Als wir unsere Schritte zum Hause zurücklenkten, bat M. Bex, uns verlassen zu dürfen, da er dem Untersuchungsrichter sofort von der Ankunft Girauds Mitteilung machen müsse. Giraud selbst war sichtlich entzückt, als Poirot erklärte, er habe alles gesehen, was ihn interessiere. Als wir den Platz verließen, sahen wir als letztes, wie Giraud auf allen vieren auf der Erde umherkroch und mit solcher Gründlichkeit seine Forschung fortsetzte, daß ich nicht umhin konnte, ihn zu bewundern.
Poirot erriet meine Gedanken, und als wir allein waren, bemerkte er ironisch: »Endlich hast du den Detektiv gesehen, der dir Bewunderung einflößt, - den menschlichen Spürhund! Nicht wahr, mein Freund?«
»Jedenfalls tut er etwas«, sagte ich schroff. »Wenn etwas zu finden ist, wird er es finden. Während du -«
»Eh bien! Ich fand auch etwas! Ein Stück Bleirohr.«
»Unsinn, Poirot. Du weißt ganz genau, daß das gar nichts damit zu schaffen hat. Ich meinte kleine Dinge - Spuren, die uns unfehlbar zu den Mördern führen.«
»Mon ami, ein zwei Fuß langer Anhaltspunkt ist ebenso wertvoll wie einer, der nur zwei Millimeter mißt. Aber die romantische Anschauung ist nicht auszurotten, daß alle wichtigen Schlüssel unendlich klein sein müssen. Und daß das Stück Bleirohr nichts mit dem Verbrechen zu tun haben soll, das sprichst du doch nur Giraud nach. Nein«, - und als ich eben eine Frage einwerfen wollte - »sprechen wir nicht weiter darüber. Überlasse Giraud seinen Nachforschungen und mich meinen Anschauungen. Der Fall sieht klar genug aus, und doch - und doch, mon ami, bin ich nicht zufrieden! Und weißt du, weshalb? Weil die Armbanduhr um zwei Stunden vorausging. Und dann sind da so verschiedene seltsame, kleine Umstände, die nicht hineinpassen. Zum Beispiel, wenn der Zweck der Mörder Rache gewesen wäre, warum erstachen sie dann Renauld nicht gleich im Schlafe, um es hinter sich zu haben?«
»Sie waren hinter einem Geheimnis her«, erinnerte ich. Poirot wischte unzufrieden ein Pünktchen Staub vom Ärmel. »Gut, wo ist aber das Geheimnis? Vermutlich ziemlich weit weg, da sie ihn zwangen, sich anzukleiden. Doch wurde er in unmittelbarer Nähe des Hauses ermordet aufgefunden.«
Übellaunig hielt er inne und fuhr dann fort: »Wieso hörten die Hausangestellten nichts? Waren sie betäubt? Gab es einen Mitschuldigen, und sorgte dieser Komplice dafür, daß der Haupteingang offenblieb? Ich wüßte gern, ob -« Plötzlich hielt er inne. Wir hatten die Rampe vor dem Hause erreicht. Jäh wandte er sich mir zu. »Mein Freund, ich will dich überraschen - damit du eine Freude hast! Ich nahm mir deine Vorwürfe zu Herzen! Wir wollen einige Fußspuren untersuchen!«
»Wo?«
»Dort in dem Blumenbeet auf der rechten Seite. M. Bex sagt, daß es die Fußspuren des Gärtners seien. Sehen wir nach, ob es wahr ist. Schau, eben kommt er mit dem Schubkarren.«
Wirklich überquerte gerade ein älterer Mann mit einem Schubkarren voll Setzlingen die Auffahrt. Poirot rief ihn an, und er stellte seinen Karren hin und humpelte auf uns zu.
»Willst du einen seiner Stiefel verlangen, um ihn mit den Fußspuren zu vergleichen?« fragte ich gespannt. Mein Vertrauen zu Poirot lebte wieder auf. Wenn er behauptete, daß die Fußspuren in dem rechtsseitigen Beet wichtig seien, so waren sie vermutlich wichtig.
»Du errätst es«, sagte Poirot.
