzählen zu müssen.«
Diesmal war Indiana sicher, Spott in seiner Stimme zu hören. Dann fiel ihm noch etwas auf. Der Aymará sprach plötzlich ein so perfektes Englisch, als wäre dies seine Muttersprache. Doch er sagte dazu nichts weiter, sondern fügte diesen Punkt der langen, sehr langen Liste von Fragen hinzu, die er dem alten Mann stellen wollte, und ging zusammen mit ihm und Marcus zu Reuben und den anderen zurück.
Wortlos und mit einem Ausdruck im Gesicht, den Indiana nicht zu deuten vermochte, musterte er einen nach dem anderen, sehr lange und sehr aufmerksam und auf eine Art, als genüge ihm ein einziger Blick in ein Gesicht, um den wirklichen Menschen dahinter zu erkennen und ein Urteil über ihn zu fällen. Am längsten blickte er auf den fiebernden Henley hinab, und schließlich beugte er sich zu ihm hinunter, berührte seine glühende Stirn mit der Hand und schloß für einen Moment die Augen. Und etwas geradezu Unheimliches geschah. Henley hörte nach einigen Sekunden auf, wirre Wortfetzen und Laute zu stammeln, und Indiana konnte sehen, daß sich sein hämmernder Pulsschlag beruhigte.
Nicht nur er starrte den alten Aymará fassungslos an, als dieser sich nach einer Weile wieder aufrichtete und den Blick nun auf Reuben heftete.
Der FBI-Beamte hielt seinem Blick nur einen Moment lang stand. Schon bald begann er, sich unruhig auf der Stelle zu bewegen und nervös mit den Händen zu spielen.»Was wollen Sie?«fragte er schließlich. Seine Stimme zitterte, und er brachte nicht die Kraft auf, dem alten Mann offen ins Gesicht zu sehen.»Wieso halten Sie uns hier gefangen? Wir sind nicht Ihre Feinde. Mit dem, was Ramos getan hat, haben wir nichts zu schaffen.«
«Das weiß ich«, antwortete der Aymará ruhig.»Doch ihr seid aus dem gleichen Grund hier wie er. Und deshalb kann ich über euch nur urteilen, wie ich über ihn geurteilt habe.«
Reuben raffte alle Kraft zusammen, die er noch in sich fand, streckte trotzig das Kinn vor und starrte den Alten kampflustig an. Genauer gesagt — er versuchte es. In den Augen des alten Indianers erschien ein sanftes Lächeln, und plötzlich hatte es Reuben sehr eilig, den Blick wieder zu senken. Und auch in seiner Stimme war keine wirkliche Kraft mehr, sondern nur noch Trotz.»Sie müssen verrückt sein«, sagte er.»Woher wollen Sie eigentlich wissen, warum wir hier sind? Wir suchen den Mann, der Ihnen und Ihrem Volk all dies angetan hat. Er ist ein gefährlicher Verbrecher. Ich bin hier, damit er seine gerechte Strafe bekommt.«
«Das weiß ich«, antwortete der Aymará.»Aber ich weiß auch, daß das nur ein Teil der Wahrheit ist.«
Reuben wollte abermals auffahren, aber diesmal unterbrach ihn Indiana.»Lassen Sie doch, Reuben«, sagte er.»Ich glaube, es ist wirklich sinnlos, ihn belügen zu wollen.«
Reuben starrte ihn feindselig an, schwieg aber, und der alte Indianer lächelte erneut.»Sie haben recht, Dr. Jones«, sagte er.»Dies ist kein Ort, an dem irgendeine Lüge Bestand haben könnte. Ich weiß, weshalb ihr wirklich gekommen seid. Ihr sucht dasselbe, was all die anderen gesucht haben, die vor euch kamen. Und ihr werdet dasselbe finden wie sie, wenn ihr nicht von eurer Suche ablaßt. Den Tod.«
«Vor uns waren also schon andere hier?«fragte Indiana.
«Wir sind nicht die ersten, die den Weg fanden.«
«Es waren viele, die kamen«, antwortete der Alte.»Doch keiner ist wieder zurückgekehrt.«
«Dann … dann ist es wahr?«fragte Reuben plötzlich aufgeregt.»El Dorado … existiert? Es ist nicht nur eine Legende?«
«El Dorado …«Der Alte wiederholte das Wort mit einer sonderbaren Betonung. Dann nickte er.»O ja, einige haben es so genannt. Andere hatten andere Namen, doch es war immer dasselbe, was sie suchten, Gold und Reichtum.«
«El Dorado existiert wirklich?«fragte Reuben noch einmal. Seine Furcht war mit einem Male wie weggeblasen. In seinen Augen erschien ein sonderbares Glitzern, und Indiana bemerkte voller Erschrecken, daß sich auch einige seiner Männer näher herangeschoben hatten und ihre Blicke fasziniert an den Lippen des Alten hingen. Den Ausdruck, der plötzlich in ihren Augen war, kannte er nur zu genau. Vielleicht war es besser, wenn der alte Mann nicht weitersprach.
