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Und Poirot fuhr fort: »Es erscheint dir seltsam, mon ami, daß ein Mann seinen eigenen Tod vorbereiten könne? So seltsam, daß du es vorziehst, die Wahrheit als zu phantastisch zu verwerfen, um dich an eine Geschichte zu klammern, die in Wirklichkeit noch zehnmal unwahrscheinlicher ist. Ja, Monsieur Renauld entwarf einen Plan für seinen Tod, mit einer Einschränkung aber, die dir vielleicht entgeht - daß er beabsichtigte, am Leben zu bleiben.«

Verblüfft schüttelte ich den Kopf.

»Sieh doch, es ist wirklich ganz einfach«, sagte Poirot ruhig. »Das Verbrechen, das Monsieur Renauld ausdachte, bedurfte keines Mörders, wie ich dir schon sagte, sondern nur eines Leichnams. Lassen wir die Ereignisse nochmals an uns vorüberziehen, aber betrachten wir sie diesmal von einem anderen Gesichtspunkt.

Georges Conneau flieht vor der Gerechtigkeit nach Kanada. Dort heiratet er unter falschem Namen und erwirbt schließlich in Südamerika ein beträchtliches Vermögen, aber die Sehnsucht nach der Heimat läßt ihn nicht ruhen. Zwanzig Jahre sind indessen verflossen, sein Äußeres hat sich naturgemäß stark verändert, außerdem ist es unwahrscheinlich, daß man in einem sozial so hochstehenden Manne einen ehemaligen Verbrecher vermuten könnte. Er hält es also für völlig ungefährlich, zurückzukehren. Er nimmt ständigen Aufenthalt in England, mit der Absicht, die Sommermonate in Frankreich zu verbringen. Doch der böse Zufall oder jene rätselhafte Gerechtigkeit, die bestimmend in der Menschen Schicksal eingreift und die nicht zuläßt, daß sie sich den Folgen ihrer Handlungen entziehen, führt ihn nach Merlinville. Gerade dort, an diesem einzigen Punkt des großen, weiten Frankreichs lebt der einzige Mensch, der ihn erkennen kann.

Dies ist natürlich eine Goldquelle für Madame Daubreuil, und sie verschmäht nicht, aus dieser Goldquelle Vorteil zu schöpfen. Er ist ihr hilflos in die Hand gegeben. Sie nützt die Situation nach Kräften aus. Und dann erfolgt das Unabwendbare. Jack Renauld verliebt sich in das schöne Mädchen, das er fast täglich sieht, und will es heiraten. Dies regt seinen Vater auf. Um jeden Preis will er die Verbindung seines Sohnes mit der Tochter jenes schlechten Weibes verhüten. Jack Renauld kennt die Vergangenheit seines Vaters nicht, doch Madame Renauld weiß alles. Sie ist eine Frau von besonderer Charakterstärke und ihrem Gatten leidenschaftlich zugetan. Sie beraten miteinander. Renauld sieht nur einen Ausweg - den Tod. Er muß scheinbar sterben, in Wirklichkeit aber in ein fernes Land flüchten, wo er nochmals unter anderem Namen von neuem beginnen will, wohin Madame Renauld ihm folgen soll, nachdem sie eine Zeitlang die Witwenrolle gespielt hat. Es ist sehr wesentlich, daß sie über das Geld zu verfügen hat, daher ändert er sein Testament. Wie sie sich ursprünglich mit dem Leichnam aus der Affäre ziehen wollten, weiß ich nicht - vielleicht mit Hilfe eines medizinischen Skelettes und eines Feuers - oder sonst irgendwie, aber lange, ehe ihre Pläne gereift waren, ereignete sich ein Zwischenfall, der ihnen in die Hände arbeitet. Zufällig gerät ein Landstreicher, ein gewalttätiger Raufbold, in den Garten. Es kommt zu einem Kampf, Renauld bemüht sich, ihn zu verjagen, und plötzlich sinkt der Landstreicher zu Boden, von epileptischem Krampf befallen. Und stirbt. Renauld ruft seine Frau herbei. Gemeinsam schleppen sie den Toten in den Schuppen - wie wir wissen, hatte sich der Vorfall im Freien abgespielt - und sie merken, welch wunderbar günstige Gelegenheit sich ihnen bietet. Der Mann sieht Renauld durchaus nicht ähnlich, aber er ist in mittleren Jahren, ein alltäglicher französischer Typ. Das genügt.

