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»Mein Freund!

Wenn Sie diesen Brief erhalten, wissen Sie schon alles. Nichts, was ich sagte, konnte Bella von ihrem Vorsatz abbringen. Sie ging und zeigte sich selber an. Ich bin des Kampfes müde.

Nun werden Sie auch wissen, daß ich Sie durch Lügen täuschte, als Sie mir Vertrauen schenkten. Es wird Sie vielleicht unentschuldbar dünken, aber ich möchte doch, ehe ich für immer aus Ihrem Leben verschwinde, erklären, wie alles kam. Es würde mein Leben um so viel leichter gestalten, wenn ich wüßte, daß Sie mir verzeihen. Nicht um meinetwillen handelte ich so, und das ist die einzige Entschuldigung, die ich für mich habe.

Ich möchte mit dem Tage beginnen, an dem ich Ihnen auf der Reise von Paris begegnete. Schon damals hatte ich Sorge um Bella. Sie war verzweifelt um Jack Renaulds willen, sie hätte sich für ihn zu Boden geworfen, damit er über sie hinwegschreite, und als er anders wurde, nicht mehr so häufig schrieb, da verlor sie die Selbstbeherrschung. Sie bildete sich ein, daß er ein anderes Mädchen im Sinn habe - und wie sich später herausstellte, hatte sie recht. Sie setzte sich in den Kopf, nach Merlinville zu fahren, um den Versuch zu machen, Jack in seiner väterlichen Villa aufzusuchen. Sie wußte, daß ich dagegen war, und trachtete mir zu entschlüpfen. Da ich sie in Calais nicht im Zuge fand, entschloß ich mich, nicht ohne sie nach England zu reisen. Ich hatte das unbehagliche Gefühl, daß sich irgend etwas Furchtbares ereignen würde ...

Ich wartete auf den nächsten Zug aus Paris. Sie kam an und bestand darauf, sofort nach Merlinville weiterzureisen. Mit allen mir zu Gebote stehenden Mitteln suchte ich sie davon abzubringen, doch umsonst. Sie war auf das äußerste erregt und fest entschlossen,, ihren eigenen Weg zu gehen. Nun, ich wusch meine Hände in Unschuld. Ich hatte getan, was ich konnte! Es war spät geworden. Ich begab mich in ein Hotel, Bella brach nach Merlinville auf. Ich konnte das Gefühl nicht loswerden, das in Büchern als ,drohendes Unheil' bezeichnet wird.

Der nächste Tag kam - doch keine Bella. Sie hatte eine Zeit festgesetzt, zu der wir uns im Hotel treffen sollten, doch sie hielt sie nicht ein. Den ganzen Tag kam kein Lebenszeichen von ihr. Ich wurde immer ängstlicher. Dann erschienen die Abendblätter mit der Nachricht.

Es war grauenhaft! Ich war natürlich nicht ganz sicher -aber ich hatte furchtbare Angst. Ich stellte mir vor, daß Bella Vater Renauld getroffen habe, daß sie ihm von sich und Jack erzählte, worauf er sie beleidigte oder sonst etwas Ähnliches tat. Wir sind beide schrecklich jähzornig.

Dann kam die Geschichte mit den maskierten Männern auf, und mir wurde leichter ums Herz. Aber noch immer quälte es mich, daß Bella unsere Verabredung nicht eingehalten hatte. Am nächsten Morgen ertrug ich es nicht länger, ich mußte hingehen und sehen, was sich tun ließ. Und dann traf ich mit Ihnen zusammen. Das ist Ihnen schon bekannt ...

Als ich sah, wie sehr der Ermordete Jack glich, und daß er Jacks gestreiften Mantel trug, da wußte ich alles. Und dann -ja, da war noch das verräterische Papiermesser - dieses böse, kleine Ding, das Jack Bella geschenkt hatte!

Sicherlich trug es wohl Fingerabdrücke. Ich fürchte, es gelingt mir nicht. Ihnen das hilflose Entsetzen zu schildern, das mich in jenem Augenblick befiel. Nur eines fühlte ich deutlich - ich mußte zu dem Dolch kommen und schnell mit ihm fortlaufen, ehe sein Fehlen bemerkt wurde. Ich täuschte Ohnmacht vor, und während Sie fortgingen, um Wasser zu holen, nahm ich das Ding und barg es in meiner Tasche.

Ich sagte Ihnen, daß ich im Hotel du Phare wohne, aber tatsächlich reiste ich schnurstracks nach Calais und mit dem nächsten Schiff von dort nach England. Inmitten des Kanals warf ich den fluchbeladenen kleinen Dolch ins Meer. Dann glaubte ich endlich wieder freier atmen zu können.