»Wird er das nicht sehr merkwürdig finden?«
»Er wird sich überhaupt keine Gedanken darüber machen.«
Mehr konnten wir nicht sprechen, denn der alte Mann trat eben zu uns.
»Wünschen Sie etwas von mir, Monsieur?«
»Ja, Sie sind wohl schon lange hier Gärtner?«
»Vierundzwanzig Jahre, Monsieur.«
»Und wie ist Ihr Name?«
»Auguste, Monsieur.«
»Ich bewunderte eben diese prachtvollen Geranien. Sind sie schon lange hier eingepflanzt?«
»Schon einige Zeit, Monsieur. Aber natürlich, wenn man die Beete immer schön in Ordnung haben will, muß man von Zeit zu Zeit verblühte Stöcke durch neue Pflanzen ersetzen und außerdem die welken Blüten sorgfältig abpflücken.«
»Setzten Sie nicht gestern einige neue Pflanzen ein? Diese in der Mitte hier und ebenso jene in dem anderen Beet?«
»Monsieur hat scharfe Augen. Es braucht immer ungefähr einen Tag, bis sie sich erholen. Ja, ich setzte gestern abend zehn frische Pflanzen in jedes Beet. Denn wie Monsieur sicher weiß, soll man keine Pflanzen setzen, solange die Sonne brennt.« Auguste war über Poirots Interesse entzückt und sehr geneigt, geschwätzig zu werden.
»Dies hier ist eine wundervolle Abart«, sagte Poirot, mit dem Finger zeigend, »könnte ich davon vielleicht einen Setzling bekommen?«
»Aber gewiß, Monsieur.« Der alte Mann stieg in das Beet und entnahm der von Poirot so bewunderten Pflanze mit großer Sorgfalt einen Steckling.
Poirot konnte des Dankes nicht genug tun, und Auguste entfernte sich mit seinem Schubkarren.
»Siehst du?« sagte Poirot lächelnd, als er sich über das Beet beugte, um die Vertiefungen zu prüfen, die des Gärtners genagelten Stiefel verursacht hatten. »Es ist ganz einfach.«
»Ich konnte mir nicht vorstellen -«
»Daß der Fuß in dem Schuh stecken würde? Du machst von deinen besonderen geistigen Fähigkeiten viel zuwenig Gebrauch. Nun, und die anderen Fußspuren?«
Ich betrachtete das Beet aufmerksam.
»Alle Fußspuren im Beet stammen von denselben Stiefeln«, sagte ich schließlich nach sorgsamster Überprüfung. »Glaubst du? Eh bien, du hast recht«, sagte Poirot.
Er schien vollkommen uninteressiert, als ob seine Gedanken ganz woanders weilten.
»Für jeden Fall«, bemerkte ich, »dürftest du jetzt einen Vogel weniger im Kopf haben!«
»Mon Dieu! Was für eine Sprache! Was meinst du damit?«
»Ich meinte, daß nun dein Interesse für diese Fußspuren erloschen sein dürfte.«
Jedoch zu meiner Verwunderung schüttelte Poirot den Kopf. »Nein, nein, mon ami, endlich bin ich auf der richtigen Fährte. Ich tappe doch im dunkeln, aber wie ich eben Monsieur Bex andeutete, sind diese Fußspuren das Wichtigste und Interessanteste des Falles! Der arme Giraud - es sollte mich nicht wundern, wenn er ihnen auch nicht die geringste Aufmerksamkeit schenken würde.«
In diesem Augenblick öffnete sich das Haupttor, und M. Hautet kam mit dem Kommissar die Stufen herab.
»Ah, Monsieur Poirot, wir wollten Sie eben aufsuchen«, sagte der Richter. »Es wird spät, doch ich möchte Madame Daubreuil noch einen Besuch machen. Zweifellos wird sie der Tod Monsieur Renaulds aus der Fassung gebracht haben, und wir haben vielleicht die Chance, durch sie einen Fingerzeig zu bekommen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass er der Frau, deren Liebe ihn in Banden hielt, verriet, was er seiner Gattin nicht anvertraute. Wir wissen ja, wo unsere Simsons schwach sind, nicht wahr?«
Ich bewunderte die bilderreiche Sprache M. Hautets. Mir schien, als ob der Untersuchungsrichter sich jetzt überaus in der Rolle gefiel, die ihm in diesem geheimnisvollen Drama zugefallen war.