Ich stelle mir etwa vor, daß sie auf jener Bank dort saßen, außerhalb der Hörweite des Hauses, und die Angelegenheit besprachen. Ihr Plan war bald gefaßt. Die Identifizierung mußte sich allein auf Madame Renaulds Zeugnis stützen. Jack Renauld und der Chauffeur, der seit zwei Jahren in Renaulds Diensten stand, mußten entfernt werden. Es war unwahrscheinlich, daß die weibliche Dienerschaft in die Nähe der Leiche ging, und für jeden Fall beabsichtigte Renauld, Maßnahmen zu treffen, um jene hinters Licht zu führen, die keinen guten Blick für Einzelheiten haben. Masters wurde weggeschickt, ein Telegramm an Jack abgesandt, Buenos Aires gewählt, um der Geschichte, für die Renauld sich entschlossen hatte, Glaubwürdigkeit zu verleihen. Da er von mir als einem ziemlich bekannten Detektiv gehört hatte, richtete er diesen Hilferuf an mich; er war sich wohl bewußt, daß bei meiner Ankunft die Vorweisung des Briefes einen tiefen Eindruck auf den Untersuchungsrichter machen würde -was auch zutraf.

Sie kleideten den toten Landstreicher in einen Anzug Renaulds und ließen seine zerlumpten Kleidungsstücke bei der Tür des Schuppens zurück, da sie es nicht wagten, sie mit sich ins Haus zu nehmen. Und dann, um der Erzählung, die Madame Renauld vorzubringen hatte, Glaubwürdigkeit zu verleihen, stießen sie ihm noch den Dolch ins Herz. In der folgenden Nacht wollte Renauld erst seine Frau fesseln und knebeln und dann mit einem Spaten ein Grab in jenem besonderen Teil des Grundes graben, wo, wie er wußte, ein -wie nennt ihr es doch? - Bunker gemacht werden sollte. Es war von großer Wichtigkeit, daß die Leiche gefunden würde -Madame Daubreuil durfte keinen Verdacht schöpfen. Andererseits verringerte sich die Gefahr bei der Identifizierung, wenn unterdessen einige Zeit verstrichen war. Dann wollte Renauld die Lumpen des Landstreichers anlegen, zum Bahnhof eilen und mit dem Zug um 12.10 Uhr unbemerkt entkommen. Da angenommen werden sollte, daß das Verbrechen zwei Stunden später stattfand, konnte keinerlei Verdacht auf ihn fallen.

Du siehst nun, wie sehr ihn der ungelegene Besuch jener Bell beunruhigte. Jeder Augenblick Verzögerung konnte seinen Plänen verhängnisvoll werden. Doch er entledigte sich ihrer so bald als möglich. Und dann ans Werk! Er läßt den Haupteingang halb offen, um den Eindruck zu erwecken, daß die Mörder auf diesem Wege das Haus verließen. Er fesselt und knebelt Madame Renauld, verbessert aber den vor zwanzig Jahren begangenen Fehler, wo die zu locker gebundenen Stricke den Verdacht der Mittäterschaft erregt hatten, instruiert sie im wesentlichen mit der gleichen Erzählung, die er damals erfunden hatte, wodurch er unbewußt mangelhafte Originalität beweist. Die Nacht ist kalt, und er zieht einen Mantel über seine Unterkleider, in der Absicht, ihn zu dem Toten in das Grab zu legen. Er verläßt das Haus durch das Fenster und glättet sorgfältig das Blumenbeet, wodurch er den sichersten Beweis gegen sich erbringt. Er begibt sich zu den einsamen Golfplätzen und gräbt - und dann -«

»Nun?«

»Und dann«, sagte Poirot ernst, »erreichte ihn die Gerechtigkeit, der er so lange entgangen war. Eine unbekannte Hand sticht ihn in den Rücken ... Nun, Hastings, verstehst du, was ich meinte, als ich von zwei Verbrechen sprach. Das erste Verbrechen, jenes Verbrechen, das Monsieur Giraud in seinem Hochmut uns zu untersuchen überließ (ah, welch grenzenlosen Irrtum beging er da! Wie verkannte er Hercule Poirot!), dies Verbrechen ist aufgedeckt. Aber dahinter liegt ein tieferes Rätsel. Und es wird schwer sein, es zu lösen - da der Verbrecher in seiner Klugheit sich darauf beschränkte, die Pläne M. Renaulds zu verwenden. Es galt, ein ganz verblüffendes, verwirrendes Geheimnis zu lösen. Ein junger Mann wie Giraud, der in Psychologie kein Vertrauen setzt, mußte fast sicher unterliegen.«

»Du bist großartig, Poirot«, sagte ich voll Bewunderung.

