»Übrigens, Poirot«, sagte ich, als wir die staubige Straße entlangwanderten, »habe ich ein Hühnchen mit dir zu rupfen. Ich gebe zu, du meintest es gut, aber es schickte sich wirklich nicht, hinter meinem Rücken im Hotel du Phare herumzuschnüffeln.« Poirot warf mir einen schnellen Seitenblick zu.
»Woher weißt du denn, daß ich dort war?« erkundigte er sich.
Zu meinem größten Mißvergnügen fühlte ich, wie mir das Blut in die Wangen stieg. »Ich trat im Vorbeigehen ein«, erklärte ich mit so viel Würde, wie ich aufbringen konnte.
Ich fürchtete Poirots Spott, aber zu meiner Erleichterung und ein wenig auch zu meinem Staunen schüttelte er ungewöhnlich ernst den Kopf.
»Ich bitte dich um Verzeihung, falls ich deine Empfindlichkeit irgendwie verletzte. Du wirst bald besser begreifen. Aber glaube mir, ich bin bestrebt, all meine Kräfte auf den Fall zu konzentrieren.«
»Oh, es ist alles in Ordnung«, sagte ich, durch seine Entschuldigung versöhnt. »Ich weiß, du willst das Beste. Aber ich kann mich selbst beaufsichtigen.«
Poirot wollte noch etwas sagen, unterdrückte es aber dann. Bei der Villa angelangt, wählte er den Weg zu der Hütte, in welcher der zweite Leichnam gefunden worden war. Er trat jedoch nicht ein, sondern blieb bei jener Bank stehen, die, wie ich schon erwähnte, einige Schritte davon entfernt stand. Nachdem er sie ein Weilchen betrachtet hatte, schritt er aufmerksam von dort zur Hecke, welche die Grenze zwischen der Villa Genevieve und der Villa Marguerite bildete. Dann ging er wieder zurück und nickte mit dem Kopf. Als er nochmals zur Hecke zurückkam, bog er die Sträucher mit den Händen auseinander.
»Wenn wir Glück haben«, rief er mir über die Schulter zu, »Ist Mademoiselle Marthe im Garten. Ich möchte sie sprechen, würde aber ungern einen formellen Besuch in der Villa Marguerite machen. Ah, alles geht gut, da ist sie. Mademoiselle! Einen Augenblick, bitte.«
Ich hatte mich eben zu ihm gesellt, als Marthe Daubreuil, leicht betroffen, seinem Ruf folgte und zur Hecke trat.
»Nur auf ein Wörtchen, Mademoiselle, wenn Sie erlauben?«
»Gewiß, Monsieur Poirot.«
Trotz ihrer Zustimmung blickten ihre Augen ängstlich. »Mademoiselle, erinnern Sie sich noch, daß Sie mir nachliefen, nachdem ich mit dem Untersuchungsrichter in Ihrem Hause gewesen war? Sie fragten, ob jemand des Verbrechens verdächtigt werde.«
»Und Sie sagten, ja, zwei Chilenen.« Ihre Stimme klang ein wenig atemlos, und sie griff mit der linken Hand verstohlen nach dem Herzen.
»Würden Sie die Frage nochmals an mich richten, Mademoiselle?«
»Wie meinen Sie das?«
»Wenn Sie die Frage nochmals an mich richten würden, fiele die Antwort anders aus. Es wird jemand verdächtigt -aber kein Chilene.«
»Wer denn?« Schwach entrang die Frage sich ihren Lippen.
»Monsieur Jack Renauld.«
»Was?« Das war ein Schrei. »Jack? Unmöglich. Wer wagt es, ihn zu verdächtigen?«
»Giraud.«
»Giraud.« Des Mädchens Gesicht war aschfahl. »Ich fürchte diesen Mann. Er ist grausam. Er wird - er wird -« sie brach ab. Mut und Entschlossenheit sprachen aus ihren Zügen. In diesem Augenblick erkannte ich ihre Kampfnatur. Auch Poirot beobachtete sie gespannt.
»Sie wissen doch natürlich, daß er in der Mordnacht hier war?« fragte er.
»Ja«, gab sie mechanisch zurück. »Er sagte es mir.«
»Es war unklug, die Tatsache verschweigen zu wollen.«
»Ja ja«, entgegnete sie ungeduldig. »Aber wir können unsere Zeit nicht mit Bedauern vergeuden. Wir müssen etwas ausfindig machen, um ihn zu retten. Natürlich ist er unschuldig, aber das genügt einem Manne wie Giraud nicht, der auf seinen Ruhm bedacht ist. Er muß jemanden verhaften, und dieser Jemand wird Jack sein.«
»Die Tatsachen werden gegen ihn sprechen«, sagte Poirot. »Sind Sie sich darüber klar?« .
