Wir kreuzten am Abend mit dem Schiff von England hinüber und trafen des Morgens in St. Omer ein, wohin Jack Renauld gebracht worden war. Poirot begab sich unverzüglich zu M. Hautet. Da er keinen Einspruch dagegen erhob, daß ich ihn begleitete, blieb ich bei ihm.
Nach Formalitäten und Verhandlungen verschiedenster Art wurden wir in das Zimmer des Untersuchungsrichters geführt. Er begrüßte uns herzlich.
»Ich hörte, Sie seien nach England zurückgekehrt, Monsieur Poirot. Ich freue mich, daß das Gerücht sich nicht bestätigt.«
»Es ist richtig, daß ich hinüberfuhr, Monsieur, aber nur zu einem flüchtigen Besuch. Eine Nebenfrage, die aber, wie mir schien, von großer Wichtigkeit für die Untersuchungen sein konnte.«
»Und war sie es -?«
Poirot zuckte die Achseln. M. Hautet nickte und seufzte. »Ich fürchte, wir werden uns bescheiden müssen. Giraud hat wohl furchtbare Manieren, aber er ist gewiß begabt! Wenig Aussicht, daß er sich irren könnte!«
»Sie glauben nicht?«
Nun war es an dem Untersuchungsrichter, mit den Achseln zu zucken.
»Also, ehrlich gesprochen - und streng vertraulich selbstverständlich -, können Sie zu einem anderen Schluß gelangen?«
»Ehrlich gesprochen scheint es mir, daß es noch viele dunkle Punkte gibt.«
»Und die sind ... ?«
Doch Poirot ließ sich nicht ausholen.
»Ich habe sie noch nicht zusammengestellt«, bemerkte er. »Es war nur eine allgemeine Bemerkung. Ich mochte den jungen Mann gut leiden und würde tief bedauern, ihn eines so abscheulichen Verbrechens schuldig finden zu müssen. Wie verteidigt er sich übrigens?«
Der Richter runzelte die Stirn.
»Ich kann ihn nicht begreifen. Er scheint unfähig zu sein, sich irgendeine Verteidigung zurechtzulegen. Es war sehr schwer, ihn zur Beantwortung der Fragen zu bewegen. Er beschränkt sich auf beharrliches Leugnen, und darüber hinaus verschanzt er sich hinter hartnäckigstem Schweigen. Ich werde ihn morgen nochmals vernehmen. Vielleicht wäre es Ihnen angenehm, dabei zu sein?«
Wir nahmen die Einladung gerne an.
»Ein verzweifelter Fall!« sagte der Richter seufzend. »Ich habe tiefstes Mitgefühl mit Madame Renauld.«
»Wie geht es ihr?«
»Sie hat das Bewußtsein noch nicht wiedererlangt. Einesteils Ist es aber ein Glück für die arme Frau, da ihr dadurch viel erspart wird. Die Ärzte sagen, es bestehe keine Gefahr, es müsse ihr aber nach Möglichkeit jede Erregung ferngehalten werden bis sie wieder bei Besinnung sei. Wenn ich recht verstehe, hat wohl der Schreck mindestens soviel zu ihrem jetzigen Zustand beigetragen wie der Fall. Es wäre furchtbar, wenn ihr Verstand gelitten hätte; aber es würde mich durchaus nicht wundern - nein, durchaus nicht.«
Monsieur Hautet lehnte sich zurück, schüttelte den Kopf, als ob er traurig, doch zugleich mit Genuß jener düsteren Aussicht entgegensähe.
Darin richtete er sich gerade auf und bemerkte unvermittelt: »Da fällt mir eben ein: Hier habe ich einen Brief für Sie, Monsieur Poirot.« Er durchstöberte seine Papiere. Endlich fand er das Schreiben und händigte es Poirot ein. »Es wurde mir verschlossen zugestellt, mit der Bitte, es an Sie weiterzuleiten«, erklärte er. »Da Sie aber keine Adresse zurückließen, mußte ich davon absehen.«
Neugierig betrachtete Poirot den Brief. In langen, schrägen, fremdartigen Zügen, in ausgesprochener Frauenhandschrift war die Adresse geschrieben. Poirot öffnete den Brief nicht. Er steckte ihn ein und erhob sich.
