Der Doktor und M. Hautet trugen die Bewußtlose gemeinsam ins Haus. Der Kommissar blickte ihnen kopfschüttelnd nach.
»Arme Frau«, sagte er vor sich hin. »Der Schock war zu heftig. Ja, da kann man nichts machen. Nun, Monsieur Poirot, wollen wir uns jetzt nicht an den Ort begeben, an dem das Verbrechen verübt wurde?«
»Wie Sie wünschen, Monsieur Bex.«
Wir durchschritten das Haus und verließen es durch den Haupteingang. Poirot blickte die Treppen hinauf, als wir vorübergingen, und schüttelte unzufrieden den Kopf.
»Es scheint mir unglaublich, daß die Dienerschaft nichts gehört haben soll. Wenn drei Männer die Treppe herabsteigen, könnte das Knarren beinahe Tote erwecken!«
»Es war mitten in der Nacht, vergessen Sie das nicht. Da lagen alle im tiefsten Schlafe.«
Aber Poirot schüttelte den Kopf; ihm genügte diese Erklärung nicht. An der Kurve der Auffahrt blieb er stehen und sah zum Hause zurück.
»Was veranlaßte die Verbrecher, zuerst zu versuchen, ob der Haupteingang offen sei? Das war doch das Allerunwahrscheinlichste. Es wäre viel naheliegender gewesen, daß sie gleich versucht hätten, ein Fenster einzudrücken.
»Aber alle ebenerdigen Fenster sind mit Eisen vergittert«, entgegnete der Kommissar.
Poirot wies auf ein Fenster des ersten Stockes. »Dies ist doch das Fenster des Schlafzimmers, aus dem wir eben kamen, nicht? Und sehen Sie - da ist ein Baum, von dem man auf die leichteste Art und Weise ins Zimmer gelangen kann.«
»Möglich«, gab der andere zu. »Aber dann hätten sie Fußspuren im Blumenbeet hinterlassen müssen.«
Die Richtigkeit dieses Einwandes leuchtete mir ein. Dort waren zwei große, ovale Blumenbeete, mit roten Geranien, zu beiden Seiten der Stufen, die zum Haupteingang führten. Direkt hinter dem einen Beet stand der in Frage kommende Baum, und es wäre daher tatsächlich unmöglich gewesen, zu ihm. zu gelangen, ohne in das Beet zu treten.
»Sehen Sie«, fuhr der Kommissar fort, »infolge der trockenen Witterung sind auf der Auffahrt und den Fußwegen keine Fußabdrücke zu sehen; aber in der weichen Gartenerde des Blumenbeetes hätte die Sache ganz anders aussehen müssen.«
Poirot nickte, als wäre er überzeugt, und wir wandten uns weg, aber plötzlich eilte er davon, um das andere Blumenbeet zu untersuchen.
»Monsieur Bex«, rief er. »Sehen. Sie doch: Hier finden Sie genügend Fußspuren.«
Der Kommissar kam ihm nach - und lächelte.
»Mein lieber Poirot, das sind zweifellos die Abdrücke der großen Nagelschuhe des Gärtners. Jedenfalls sind sie aber für uns ganz unwichtig, da es auf dieser Seite keinen Baum gibt und infolgedessen auch keine Möglichkeit, in das obere Stockwerk zu gelangen.«
»Wohl wahr«, sagte Poirot sichtlich niedergeschlagen. »Sie glauben also, diese Fußspuren seien ohne Belang?«
»Ganz ohne jeden Belang.«
Zu meiner größten Verwunderung erwiderte nun Poirot: »Ich teile Ihre Ansicht nicht. Mir kommt vor, daß diese Fußspuren das Wichtigste sind, was wir bisher sahen.«
M. Bex antwortete nicht, zuckte aber die Achseln. Er war viel zu höflich, um seine Ansicht zu äußern.
»Wollen wir weitergehen?« fragte er statt dessen.
»Natürlich. Ich kann die Sache mit den Fußspuren auch später verfolgen«, erwiderte Poirot.
Statt die Fahrstraße zu benützen, die zum Gittertor führte, wählte M. Bex einen Pfad, der rechtwinkelig davon abzweigte. Er führte auf einen kleinen Abhang, rechts um das Haus herum, und war an beiden Seiten von Gesträuch eingefaßt. Plötzlich mündete er in eine kleine Lichtung, von der aus man das Meer überblickte. Dort befand sich eine Bank, und unweit davon war ein recht baufälliger Unterstand. Wenige Schritte weiter bezeichnete eine Reihe kleiner Sträucher die Grenze des Villengrundes. M. Bex bahnte sich einen Weg durch die Büsche, und vor uns lag eine weite Strecke offenen Hügellandes. Ich blickte umher und sah etwas, was mein Staunen erregte.