»Herrlich wie kein Zweiter! Auf der ganzen Welt hättest nur du das zustande gebracht!«

Ich glaube, mein Lob freute ihn. Denn zum erstenmal im Leben schien er verlegen.

»Du verachtest also nicht länger mehr den armen, alten Papa Poirot? Du kündigst dem menschlichen Spürhund die Treue?«

Diese Bezeichnung für Giraud entlockte mir immer ein Lächeln.

»Eigentlich ja. Du hast ihn restlos besiegt.«

»Der arme Giraud«, sagte Poirot und versuchte erfolglos bescheiden dreinzuschauen, »daran ist nur seine Dummheit schuld. Er hatte ein- oder zweimal Pech. Zum Beispiel das dunkle Haar, das um den Dolch geschlungen war. Das wenigste, was man darüber sagen kann, ist, daß es irreführte.«

»Um die Wahrheit zu gestehen, Poirot«, sagte ich langsam, »ich weiß noch immer nicht, wessen Haar es war?«

»Natürlich von Madame Renauld. Daher kam das Pech. Ihr ursprünglich dunkles Haar ist schon fast völlig silbergrau. Ebensogut hätte ein graues Haar gefunden werden können -und dann wäre es Giraud trotz der denkbar größten Mühe nicht möglich gewesen, sich einzureden, daß dies Haar vom Kopfe Jack Renaulds komme! Aber es ist immer das gleiche. Immer werden Tatsachen verzerrt, um sie der Theorie anzupassen. Fand Giraud nicht zweierlei Fußspuren in der Hütte, die Spuren eines Mannes und einer Frau? Und wie paßt das in seine Rekonstruktion des Falles? Ich will es dir sagen. Es paßt nicht hinein, daher werden wir nichts mehr davon hören! Ich frage dich, nennt man das systematisch arbeiten? Der große Giraud! Der große Giraud ist nichts anderes als ein Luftballon, von seiner eigenen Wichtigkeit geschwellt. Aber ich, Hercule Poirot, den er verachtet, werde die kleine Nadel sein, die den großen Ballon durchsticht ... so!« Und er machte die begleitende Geste dazu.

Dann fuhr er ruhiger fort: »Madame Renauld wird gewiß sprechen, wenn sie sich erholt hat. Die Möglichkeit, daß ihr Sohn des Mordes bezichtigt werden könnte, kam ihr niemals in den Sinn. Wie hätte das ihr auch einfallen sollen, da sie ihn sicher auf See, an Bord der ,Anzona' wähnte. Ah, welch eine Frau ist das, Hastings! Welche Kraft, welche Selbstbeherrschung! Nur einmal beging sie einen Fehler. Bei seiner unverhofften Rückkehr: Jetzt - ist es alles eins.' Und niemandem fiel die Bedeutung dieser Worte auf. Welche schreckliche Rolle war ihr zugefallen, der armen Frau. Stelle dir ihr Entsetzen vor, als sie ging, den Leichnam zu identifizieren, und statt des erwarteten untergeschobenen den wirklich entseelten Körper ihres Gatten vor sich sah, des Gatten, den sie schon meilenweit fern glaubte. Kein Wunder, daß sie ohnmächtig wurde! Aber seither ... wie fest entschlossen spielte sie trotz ihres Schmerzes und ihrer Verzweiflung ihre Rolle weiter, und welche Qualen muß sie getragen haben! Sie kann kein Wort sagen, um uns auf die Spur der wirklichen Mörder zu weisen. Um ihres Sohnes willen darf niemand wissen, daß Paul Renauld kein anderer war als Georges Conneau, der Verbrecher. Schließlich, und als bittersten Schlag, gab sie öffentlich zu, Madame Daubreuil wäre ihres Gatten Geliebte gewesen - denn eine Anspielung auf Erpressung hätte ihrem Geheimnis verhängnisvoll werden können. Wie klug wußte sie dem Untersuchungsrichter zu begegnen, als er sie fragte, ob es in dem Leben ihres Mannes kein Geheimnis gegeben habe.