»Dann auf morgen. Vielen Dank für Ihr Entgegenkommen und Ihre Liebenswürdigkeit.«
»Aber bitte sehr. Ich stehe immer zu Ihrer Verfügung. Diese jungen Detektive, Schule Giraud, gleichen einander alle
- es sind unhöfliche, spöttische Gesellen. Sie wollen nicht einsehen, daß ein Untersuchungsrichter meiner - hm -Erfahrung einen gewissen Scharfsinn haben muß. Die Höflichkeit der alten Schule sagt mir unvergleichlich besser zu. Deshalb, lieber Freund, verfügen Sie über mich, wie es Ihnen beliebt. Wir verstehen doch auch etwas davon, wir beide
- nicht?«
Und M. Hautet verabschiedete sich herzlich lachend von uns. Er war von sich und uns begeistert. Es tut mir leid, berichten zu müssen, daß Poirots erste Bemerkung war, als wir den Gang entlangschritten: »Ein fideler alter Trottel! Von direkt mitleiderregender Dummheit!«
Eben als wir das Gebäude verließen, kam uns Giraud entgegen, der, eingebildeter denn je zuvor, mit sich äußerst zufrieden schien.
»Aha, Monsieur Poirot«, rief er. »Sie sind also wieder aus England zurück?«
»Wie Sie sehen«, sagte Poirot.
»Ich denke, die ganze Angelegenheit steht kurz vor ihrem Abschluß.«
»Ich bin ganz Ihrer Ansicht, Monsieur Giraud.«
Poirot sprach mit gedämpfter Stimme. Seine betrübte Miene schien den anderen zu entzücken.
»Oh, über diese wässerigen Verbrecher! Keine Spur von Selbstverteidigung! Es ist zu merkwürdig!«
»So merkwürdig, daß es zu denken gibt, nicht wahr?« warf Poirot sanft dazwischen.
Aber Giraud hörte nicht einmal. Er wirbelte nervös seinen Spazierstock. »Guten Tag denn, Monsieur Poirot. Ich freue mich, daß Sie sich schließlich mit der Schuld des jungen Renauld abgefunden haben.«
»Pardon, ich habe mich durchaus nicht abgefunden. Jack Renauld ist unschuldig.«
Giraud starrte einen Augenblick wortlos, dann brach er in helles Lachen aus, schlug sich bedeutungsvoll an die Stirn und bemerkte kurz: »Verrückt!«
Poirot richtete sich auf. Gefährlich blitzten seine Augen: »Monsieur Giraud, während der ganzen Dauer unserer gemeinsamen Arbeit hatten Sie es darauf angelegt, mich zu beleidigen. Sie verdienen eine Lehre. Ich bin bereit, um 500 Francs zu wetten, daß ich den Mörder Monsieur Renaulds vor Ihnen finden werde. Einverstanden?«
Giraud sah ihn hilflos an und flüsterte nochmals: »Verrückt.«
»Nun also«, drängte Poirot, »ist es abgemacht?«
»Ich habe kein Verlangen, Sie Ihres Geldes zu berauben.«
»Seien Sie beruhigt - es wird nicht dazu kommen!«
»Oh, dann bin ich einverstanden. Sie sprechen davon, daß meine Art Sie beleidigt hätte! Nun, die Ihre hat mich des öfteren gehörig geärgert.«
»Ich bin entzückt, das zu hören«, sagte Poirot. »Guten Morgen, Monsieur Giraud. Komm, Hastings.«
Als wir die Straße hinabgingen, sprach ich kein Wort. Mein Herz war schwer. Poirot hatte seine Absichten nur zu deutlich durchblicken lassen. Mehr als je zweifelte ich, daß es mir möglich sein würde, Bella vor den Folgen ihrer Tat zu schützen. Das unglückselige Zusammentreffen mit Giraud hatte Poirot gereizt und zur Aufbietung aller Kraft angespornt.
Plötzlich fühlte ich eine Hand auf meiner Schulter, und als ich mich umwandte, stand Gabriel Stonor vor mir. Wir blieben stehen und begrüßten ihn, und er machte sich erbötig, uns ins Hotel zurückzubegleiten.