Ich traf Bella in London und berichtete, was ich getan hatte, ich meinte, daß sie sich sicher fühlen könne. Da starrte sie mich an und fing zu lachen an ... und lachte ... lachte, es war entsetzlich, dieses Lachen zu hören! Ich hatte das Gefühl, daß Arbeit momentan das beste sei. Sie würde den Verstand verlieren, wenn sie Zeit hätte, ihrer Tat nachzugrübeln. Zum Glück bekamen wir sofort ein Engagement.

An jenem Abend erblickte ich dann Sie und Ihren Freund im Publikum ... Ich war wie toll. Sie mußten Verdacht geschöpft haben, sonst hätten Sie uns nicht nachgespürt. Ich war auf das Schlimmste gefaßt und folgte Ihnen. Ich war verzweifelt. Und dann, ehe ich Zeit hatte, etwas zu sagen, wurde mir klar, daß Sie mich verdächtigten und nicht Bella! Oder eigentlich, daß Sie mich für Bella hielten, da ich den Dolch entwendet hatte.

Ich wünschte, mein Liebster, Du wüßtest, wie es in jenem Augenblick in mir aussah. Vielleicht verziehest Du mir dann ... Ich war so furchtbar entsetzt, so verwirrt, so verzweifelt ... Alles, was ich begriff, war, daß Du versuchen wolltest, mich zu retten - ich wußte nicht, ob Du gewillt warst, ihr zu helfen ... ich hielt es für unwahrscheinlich - das war ja nicht dasselbe! Und ich konnte es nicht riskieren! Bella ist meine Zwillingsschwester - ich mußte mein möglichstes für sie wagen. So log ich weiter. Ich hielt mich für so gemein - ich komme mir noch jetzt so vor ... Das ist alles - es ist aber auch reichlich genug, werden Sie vermutlich sagen. Ich hätte Ihnen vertrauen sollen ... Hätte ich nur Vertrauen gehabt -!

Sobald die Nachricht von Jack Renaulds Verhaftung in der Zeitung stand, war es aus. Bella wartete nicht einmal die Entwicklung der Dinge ab ...

Ich bin sehr müde. Ich kann nicht weiterschreiben.«

Sie hatte begonnen »Cinderella« zu unterschreiben, aber das war durchgestrichen und statt dessen stand: »Dulcie Duveen«.

Es war eine schlecht geschriebene, fehlerhafte Epistel -aber ich bewahre sie noch heutigen Tages auf.

Poirot war dabei, als ich den Brief las. Die Blätter entfielen meiner Hand, und ich sah zu ihm hinüber.

»Wußtest du die ganze Zeit über, daß es - die andere war?«

»Ja, mein Freund.«

»Weshalb sagtest du es nicht?«

»Vor allem hielt ich es nicht für möglich, daß dir ein solcher Irrtum widerfahren konnte. Du sahst doch das Bild. Die Schwestern gleichen einander zwar sehr, aber keinesfalls so, daß man sie verwechseln mußte.«

»Aber das blonde Haar?«

»Eine Perücke, um auf der Bühne einen pikanten Gegensatz zu schaffen. Ist es begreiflich, daß bei Zwillingen einer schwarz und einer blond sein sollte?«

»Warum sagtest du mir das alles nicht an jenem Abend in Coventry?«

»Du warst zu hochmütig, mon ami«, sagte Poirot trocken, »und gabst mir keine Gelegenheit dazu.«

»Aber später?«

»Ach später! Vor allem verletzte mich dein mangelndes Zutrauen zu mir. Und dann wollte ich sehen, ob deine Gefühle die Probe der Zeit bestehen würden. Das heißt, ob es bei dir diesmal wirklich Liebe oder nur ein aufflackerndes Strohfeuer war. Ich hätte dich nicht mehr lange in dem Irrtum belassen.«

Ich nickte, sein Ton war herzlich, ich konnte ihm nicht länger grollen. Ich blickte auf die Briefbogen nieder. Plötzlich hob ich sie von der Erde auf und schob sie ihm hin.

»Lies das«, sagte ich. »Ich bitte dich darum.«

Schweigend las er, dann sah er mich an.

»Was quält dich, Hastings?«

Das war ein ganz neuer Klang. Poirots ironische Art schien völlig beiseite gelassen. Ich konnte ihm jetzt offen sagen, was mich drückte.

»Sie sagt nicht - sie sagt nicht - nun sie sagt nicht, ob sie mich mag oder nicht!«

Poirot wendete die Blätter: »Ich glaube, du irrst dich, Hastings.«

»Wo?« rief ich und beugte mich lebhaft vor.

Poirot lächelte: »Sie sagt es dir in jeder Zeile dieses Briefes, mon ami.«

»Aber wo werde ich sie finden? Der Brief nennt keine Adresse. Nur ein französischer Stempel ist darauf, sonst nichts.«

»Reg dich nicht auf! Überlasse das dem alten Poirot. Ich werde sie dir ausfindig machen, sobald ich nur fünf freie Minuten habe!«

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