»Nichts so Romantisches, denke ich, Monsieur.« Vollendet waren ihr nachsichtiger Tonfall, der Anflug trauriger Ironie. Sogleich kam sich Hautet lächerlich melodramatisch vor. Ja, sie ist eine bedeutende Frau! Wenn sie einen Verbrecher liebte, so liebte sie ihn, als wäre sie eine Königin!«

Poirot verlor sich in Betrachtungen.

»Noch etwas, Poirot, was hat es für ein Bewandtnis mit dem Stückchen Bleirohr?«

»Siehst du das nicht? Um das Gesicht des Opfers so zu verunstalten, daß es unkenntlich würde. Das zuerst wies mich auf die richtige Spur. Und Giraud, dieser Dummkopf, der darüber hinwegschwärmte, um nach angebrannten Zündholzenden zu suchen! Sagte ich dir nicht, daß ein zwei Fuß langer Schlüssel ebensoviel wert sein könnte, wie einer von zwei Zoll Länge?«

»Nun, Giraud wird jetzt klein beigeben«, bemerkte ich eilig, um das Gespräch möglichst bald von meinen eigenen Fehlern abzulenken.

»Ja - wird er das? Er wird sich keine Gedanken darüber machen, wenn er auf falschem Wege zum richtigen Ziel gelangte.«

»Aber sicherlich!« Ich hielt inne, als ich sah, welche Richtung die Dinge nahmen.

»Du siehst, Hastings, wir müssen von neuem beginnen. Wer tötete Monsieur Renauld? Jemand, der gerade vor Mitternacht in der Nähe der Villa war, jemand, der von seinem Tod Vorteile für sich erwartete. Die Beschreibung paßt nur zu gut auf Jack Renauld. Das Verbrechen mußte vorher nicht überlegt worden sein. Und dann der Dolch!«

Ich starrte ihn an, ich hatte diesen Punkt nicht bedacht.

»Natürlich«, sagte ich, »Madame Renaulds Dolch war der andere, den wir in dem Herzen des Landstreichers fanden. Es gab also zwei Dolche.«

»Gewiß, und da es sich um ein Duplikat handelt, muß in Betracht gezogen werden, daß Jack der Eigentümer sein konnte. Aber dies beunruhigt mich nicht zu sehr. Ich habe, um die Wahrheit zu sagen, meine eigene bescheidene Ansicht darüber. Nein, die schwerste Beschuldigung gegen ihn ist wieder psychologischer Natur - erbliche Belastung, mon ami, erbliche Belastung! Wie der Vater, so der Sohn von Georges Conneau, man mag sagen, was man will.«

Sein Ton war ernst und feierlich und machte wider meinen Willen Eindruck auf mich.

»Welches ist die Ansicht, die du eben erwähntest?« fragte Ich.

Als Antwort sah Poirot auf seine unförmige Uhr und fragte dann: »Wann geht nachmittags das Schiff von Calais ab?«

»Ungefähr um fünf Uhr, glaube ich.«

»Das ist ausgezeichnet. Wir werden gerade zurechtkommen.«

»Du fährst nach England?«

»Ja, mein Freund.«

»Weshalb?«

»Um möglicherweise einen Zeugen zu finden.«

»Wen?«

Mit einem etwas seltsamen Lächeln erwiderte Poirot: »Miss Bella Duveen.«

»Aber wie willst du sie finden, was weißt du von ihr?«

»Ich weiß nichts von ihr - aber ich kann mir einiges denken. Wir können als sicher annehmen, daß sie wirklich Bella Duveen heißt, und da ihr Name Gabriel Stonor irgendwie bekannt vorkam, wenn auch nicht in Zusammenhang mit der Familie Renauld, so ist es wahrscheinlich, daß sie der Bühne angehört. Jack Renauld war ein zwanzigjähriger Jüngling mit reichlich viel Geld. Man kann mit Sicherheit voraussetzen, daß seine erste Liebe auf der Bühne zu Hause war. Es paßt auch zu dem Versuch Monsieur Renaulds, sie mit einem Scheck abzufertigen. Ich denke schon, daß ich sie finden werde, besonders mit Zuhilfenahme von diesem da.«

Und er brachte die Fotografie zum Vorschein, die er in meiner Gegenwart der Schublade Jack Renaulds entnommen hatte. »In Liebe von Bella«, stand quer über einer Ecke, aber nicht dies fesselte meine Blicke, Die Ähnlichkeit war nicht in die Augen springend - doch für mich war sie unverkennbar. Es überlief mich kalt, als wäre mir unaussprechliches Unheil widerfahren.

Es war das Antlitz Cinderellas.

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