»Was tun Sie hier, Monsieur Stonor?« forschte Poirot. »Man muß zu seinen Freunden stehen«, gab der andere trocken zurück. »Besonders wenn sie falsch beschuldigt werden.«
»So glauben Sie also nicht, daß Jack Renauld das Verbrechen beging?« fragte ich begierig.
»Natürlich glaube ich es nicht. Ich kenne den Burschen. Ich gebe zu, daß ein oder zwei Punkte dieser Geschichte mich vollständig überrumpelten, aber trotz seiner tollen Stellungnahme werde ich nie glauben, daß Jack Renauld ein Mörder ist.«
Das machte mir den Sekretär sympathisch. Seine Worte nahmen eine geheime Last von meiner Seele.
»Ich zweifle nicht daran, daß viele wie Sie empfinden«, rief ich. »Es ist wirklich lächerlich wenig Belastungsmaterial gegen ihn vorhanden. Ich möchte behaupten, daß er bestimmt freigesprochen wird - bestimmt.«
Jedoch Stonors Antwort fiel nicht ganz so aus, wie ich wünschte. »Ich gäbe viel darum, könnte ich Ihre Ansicht teilen«, sagte er ernst. Dann wandte er sich an Poirot. »Was halten Sie davon, Monsieur?«
»Ich denke, daß die Sache für ihn sehr ungünstig steht«, sagte Poirot ruhig.
»Glauben Sie an seine Schuld?« fragte Stonor scharf.
»Nein. Aber ich meine, es dürfte ihm schwerfallen, seine Unschuld zu beweisen.«
»Er benimmt sich verdammt wunderlich«, murmelte Stonor. »Allerdings bin ich überzeugt, daß viel mehr hinter der Sache steckt, als auf den ersten Blick zu sehen ist. Giraud ist nicht der richtige Mann, denn er ist ein Außenstehender, aber das Ganze ist eine verdammt merkwürdige Angelegenheit. Er macht so viel unnütze Worte. Wenn Madame Renauld etwas vertuschen will, werde ich mich nach ihr richten. Es ist ihre Sache, und ich achte ihren Scharfsinn viel zu sehr, um meine eigenen Ansichten aufzudrängen, aber ich kann mir Jacks Haltung nicht erklären. Man ist versucht anzunehmen, daß er für schuldig gehalten werden will.«
»Aber das ist lächerlich«, warf ich ein. »Erstens der -« Ich hielt inne, da ich nicht wußte, inwiefern Poirot meine Einmischung billigen würde. Ich fuhr fort, wählte aber sorgfältig die Worte. »Wir wissen, daß der Dolch an jenem Abend nicht in Jacks Händen sein konnte. Madame Renauld weiß es.«
»Richtig«, sagte Stonor. »Nach ihrer Genesung wird sie sicher das und noch mehr sagen. Nun muß ich Sie aber verlassen.«
»Einen Augenblick.« Poirot hielt ihn zurück. »Können Sie es einrichten, daß ich benachrichtigt werde, wenn Madame Renauld wieder zur Besinnung kommt?«
»Gewiß. Das ist leicht zu machen.«
»Der Hinweis auf den Dolch ist gut, Poirot«, betonte ich, als, wir die Treppen hinaufstiegen. »Ich wollte vor Stonor nicht so deutlich werden.«
»Das war sehr recht von dir. Wir wollen unsere Weisheit lieber so lange wie möglich für uns behalten. Was aber den Dolch betrifft, wird dieser Hinweis Jack Renauld kaum herausreißen. Entsinnst du dich, daß ich heute früh vor unserer Abreise aus London für eine Stunde fort war?«
»Ja.«
»Nun, ich war bemüht, jene Fabrik ausfindig zu machen, in der Jack Renauld seine Andenken anfertigen ließ. Es war nicht sehr schwer. Nun, Hastings, ich fürchte, die Sache mit dem Dolch wird uns nicht helfen, ihn der Strafe zu entziehen.«
»Dazu darf es nicht kommen«, rief ich gequält. Poirot schüttelte unsicher den Kopf.
»Du wirst ihn retten«, rief ich bestürzt.
»Machtest du es mir nicht unmöglich, mein Freund?«
»Du mußt einen Ausweg finden«, murrte ich.