»Ja - das ist ja ein Golfplatz«, rief ich aus.
Bex nickte.
»Die Spielplätze sind noch nicht vollendet«, erklärte er. »Man hoffte, sie nächsten Monat eröffnen zu können. Die hier beschäftigten Arbeiter entdeckten heute morgen den Leichnam.«
Ich fuhr zurück. Ein wenig links, wohin ich eben geblickt hatte, befand sich eine lange, schmale Grube, und dicht daneben, mit dem Gesicht nach unten, lag der Körper eines Mannes. Einen Augenblick stockte mein Herzschlag, und ich hatte die wilde Vorstellung, daß das Drama sich wiederholt hätte. Aber der Kommissar zerstreute meinen Wahn, er schritt voraus und rief heftig und ärgerlich: »Was ist meinen Leuten eingefallen? Sie hatten strengen Befehl, niemanden ohne besondere Ausweispapiere in die Nähe dieses Ortes zu lassen!«
Der am Boden liegende Mann wandte den Kopf über die Schulter: »Aber ich habe diese Ausweise«, bemerkte er und stand auf.
»Mein lieber Monsieur Giraud«, rief der Kommissar, »ich hatte keine Ahnung, daß Sie schon angekommen sind. Der Untersuchungsrichter wartet schon ungeduldig auf Sie.«
Während er so sprach, betrachtete ich den Ankömmling voller Neugier. Der Name des berühmten Detektivs der Pariser Sürete war mir vertraut, und es interessierte mich außerordentlich, ihn leibhaftig vor mir zu sehen. Er war sehr groß, vielleicht dreißig Jahre alt, hatte rötliches Haar und Schnurrbart und militärische Haltung. Er trug ein ziemlich anmaßendes Wesen zur Schau, das bewies, daß er von seiner eigenen Wichtigkeit durchdrungen war. Bex machte uns bekannt und stellte Poirot als Kollegen vor. Da blitzte das Auge des Detektivs interessiert auf.
»Ich kenne Sie dem Namen nach, Monsieur Poirot«, sagte er. »Sie spielten in vergangenen Tagen eine große Rolle, nicht wahr? Aber die Methoden änderten sich inzwischen.«
»Die Verbrechen jedoch sind die gleichen geblichen«, bemerkte Poirot höflich.
Ich sah sofort, daß Giraud uns feindlich gegenübertrat. Er nahm es übel, daß Poirot ihm zugesellt worden war, und ich war überzeugt, daß, falls er eine wichtige Spur fände, er sie wahrscheinlich für sich behalten würde.
»Der Untersuchungsrichter -« begann Bex von neuem.
Aber Giraud unterbrach ihn unhöflich: »Der Teufel hole den Untersuchungsrichter! Das Licht ist momentan das Wichtigste. Für unsere Zwecke wird es ungefähr in einer halben Stunde nicht mehr genügen. Ich weiß alles über den Fall, und die Leute im Haus haben bis morgen Zeit, aber wenn wir auf die Spur des Mörders kommen wollen, ist hier der rechte Ort dafür. Haben Ihre Beamten den Platz so zertrampelt? Ich dachte, daß sie es heutzutage schon besser verstünden.«
»Gewiß verstehen sie ihr Handwerk. Die Abdrücke, über die Sie sich beklagen, rühren von den Arbeitern her, die den Leichnam entdeckten.
Der andere brummte verärgert.
»Ich sehe den Weg, den die drei durch die Hecke nahmen, aber sie waren schlau. Man kann nur die mittleren Fußspuren als jene von Monsieur Renauld erkennen, die anderen zu beiden Seiten sind sorgfältig verwischt. Nicht daß auf diesem harten Boden viel zu sehen gewesen wäre, aber sie ließen es nicht darauf ankommen.«
»Sie suchen die äußeren Spuren?« fragte Poirot.
Der andere Detektiv starrte ihn an. »Natürlich.«
Ein kaum merkliches Lächeln umspielte Poirots Lippen. Er war im Begriff etwas zu sagen, unterdrückte es aber. Er bückte sich zu einem Spaten, der dort lag.
»Damit wurde das Grab gegraben, das ist doch klar«, sagte Giraud, »doch diese Kenntnis wird mir wenig nützen. Es ist Monsieur Renaulds eigener Spaten, und der ihn benützte, trug Handschuhe. Hier sind sie.« Er wies mit dem Fuße nach der Richtung, wo zwei beschmutzte Handschuhe lagen. »Und auch sie gehören Renauld oder seinem Gärtner. Ich sage Ihnen, die dies Verbrechen ersannen, waren schlau. Sie sind darauf bedacht gewesen, keine Spuren zu hinterlassen! Aber ich werde ihnen beikommen. Überall gibt es doch irgend etwas! Und dieses Etwas werde ich finden.«
Poirots Interesse war augenscheinlich jetzt durch etwas anderes gefesselt, durch ein kleines farbloses Stückchen Bleirohr, das neben dem Spaten lag. Vorsichtig berührte er es mit dem Finger.