Der Aymará sah ihn einen Moment fast so an, als hätte er seine Gedanken gelesen, und lächelte dünn und tieftraurig.»Es gibt tatsächlich dieses Land, von dem alle träumen«, sagte er.»Mein Volk und ich haben nie verstanden, was es sein soll, weswegen das gelbe Metall so wertvoll für euch ist, aber ja, es existiert. Aber wir sind das Volk, das die Götter auserwählt haben, darüber zu wachen. Es ist uns nicht immer gelungen. Manche haben uns überlistet, manche haben sich den Weg mit Gewalt freigekämpft. Keiner wollte einsehen, daß das Gold von El Dorado den Tod bringt.«
«Das Gold von El Dorado?«Reuben lachte hysterisch.»Du meinst … Du und deine …«Er suchte einen Moment nach Worten, biß sich auf die Lippe und fuhr stotternd fort: »Männer.«
«Nicht wir«, widersprach der Alte.»Wir sind Wächter, und wir sind Warner. Wir töten niemanden, der uns nicht angreift. «Er hob die Hand, als Reuben ihn abermals unterbrechen wollte.
«Ich will dir die Geschichte unseres Volkes erzählen, weißer Mann. Auch wir waren einst wie ihr. Auch unseren Vorfahren war die Gier nach dem gelben Metall nicht fremd. Sie waren es, die damals den einzigen Eingang ins Tal der Götter fanden. Sie nahmen das gelbe Metall und trugen es hinaus in die Welt, und sie wurden reich und mächtig.«
«Das Gold der Inkas«, murmelte Indiana. Reuben sah ihn fragend an, und der alte Aymará nickte.
«Ja«, sagte er.»Das kam aus dem Land, das die Spanier El Dorado nannten. Es machte sie reich, es machte sie mächtig, aber es tötete sie. Auch damals gab es schon Stimmen, die davor warnten, sich am Besitz der Götter zu vergreifen, doch auch unsere Vorfahren schlugen diese Warnungen in den Wind. Es heißt, daß einst, vor unendlich langer Zeit, als es noch keine Menschen gab, die Götter selbst das Land aus Gold erschufen. Doch da sie wußten, was geschehen würde, sprachen sie einen Fluch aus. Jeder, der das Gold berührte, sollte sterben. Und die, die es schürften, starben eines schrecklichen Todes. Mein Volk siechte dahin. Es war reich, doch es bezahlte einen furchtbaren Preis für seinen Reichtum. Die Männer starben, und die Frauen gebaren Kinder, auf denen der Fluch der Götter lag.«
Indiana schauderte. Sein Blick glitt über die entstellten Gestalten der beiden Krieger, die den Alten begleitet hatten.
«Seither sind es die Aymará, die den Weg nach El Dorado bewachen«, fuhr der Alte fort.
«Aber die Männer und Frauen im Dorf …«murmelte Reuben verwirrt.
«Sie bringen die Kinder hierher«, sagte Indiana. Er wandte sich an den Alten.»Eure Frauen gebären immer noch Kinder, auf denen der Fluch der Götter liegt, nicht wahr?«
Der alte Mann nickte.»Sie werden hierhergebracht. In dieses geheime Versteck in den Bergen, wo niemand sie sieht«, sagte er.»Vielleicht werden die Götter eines Tages ein Einsehen haben und ihren Fluch von uns nehmen. Doch bis es soweit ist, werden wir unsere Aufgabe erfüllen und den Weg in ihr Land bewachen.«
«Das wird euch nicht viel nützen, wenn Ramos mit seiner Mörderbande hier auftaucht«, sagte Reuben.»Du hast gesehen, was er mit deinem Dorf angestellt hat, Häuptling. Sie werden sich den Weg einfach freischießen.«
«Wir sind viele«, sagte der Aymará, aber Reuben wischte seine Worte mit einer Handbewegung beiseite.»Unterschätz diesen Mann nicht, Häuptling. Ich will gar nicht abstreiten, daß deine Vorfahren vielleicht mit den spanischen Conquistadoren fertig geworden sind, oder auch mit ein paar Abenteurern, die es hierher verschlagen hat. Aber Ramos und seine Leute haben moderne Waffen, und du hast gesehen, wie rücksichtslos sie diese einsetzen. Du hast nur eine Wahl, wenn du ein zweites, furchtbares Blutvergießen verhindern willst: Laß uns gehen. Und zeig uns den Weg. Wir werden auf Ramos warten.«
«Wir sind hier die Wächter«, wiederholte der Häuptling stur.»Uns haben die Götter die Aufgabe übertragen, den Weg ins Land des gelben Metalls zu bewachen. Und wenn wir dabei sterben, so ist auch dies der Wille der Götter.«
«Der Wille der Götter!«wiederholte Reuben aufgebracht.»Ich will dir nicht zu nahe treten, alter Mann, aber Ramos’ Flammenwerfern werden auch deine Götter nicht allzuviel entgegenzusetzen haben. Dieser Mann ist verrückt, verstehst du das denn nicht? Verrückt und völlig gewissenlos. Es ist ihm vollkommen egal, wie viele Menschen er umbringen muß, um zu bekommen, was er will.«
«Und du?«fragte der Alte.