Sie sah ihm gerade ins Gesicht und sprach die gleichen Worte, die ich schon einmal, im Wohnzimmer ihrer Mutter, von ihr gehört hatte.
»Ich bin kein Kind, Monsieur. Ich kann tapfer sein und den Tatsachen ins Gesicht sehen. Er ist unschuldig, und wir müssen ihn retten.«
Sie sprach voll verzweifelter Energie, und dann schwieg sie und runzelte nachdenklich die Stirn.
»Mademoiselle«, sagte Poirot und betrachtete sie scharf, »gibt es nicht irgend etwas, was Sie uns verheimlichen?«
Sie nickte verwirrt: »Ja, es gibt etwas, aber ich weiß nicht, ob Sie mir Glauben schenken werden - es scheint so sonderbar.«
»Erzählen Sie es uns auf jeden Fall, Mademoiselle.«
»Es handelt sich darum: Monsieur Giraud ließ mich holen, um zu sehen, ob nicht vielleicht ich den Mann dort drinnen identifizieren könne.« Sie wies mit dem Kopf nach dem Schuppen. »Ich konnte es nicht. Wenigstens im Augenblick konnte ich es nicht. Aber seither dachte ich nach -
«
»Und?«
»Es scheint so seltsam, und doch bin ich dessen fast sicher. Es war am Morgen des Tages, an dem Monsieur Renauld ermordet wurde. Ich ging hier im Garten umher, als der Lärm streitender Männerstimmen an mein Ohr drang. Ich bog die Sträucher auseinander und blickte hindurch. Einer der Männer war Monsieur Renauld, der andere war ein Landstreicher, ein furchtbar aussehendes Individuum, in schmutzigen Lumpen. Manchmal sprach er weinerlich, manchmal drohend. Ich vermutete, daß er Geld verlangte, aber in diesem Augenblick rief Mama mich ins Haus, und ich mußte gehen. Das ist alles, nur - ich glaube bestimmt, daß der Landstreicher und der Mann im Schuppen ein und derselbe sind.«
Poirot rief erstaunt: »Aber warum sagten Sie das nicht gleich, Mademoiselle?«
»Weil mir zuerst nur schien, als käme mir das Gesicht irgendwie bekannt vor. Der Mann war anders gekleidet und gehörte sicherlich einer besseren Gesellschaftsklasse an. Aber sagen Sie, Monsieur Poirot, ist es möglich, daß dieser Landstreicher Monsieur Renauld überfiel und ihn tötete und ihn dann seiner Kleider und seines Geldes beraubte?«
»Das wäre eine Idee, Mademoiselle«, sagte Poirot langsam. »Es läßt allerdings noch viele Fragen offen, aber es wäre sicher eine Idee. Ich will darüber nachdenken.«
Eine Stimme rief vom Hause her.
»Mama«, flüsterte Marthe. »Nun muß ich gehen.« Und sie schlüpfte zwischen den Bäumen hindurch.
»Komm«, sagte Poirot, nahm mich beim Arm, und wir steuerten auf die Villa zu.
»Was denkst du wirklich?« fragte ich neugierig. »War das eine wahre Erzählung oder eine Erfindung des Mädchens, um den Verdacht von ihrem Liebsten abzulenken?«
»Es ist eine merkwürdige Geschichte«, sagte Poirot, »aber ich glaube, daß sie vollkommen wahr ist. Zufällig erfuhren wir noch in anderer Hinsicht durch Mademoiselle Marthe die Wahrheit - während, nebenbei gesagt, Jack Renauld log. Bemerktest du sein Zögern, als ich ihn fragte, ob er Marthe Daubreuil in jener Nacht gesehen habe? Er zögerte und bejahte dann. Ich hatte gleich den Verdacht, daß er log. Es war mir wichtig, Marthe Daubreuil zu sprechen, ehe er sie instruieren konnte. Vier kleine Worte gaben mir die Auskunft, die ich brauchte. Als ich sie fragte, ob sie wisse, daß Jack Renauld in jener Nacht hier war, antwortete sie, ,er sagte es mir'. Nun, Hastings, was tat Jack Renauld wirklich an jenem ereignisreichen Abend hier, wenn er Mademoiselle Marthe nicht besuchte?«
Die Frage überraschte mich.