»Gehörte auch dies dem Ermordeten?« fragte er, und mir schien, als läge ein leicht ironischer Unterton in der Frage.
Giraud zuckte die Achseln, womit er sagen wollte, daß er es nicht wisse, noch begierig sei, es zu erfahren.
»Das liegt vielleicht schon wochenlang hier herum. Keinesfalls interessiert es mich.«
»Dafür mich um so mehr«, sagte Poirot sanft.
Ich vermutete, daß er es nur darauf abgesehen hatte, den Pariser Detektiv zu ärgern, was ihm auch vollauf gelang. Der andere drehte sich unhöflich um mit dem Bemerken, daß er keine Zeit zu verlieren habe, und bückte sich wieder, um seine Prüfung fortzusetzen.
Indessen ging Poirot, als ob ihm plötzlich ein Einfall gekommen wäre, durch die Abgrenzung zurück, und versuchte die Tür der kleinen Hütte zu öffnen.
»Sie ist versperrt«, sagte Giraud über die Achsel. »Aber dort verwahrt nur der Gärtner den Kehricht. Der Spaten kam nicht von dort, sondern von dem Werkzeugschuppen beim Haus.«
»Wundervoll«, flüsterte Bex mir begeistert zu. »Er ist erst seit einer halben Stunde hier und weiß schon alles! Was für ein Mann! Ohne Zweifel ist Giraud der bedeutendste aller jetzt lebenden Detektive.«
Obwohl mir der bedeutendste aller jetzt lebenden Detektive herzlich unsympathisch war, hatte er doch Eindruck auf mich gemacht. Von diesem Mann ging ein Fluidum von Tüchtigkeit aus.
Ich konnte mich der Empfindung nicht erwehren, daß Poirot sich bis jetzt nicht sonderlich ausgezeichnet hatte, und das kränkte mich. Er schien seine Aufmerksamkeit allerhand dummen, kindischen Dingen zuzuwenden, die mit dem Fall nichts zu schaffen hatten. Und wirklich, eben jetzt fragte er plötzlich: »Bitte, Monsieur Bex, erklären Sie mir die Bedeutung des verwaschenen weißen Streifens rund um das Grab. Ist das eine Bezeichnung durch die Polizei?«
»Nein, Monsieur Poirot, das hängt mit den Golfplätzen zusammen. Es zeigt an, daß hier ein ,Bunker', wie man sagt, am Golfplatz gemacht werden soll.«
»Ein Bunker?« Poirot wandte sich zu mir. »Das ist ein unregelmäßiges, mit Sand gefülltes Loch, dem eine Bank zur Seite steht, nicht?«
Ich nickte.
»Spielen Sie nicht, Golf, Monsieur Poirot?« fragte Bex.
»Ich? Niemals! Welch dummes Spiel!« Er wurde erregt. »Stellen Sie sich vor, die Bunker sind verschieden lang. Die Hindernisse sind nicht gleichmäßig verteilt. Selbst der Rasen ist meist nur auf einer Seite! Es gibt dabei nur eine erfreuliche Sache, die - wie nennt Ihr das nur - Erdhügel! Die wenigsten sind symmetrisch!«
Ich konnte mich des Lachens nicht enthalten, als ich sah, welche Vorstellung Poirot vom Golfspiel hatte, und mein kleiner Freund lächelte mir herzlich und unbefangen zu.
»Aber Monsieur Renauld spielte zweifellos Golf?«
»Ja, er war ein ausgezeichneter Golfspieler. Hauptsächlich ihm und seinen großen Geldspenden ist es zuzuschreiben, daß diese Arbeit rasche Fortschritte machte. Er wirkte sogar bei den Entwürfen mit.«
Poirot nickte nachdenklich. Dann bemerkte er: »Sie hatten den Platz, um einen Toten zu begraben, nicht sehr glücklich gewählt.«
»Ganz richtig«, rief Giraud triumphierend. »Und das beweist, daß sie ortsfremd waren. Es ist ein ausgezeichneter, indirekter Indizienbeweis.«
»Ja«, sagte Poirot bedächtig. »Niemand, der es weiß, hätte eine Leiche hier vergraben - es sei denn - es sei denn, er habe gewünscht, sie werde entdeckt. Und das ist doch lächerlich, nicht?«
Giraud hielt eine Antwort darauf für überflüssig.
»Ja«, sagte Poirot, und seine Stimme klang unbefriedigt, »Ja - zweifellos - lächerlich!«