Der Mann, der jetzt das Zimmer betrat, war eine auffallende Erscheinung. Sehr groß, gut gewachsen, mit athletischem Körperbau, tiefbronzefarbenem Gesicht und Nacken beherrschte er die Versammlung. Selbst Giraud machte neben ihm einen etwas bleichsüchtigen Eindruck. Später, als ich Gabriel Stonor besser kennenlernte, merkte ich, daß er eine ganz ungewöhnliche Persönlichkeit war. Engländer von Geburt, hatte er sieh in der ganzen Welt umhergetrieben. Er hatte Hochwild in Afrika gejagt, Korea bereist, Viehzucht in Kalifornien betrieben, und auf den Südseeinseln Geschäfte abgewickelt.
Sein sicherer Blick blieb auf M. Hautet haften.
»Wohl der mit dem Fall betraute Untersuchungsrichter? Ich freue mich. Sie kennenzulernen. Wie geht's Madame Renauld? Wie erträgt sie das Unglück? Es muß ein furchtbarer Schlag für sie gewesen sein.«
»Schrecklich, schrecklich«, sagte M. Hautet. »Gestatten Sie, dass ich vorstelle: Monsieur Bex, unser Polizeikommissar, Monsieur Giraud von der Sürete. Dort der Herr ist Monsieur Hercule Poirot, der bekannte Detektiv. Monsieur Renauld hatte ihn herbeigerufen, aber er kam zu spät, um die Tragödie zu verhindern. Ein Freund Monsieur Poirots, Captain Hastings.«
Stonor blickte Poirot voll Interesse an: »Er rief Sie hierher?«
»Sie wußten also nichts davon, daß sich Monsieur Renauld mit der Absicht trug, einen Detektiv kommen zu lassen?« fragte Bex gespannt.
»Nein, ich wußte es nicht. Aber es wundert mich durchaus nicht.«
»Warum?«
»Weil der alte Herr eigen war. Ich weiß nicht, um was es sich handelte. Er vertraute sich mir nicht an. So standen wir nicht miteinander. Aber eigen war er - sehr sogar.«
»Hm!« machte M. Hautet. »Und die Ursache ist Ihnen unbekannt?«
»Wie ich eben sagte.«
»Verzeihn Sie, Monsieur Stonor, aber wir müssen einige kleine Formalitäten erledigen. Sie heißen?«
»Gabriel Stonor.«
»Seit wann sind Sie Monsieur Renaulds Sekretär?«
»Seit ungefähr zwei Jahren, als er aus Südamerika zurückkehrte. Ich machte seine Bekanntschaft durch einen gemeinsamen Freund, und er bot mir diese Stellung an. Er war ein verdammt guter Herr.«
»Erzählte er Ihnen des öfteren von seinem Leben in Südamerika?«
»Ja, häufig.«
»Ist Ihnen bekannt, ob er je in Santiago war?«
»Ich glaube, einige Male.«
»Erwähnte er niemals ein besonderes Ereignis, das ihm dort zugestoßen war - irgendein Ereignis, das eine Rache herausgefordert haben könnte?«
»Niemals.«
»Sprach er von einem Geheimnis, das ihn seit damals umgab?«
»Nicht, daß ich mich entsinnen könnte. Aber trotz alledem gab es ein Geheimnis um ihn. Nie hörte ich ihn zum Beispiel von seiner Kindheit sprechen oder von seinem Leben vor seiner Ankunft in Südamerika. Ich glaube, er war von Geburt französischer Kanadier, aber nie erzählte er von Kanada. Er konnte sich wie eine Muschel abschließen, wenn es ihm beliebte.«
»Also, soweit Ihnen bekannt ist, besaß er keine Feinde, und Sie können uns keinen Hinweis auf irgendeinen Vorfall geben, der vielleicht mit seiner Ermordung in Verbindung zu bringen ist?«
»Nein.«
»Monsieur Stonor, hörten Sie jemals den Namen Duveen?«
»Duveen. Duveen?« Er dachte angestrengt nach. »Ich glaube nicht, ihn gehört zu haben. Und, doch kommt er mir bekannt vor.«
»Kennen Sie eine Dame, eine Freundin Monsieur Renaulds, die mit dem Taufnamen Bella heißt?«
»Bella Duveen? Ist dies der ganze Name? Ist es nicht merkwürdig? Ich weiß bestimmt, daß ich ihn kenne. Nur fällt mir augenblicklich der Zusammenhang nicht ein.«
Der Untersuchungsrichter hüstelte: »Verstehen Sie mich recht, Monsieur Stonor. - Der Fall liegt so: Es darf keine Vorbehalte geben. Sie lassen sich vielleicht durch Ihre Gefühle für Madame Renauld - für die Sie, wie ich annehme, große Verehrung und Zuneigung empfinden - vielleicht - offenbar!« sagte M. Hautet und verwickelte sich immer mehr in den Satz. »Es darf absolut keine Vorbehalte geben.«
Stonor starrte ihn an, in seinen Augen dämmerte Verständnis. »Ich kann nicht ganz mitkommen«, sagte er höflich. »Was hat denn das mit Madame Renauld zu tun? Ich habe große Achtung und Verehrung für diese Dame, denn sie ist ein ganz wundervoller, ungewöhnlicher Mensch, aber ich kann nicht ganz verstehen, inwiefern meine Zurückhaltung, oder wie Sie es nennen, auf sie wirken könnte?«
»Auch nicht, wenn es sich erweisen sollte, daß diese Bella Duveen Monsieur Renauld mehr als eine Freundin war?«
»Oh!« sagte Stonor. »Jetzt begreife ich. Aber ich würde meinen letzten Dollar wetten, daß Sie unrecht haben. Der alte Herr kümmerte sich um keine Schürze. Er vergötterte nur seine eigene Gattin. Sie waren das glücklichste Ehepaar, das ich kannte «
Freundlich schüttelte M. Hautet den Kopf.