»Ah, Sapristi! Du verlangst ja Wunder von mir! Nein -kein Wort weiter. Sehen wir lieber nach, was da drin steht.«
Er zog den Brief aus der Brusttasche.
Während des Lesens verzog er das Gesicht, dann reichte er mir das dünne Briefblatt.
»Auch andere Frauen leiden, Hastings!«
Die Schriftzüge waren verschwommen, und der Brief schien in großer Erregung zu Papier gebracht.
»Lieber M. Poirot!
Ich bitte Sie, mir nach Erhalt dieses Briefes zu Hilfe zu kommen. Ich weiß niemanden, an den ich mich wenden könnte, und Jack muß gerettet werden, koste es, was es wolle. Ich flehe auf meinen Knien, bitte, helfen Sie uns.
Marthe Daubreuil.«
Gerührt gab ich den Brief zurück.
»Wirst du hingehen?«
»Sofort. Wir nehmen ein Auto.«
Eine halbe Stunde später betraten wir die Villa Marguerite. Marthe empfing uns an der Tür und geleitete Poirot ins Haus, wobei sie eine seiner Hände mit ihren beiden umklammert hielt.
»Oh, Sie sind gekommen - wie lieb von Ihnen! Ich war der Verzweiflung nahe, da ich nicht wußte, was zu tun sei. Man will mir nicht einmal erlauben, ihn im Gefängnis zu besuchen. Ich leide fürchterlich, ich bin fast toll. Ist das richtig, was sie sagen, daß er seine Schuld gar nicht leugne? Das ist ja Wahnsinn. Es ist ganz ausgeschlossen, daß er es tat! Nicht einen Augenblick glaube ich daran.«
»Auch ich glaube nicht daran, Mademoiselle«, sagte Poirot ernst.
»Aber warum spricht er dann nicht? Ich kann es nicht begreifen.«
»Vielleicht will er jemand schützen«, deutete Poirot an, indem er sie beobachtete.
Marthe blickte finster drein.
»Jemanden schützen? Meinen Sie seine Mutter? Ah, ich verdächtigte sie von Anfang an. Wer erbt das ganze, große Vermögen? Sie. Witwenkleider anlegen und Trauer heucheln ist nicht schwer. Und man sagt, als er verhaftet wurde, sei sie so hingefallen!« Sie machte eine dramatische Bewegung. »Und Monsieur Stonor, der Sekretär, war ihr ganz sicher behilflich. Sie haben es dick hinter den Ohren, die beiden. Zwar ist sie älter als er - aber was fragt ein Mann danach -wenn die Frau reich ist.« Bitterkeit klang aus ihrer Stimme.
»Stonor war in England«, warf ich ein.
»So sagt er - aber wer weiß es?«
»Mademoiselle«, sagte Poirot ruhig, »wenn wir gemeinsam vorgehen sollen, Sie und ich, muß völlige Klarheit zwischen uns sein. Vor allem muß ich eine Frage an Sie richten.«
»Bitte, Monsieur.«
»Ist Ihnen der wirkliche Name Ihrer Mutter bekannt?«
Marthe starrte ihn einen Augenblick an, dann barg sie den Kopf in den Händen und brach in Tränen aus.
»Na, na«, sagte Poirot und klopfte ihr auf die Schulter. »Beruhigen Sie sich, Kleine, ich sehe, daß Sie es wissen. Nun eine zweite Frage: Wußten Sie, wer Monsieur Renauld war?«
»Monsieur Renauld?« Sie blickte Poirot verwundert an.
»Ah, ich sehe, das wissen Sie nicht. Nun hören Sie mir aufmerksam zu.«
Schritt für Schritt ging er den Fall durch, so wie er es mir gegenüber am Tag unserer Abreise nach England getan hatte. Marthe lauschte wie gebannt. Als er geendet hatte, atmete sie schwer.
»Sie sind ja wundervoll - bewundernswert! Sie sind der größte Detektiv der Welt.«
Schnell schlüpfte sie von ihrem Stuhl und kniete mit echt französischem Überschwang vor ihm nieder.
»Retten Sie ihn Monsieur«, rief sie. »Ich liebe ihn so sehr. Oh, retten Sie ihn - retten Sie ihn - retten Sie ihn!«