»Kommt Monsieur Giraud nicht mit uns?« fragte Poirot.
»Monsieur Giraud hat uns deutlich zu verstehen gegeben, daß er es vorzieht, den Fall auf seine Weise zu führen«, sagte M. Hautet.
Es war nicht schwer zu bemerken, daß Girauds dreistes Auftreten den Untersuchungsrichter nicht zu seinen Gunsten beeinflußt hatte. Poirot ging mit dem Untersuchungsrichter, der Kommissar und ich folgten unmittelbar hinter ihnen.
»Es unterliegt keinem Zweifel, daß Francoises Erzählung im wesentlichen auf Wahrheit beruht«, bemerkte er vertraulich zu mir. »Ich informierte mich bei unserer Zentrale. Es scheint, daß Madame Daubreuil in den letzten sechs Wochen - das heißt seit der Ankunft Monsieur Renaulds in Merlinville -dreimal größere Summen in Noten auf ihr Bankkonto einzahlte. Alles zusammen ungefähr die Summe von zweimal hunderttausend Francs!«
»Du lieber Himmel!« sagte ich und rechnete schnell um, »das müßten ungefähr viertausend Pfund sein!«
»Genau. Ja, es ist nicht daran zu zweifeln, daß er sehr verliebt war. Jetzt handelt es sich darum, festzustellen, ob er ihr sein Geheimnis anvertraut hatte. Der Untersuchungsrichter glaubt es, aber ich teile seine Ansicht kaum.«
Während dieses Gespräches gingen wir den Weg hinunter bis zu jener Straßenbiegung, bei der unser Wagen am frühen Nachmittag gehalten hatte, und gleich darauf erkannten wir jenes kleine Haus, aus dem das schöne Mädchen herausgetreten war:Villa Marguerite, das Haus der geheimnisvollen Madame Daubreuil. -
»Sie lebt seit vielen Jahren hier«, sagte der Kommissar und deutete auf das Haus. »Sehr ruhig, sehr zurückgezogen. Sie scheint keine anderen Freunde oder Beziehungen zu haben als die Bekanntschaften, die sie in Merlinville anknüpfte. Nie erwähnt sie Vergangenes, nie ihren Gatten. Man weiß nicht einmal, ob er lebt oder tot ist.«
Mein Interesse wuchs, »Und - die Tochter?« warf ich ein.
»Ein wirklich schönes junges Mädchen - bescheiden, fromm, ganz wie es sich gehört. Man bedauert sie, denn, wenn ihr vielleicht auch nichts über die Vergangenheit ihrer Mutter bekannt ist, wird doch der Mann, der sie zur Frau begehrt, begreiflicherweise Erkundigungen einziehen, und dann -«
Der Kommissar zuckte die Achseln.
»Aber es ist doch nicht ihr Verschulden! « tief ich entrüstet.
»Nein. Aber was wollen Sie? Ein Mann ist eben genau, wo es sich um das Vorleben seiner Gattin handelt.«
Ich konnte darauf nichts mehr erwidern, da wir bei der Tür angelangt waren. M. Hautet läutete. Einige Minuten vergingen, dann hörten wir Schritte, und die Tür wurde geöffnet. Meine junge Göttin von heute nachmittag erschien auf der Schwelle. Als sie uns sah, wurde sie leichenblaß, und ihre Augen blickten angstvoll. Sie hatte Furcht!
»Mademoiselle Daubreuil«, sagte Hautet und lüftete den Hut, »wir bedauern unendlich, Sie stören zu müssen, aber die Pflicht zwingt uns dazu. Meine Empfehlungen Ihrer Frau Mutter, und wir bitten sie um eine kurze Unterredung.«
Einen Augenblick stand das Mädchen regungslos. Dann sagte sie leise: »Bitte, treten Sie ein.«
Sie verschwand in einem Zimmer links von der Halle, und wir hörten sie flüstern. Und dann ließ sich eine andere Stimme, von fast der gleichen Klangfarbe, aber mit etwas härterem Tonfall hören: »Aber selbstverständlich. Laß sie eintreten.«
Eine Minute später standen wir der geheimnisvollen Frau gegenüber. Sie war nicht annähernd so groß wie ihre Tochter, und die runden Linien ihrer Gestalt hatten die Grazie völliger Reife. Sie trug ihr Haar, das, im Gegensatz zu dem ihrer Tochter, dunkel war, nach Madonnenart in der Mitte gescheitelt. Ihre Augen, von den gesenkten Lidern halb verborgen, waren blau. In dem rundlichen Kinn befand sich ein Grübchen, und um die halbgeöffneten Lippen schien immer ein geheimnisvolles Lächeln zu schweben. Ihre Weiblichkeit schien stark unterstrichen, sie wirkte weich und verführerisch zugleich. Sie war sicher nicht mehr jung, aber sehr gut erhalten, und der Zauber, der von ihr ausging, war an kein Alter gebunden.