»Monsieur Stonor, wir haben einen sicheren Beweis -einen Liebesbrief dieser Bella an Monsieur Renauld, in dem sie ihm vorwirft, daß er ihrer müde geworden sei. Überdies haben wir weitere Beweise, daß er vor seinem Ableben eine Liebschaft mit einer Französin, einer Madame Daubreuil hatte, die in einer benachbarten Villa wohnt.«
Des Sekretärs Augen weiteten sich: »Halten Sie ein, bitte. Sie sind falsch unterrichtet. Ich kannte Paul Renauld. Was Sie eben sagten, ist glatt unmöglich. Es muß eine andere Erklärung dafür geben.«
Der Untersuchungsrichter zuckte die Achseln: »Was für eine andere Erklärung wäre da möglich?«
»Was veranlaßt Sie, anzunehmen, dass es sich um eine Liebesgeschichte handele?«
»Madame Daubreuil hatte die Gewohnheit, ihn in den Abendstunden hier zu besuchen. Auch brachte Madame Daubreuil, seit Renauld die Villa Genevieve bewohnte, große Summen in Banknoten auf ihr Konto. Alles zusammen belauft sich auf viertausend Pfund Ihres englischen Geldes.«
»Ich vermute, daß das richtig ist«, sagte Stonor ruhig. »Ich übermittelte ihr, auf seinen Wunsch, diese Summen in Noten. Aber es war keine Liebesgeschichte.«
»Und was sonst könnte es gewesen sein?«
»Erpressung«, sagte Stonor scharf, und schlug krachend auf den Tisch. »Das war es.«
»Oh!« rief der Untersuchungsrichter überrascht.
»Erpressung«, wiederholte Stonor. »Der alte Mann wurde geschröpft - und zwar ganz ausgiebig. Viertausend Pfund in zwei Monaten! Hui! Ich sagte Ihnen vorhin, daß es ein Geheimnis um Renauld gab. Offenbar wußte Madame Daubreuil genug darüber, um einen Druck auf ihn ausüben zu können.«
»Das wäre denkbar«, rief der Kommissar erregt. »Entschieden wäre das denkbar.«
»Denkbar«, rief Stonor. »Es ist völlig sicher. Haben Sie Madame Renauld über diesen Teil der Angelegenheit ausgefragt?«
»Nein, Monsieur, wir wollten ihr keinen Kummer bereiten und vermieden es.«
»Kummer? Sie hätte Ihnen ins Gesicht gelacht! Ich sage Ihnen, sie und Renauld waren ein Paar, wie man kaum unter Hunderten eines findet.«
»Ah, das bringt mich auf etwas anderes«, sagte M. Hautet. »Zog Monsieur Renauld Sie wegen seines Testaments ins Vertrauen?«
»Darüber weiß ich alles - ich nahm es zum Notar mit, nachdem er es niedergeschrieben hatte. Ich kann Ihnen den Namen seines Rechtsanwaltes nennen, falls Sie Einblick nehmen wollen. Es liegt dort. Es ist ganz einfach. Die Hälfte seines Vermögens auf Lebzeiten seiner Frau, die andere Hälfte seinem Sohn. Einige Legate. Ich glaube, auch für mich einige tausend.«
»Wann wurde dieses Testament verfaßt?«
»Oh, ungefähr vor eineinhalb Jahren.«
»Würde es Sie sehr wundern, wenn Sie erführen, daß Monsieur Renauld vor nicht ganz vierzehn Tagen noch ein Testament verfaßte?«
Stonor war sichtlich sehr überrascht: »Davon hatte ich keine Ahnung. Was enthält es?«
»Sein ganzes ausgedehntes Vermögen vermacht er uneingeschränkt seiner Gattin. Des Sohnes wird keine Erwähnung getan.«
Mr. Stonor ließ einen Pfiff hören: »Ich finde das sehr hart für den Jungen. Seine Mutter vergöttert ihn zwar, aber für die Welt sieht es beinahe wie mangelndes Vertrauen von Seiten des Vaters aus. Das wird seine Eitelkeit schwer treffen. Aber auch das bestätigt, was ich Ihnen sagte: daß Renauld und seine Frau im besten Einvernehmen lebten.«