»Aber Poirot«, rief ich bestürzt, »du wirst doch nicht am Ende glauben, daß ein Mensch wie Jack seinen eigenen Vater ermordet.«
»Mein Freund«, sagte Poirot, »du verharrst weiter in unglaublicher Sentimentalität! Ich sah Mütter, die ihre kleinen Kinder mordeten, um sich in den Genuß einer Versicherungssumme zu setzen! Demnach kann man alles glauben.«
»Und der Beweggrund?«
»Geld selbstverständlich. Vergiß nicht, daß Jack Renauld annahm, er werde nach seines Vaters Tod in den Besitz von dessen halbem Vermögen gelangen.«
»Aber der Landstreicher, was hat der dabei zu tun?«
Poirot zuckte die Achseln.
»Giraud würde sagen, er war ein Mitschuldiger - ein Apache, der dem jungen Renauld half, das Verbrechen zu begehen, und der dann gelegentlich aus dem Wege geräumt wurde.«
»Aber das Haar auf dem Dolch? Das Frauenhaar?«
»Ah«, sagte Poirot und lächelte behaglich. »Das ist die Krone von Girauds kleinen Scherzen. Ihm zufolge ist es gar kein Frauenhaar. Denk daran, daß viele junge Leute ihr Haar von der Stirn bis in den Nacken mit Pomade oder Haarwasser straff zurückbürsten, damit es glatt liegt. Folglich sind einige dieser Haare bemerkenswert lang.«
»Und du glaubst das auch?«
»Nein«, sagte Poirot mit merkwürdigem Lächeln. »Denn ich weiß, daß dies Haar von einer Frau ist - und mehr noch -von welcher Frau!«
»Madame Daubreuil«, sagte ich zuversichtlich.
»Vielleicht«, meinte Poirot abwartend und sah mich spöttisch an.
»Was werden wir jetzt beginnen?« fragte ich, als wir die Halle der Villa Genevieve betraten.
»Ich will Jack Renaulds Habseligkeiten durchsuchen. Deshalb schaffte ich ihn für einige Stunden aus dem Wege.«
»Aber wird Giraud nicht schon alles durchwühlt haben?« fragte ich argwöhnisch.
»Gewiß. Er baut einen Fall, wie der Biber einen Damm, mit unermüdlichem Fleiß. Aber er wird nicht jenen Dingen Beachtung geschenkt haben, die ich suche. Aller Wahrscheinlichkeit nach hätte er auch deren Bedeutung nicht erfaßt, wenn sie ihm ins Gesicht gesprungen wären.«
Ordnungsliebend und systematisch öffnete Poirot eine Lade nach der anderen, prüfte deren Inhalt und legte alles wieder genau an seinen Platz. Es war eine eigentümlich langweilige und uninteressante Beschäftigung. Poirot arbeitete sich durch Kragen, Pyjamas und Socken durch. Ein Geräusch von draußen lockte mich ans Fenster.
Sofort fuhr ich wie elektrisiert herum.
»Poirot«, schrie ich, »eben fuhr ein Wagen vor. Giraud sitzt darin mit Jack Renauld und zwei Gendarmen.«
»Donnerwetter!« brummte Poirot. »Konnte Giraud, dieses Vieh, nicht warten? Ich werde keine Zeit mehr haben, die Sachen, wie es sich gehört, in die letzte Lade einzuräumen. Wir müssen uns beeilen.«
Unordentlich warf er alles zu Boden, es waren hauptsächlich Krawatten und Taschentücher. Plötzlich stürzte er sich mit einem Siegesruf auf ein kleines, rechteckiges Stück Pappendeckel, offenbar eine Fotografie. Er versenkte sie in seine Tasche, warf alles kunterbunt wieder in die Lade zurück, packte mich am Arm und lief mit mir die Treppe hinab. In der Halle stand Giraud und betrachtete seinen Häftling.
»Guten Tag, Monsieur Giraud«, sagte Poirot. »Was ist denn hier geschehen?«
Giraud deutete auf Jack.
»Er wagte einen Fluchtversuch, aber ich war scharf hinter ihm her. Er wurde verhaftet wegen Verdacht des Mordes, begangen an seinem Vater, Monsieur Paul Renauld.«
Poirot wandte sich unvermittelt an den jungen Mann, der schlaff, mit aschfahlem Gesicht, an der Tür lehnte.
»Was sagen Sie dazu?«
Jack Renauld starrte unbeweglich auf ihn.
»Nichts«, war seine Antwort.