Reuben blinzelte.»Wie meinst du das?«
«Was würdest du tun, um das Geheimnis von El Dorado zu ergründen?«Der Häuptling deutete auf die Männer, die sich im Halbkreis hinter Reuben aufgestellt hatten.»Hast du nicht auch die Leben all dieser Männer riskiert, um an dein Ziel zu gelangen?«
«Das ist etwas anderes«, protestierte Reuben, aber der Alte unterbrach ihn sofort wieder.
«Oh, ich weiß«, sagte er.»Du glaubst das wirklich. Du glaubst, aus edleren Gründen hier zu sein. Aber das stimmt nicht. Es ist zwar nicht das Gold, was du suchst. Aber es ist Macht. Was ist Gold anderes als das Werkzeug, sich Macht zu verschaffen?«
«Blödsinn!«antwortete Reuben. Aber seine Stimme klang jetzt doch ein wenig unsicher.»Selbst, wenn es dieses sagenhafte Tal wirklich gibt — welche Art von Macht sollte ich dort wohl finden?«
«Es ist vor allem die Furcht, die zu verlieren, die du bisher hast«, erwiderte der Alte.
«Was … was für ein haarsträubender Unsinn«, murmelte Reuben verstört. Sein Blick flackerte. Er sah Indiana beinahe hilfesuchend an.»Ich verstehe einfach nicht, wovon er überhaupt redet.«
«Aber ich«, sagte Indiana leise.
Der Aymará wandte sich an ihn.»Ihr seid leicht zu durchschauen«, sagte er.»Ihr wißt soviel und doch wieder ganz wenig. Und am wenigsten über euch selbst. Wirklich, Dr. Jones, glauben Sie immer noch, daß Sie hergekommen sind, um Ihren Freund zu retten? Aber war es nicht mindestens ebensosehr das Abenteuer, das Sie gelockt hat? Und die Liebe zu einer Frau, von der Sie nicht einmal wahrhaben wollen, wie sehr Sie sie lieben? Oder wissen Sie es wirklich nicht?«
Indiana schwieg verwirrt.
Der Aymará wandte sich wieder an Reuben. Und diesmal waren seine Worte ernst. Er sprach nicht mehr wie zu einem Kind.»Und Sie, Mr. Reuben — Sie glauben, verhindern zu müssen, daß Ihre Feinde El Dorado finden. Sie haben Angst, Sie könnten dort etwas entdecken, was die Vormachtstellung Ihres Volkes gefährdet. Aber Sie werden scheitern. Sie täuschen sich. Der Mann, den Sie verfolgen, ist kein Verräter an seinem Volk. Er kam aus dem gleichen Grund hierher wie all die anderen vor ihm. Er suchte Gold. Und auch Sie werden der Verlockung des Goldes erliegen, wenn Sie es sehen. Und wenn nicht Sie, so die Männer, die Sie begleiten. Sie sehen also — ich kann Sie nicht gehen lassen.«
Reuben starrte den Aymará mit offenem Mund an.»Woher … wissen Sie das?«stammelte er.»Das … das ist völlig unmöglich. Sie können das nicht wissen.«
«Doch«, sagte Indiana leise.»Er kann es.«
Der alte Mann wandte sich zu ihm um und sah ihn auf sonderbare Weise an, und Indiana fügte beinahe flüsternd hinzu:»Er liest unsere Gedanken — nicht wahr?«
«Ja«, sagte der Häuptling.»Das tue ich.«