»Sehr richtig, sehr richtig«, sagte M. Hautet. »Vielleicht werden wir unsere Gedankengänge nach mancher Richtung umstellen müssen. Natürlich haben wir nach Santiago gekabelt und erwarten jeden Augenblick die Antwort. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird dann alles klar und offen sein. Andererseits müßte doch, wenn Ihre Annahme auf Erpressung richtig ist, Madame Daubreuil in der Lage sein, uns wertvolle Aufschlüsse geben zu können.«
Hier warf Poirot ein: »Monsieur Stonor, Ist Masters, der englische Chauffeur, schon lange bei Monsieur Renauld?«
»Über ein Jahr.«
»Haben Sie eine Ahnung, ob er je in Südamerika war?«
»Ich weiß bestimmt, daß er nicht dort war. Ehe er in die Dienste M. Renaulds trat, war er viele Jahre bei einer Familie in Gloucestershire, die mir wohlbekannt ist.«
»Sie verbürgen sich also dafür, daß bei ihm jedes Verdachtsmoment ausscheidet?«
»Unbedingt.«
Poirot schien etwas verstimmt.
Unterdessen hatte der Richter Marchaud rufen lassen.
»Bestellen Sie Madame Renauld, ich ließe sie bitten, sie einige Augenblicke sprechen zu dürfen. Ich werde sie oben aufsuchen.«
Marchaud grüßte und verschwand.
Wir warteten einige Minuten, dann öffnete sich zu unserem Staunen die Tür, und Mme. Renauld betrat totenbleich, in tiefe Trauer gekleidet, das Zimmer.
M. Hautet rückte ihr einen Stuhl zurecht und erging sich in den nachdrücklichsten Beteuerungen, die sie ruhig entgegennahm. Stonor ergriff ihre Hand voll beredten Mitgefühls. Worte fehlten ihm. Mine. Renauld wandte sich M. Hautet zu: »Sie wollten mich etwas fragen?«
»Mit Ihrer Erlaubnis, Madame. Ich horte, Ihr Gatte sei von Geburt Franke-Kanadier gewesen. Können Sie uns irgend etwas über seine Jugend oder seine Erziehung mitteilen?«
Sie schüttelte den Kopf: »Mein Gatte war, was ihn selbst betraf, immer sehr zurückhaltend, Monsieur. Er kam aus Nordwest, soviel ich weiß; aber ich glaube, er hatte eine unglückliche Kindheit, da er niemals davon sprechen wollte. Wir lebten ausschließlich in der Gegenwart und der Zukunft.«
»Gab es irgendein Geheimnis in seiner Vergangenheit?«
Mme. Renauld lächelte kaum merklich und schüttelte den Kopf: »Sicher nichts Romantisches, Monsieur.«
M. Hautet lächelte nun auch: »Wahrhaftig, wir dürfen uns nicht erlauben, melodramatisch zu werden. Da wäre noch eine Sache -« Er zögerte.
Stonor platzte ungestüm dazwischen.
»Die Herren haben sich eine sehr seltsame Idee in den Kopf gesetzt, Madame. Sie bilden sich tatsächlich ein, daß Monsieur Renauld in Beziehungen zu einer Madame Daubreuil stand, die, , wie es heißt, in der Nähe wohnt.«
Mme. Renaulds Wangen färbten sich blutrot. Sie warf den Kopf zurück, kniff die Lippen zusammen, und ihr Gesicht zuckte. Stonor betrachtete sie erstaunt, doch M. Bex neigte sich vor und sagte liebenswürdig: »Es tut uns leid. Ihnen Kummer zu verursachen, Madame, aber haben Sie irgendeinen Grund zur Annahme, daß Madame Daubreuil die ... hm ... Geliebte Ihres Gatten war?«
Schluchzend verbarg Mme. Renauld ihr Gesicht in den Händen. Ihre Schultern zuckten wie im Krampf. Endlich hob sie das Haupt und sagte schwach: »Vielleicht war sie es.«
Nie in meinem Leben habe ich etwas gesehen, was der unerhörten Bestürzung gleichkam, die in Stonors Gesicht trat. Er war wie aus allen Wolken gefallen.