Wie sie vor uns stand, in ihrem schwarzen Kleid mit blütenweißem Kragen und Manschetten und ineinandergeschlungenen Händen, sah sie unglaublich rührend und hilflos aus. »Sie wollten mich sprechen, Monsieur?« fragte sie. »Ja, Madame.« M. Hautet räusperte sich. »Ich führe die Untersuchung über den Tod von Monsieur Renauld. Sie hörten davon, nehme ich an?«
Sie neigte den Kopf, doch sie sprach nicht. Auch ihr Gesichtsausdruck blieb unverändert.
»Wir kamen, um zu fragen, ob Sie ... hm ... uns nicht einige Klarheit über die Begleitumstände geben könnten?«
»Ich?« Das Staunen in ihrer Stimme war vortrefflich.
»Ja, Madame. Vielleicht wäre es besser, wenn wir mit Ihnen allein sprechen könnten.« Er blickte auf die Tochter. Madame Daubreuil wandte sich ihr zu. »Marthe, Liebling ... « Doch das Mädchen schüttelte den Kopf. »Nein, Mama. Ich gehe nicht. Ich bin kein Kind mehr. Ich bin zweiundzwanzig. Ich gehe nicht.«
Madame Daubreuil wandte sich wieder »um Untersuchungsrichter. »Sie sehen, Monsieur.«
»Ich zöge es vor, nicht in Gegenwart von Mademoiselle Daubreuil sprechen zu müssen.«
»Wie meine Tochter schon bemerkte, ist sie kein Kind mehr.«
Unschlüssig zögerte der Richter einen Augenblick. »Wie Sie wünschen, Madame«, sagte er schließlich. »Wir haben Grund zur Annahme, daß Sie den Toten manchmal des Abends in seiner Villa zu besuchen pflegten. Ist das richtig?«
In die bleichen Wangen der Frau stieg jähe Röte, doch sie antwortete ruhig: »Ich gebe Ihnen kein Recht, mich derartiges zu fragen.«
»Madame, wir untersuchen einen Mord.«
»Nun, was macht das aus? Ich habe mit dem Mord nichts zu schaffen.«
»Madame, das haben wir nicht einen Augenblick lang angenommen. Aber Sie waren mit dem Toten gut bekannt. Sprach er niemals zu Ihnen von irgendeiner Gefahr, von der er sich bedroht wähnte?«
»Niemals.«
»Erwähnte er jemals sein Leben in Santiago und etwaige Feindschaften, die ihm dort erwachsen waren?« -
»Nein.«
»Sie können uns also in keiner Weise behilflich sein?«
»Ich fürchte, nein. Ich begreife wirklich nicht, weshalb Sie zu mir kommen. Kann seine Frau Ihnen nicht die Auskunft geben, die Sie brauchen?« In ihrer Stimme schwang leise Ironie.
»Madame Renauld sagte uns alles, was sie wußte.«
»Ah!« sagte Madame Daubreuil. »Ich wüßte gern -«
»Was wüßten Sie gern, Madame?«
»Nichts.«
Der Untersuchungsrichter blickte sie an. Er war sich dessen voll bewußt, daß er einen Zweikampf focht und daß er keinen geringen Gegner vor sich hatte.
»Sie bleiben bei Ihrer Behauptung, daß Monsieur Renauld Ihnen nichts anvertraute?«
»Weshalb erscheint es Ihnen wahrscheinlich, daß er mir etwas anvertraut habe?«
»Weil, Madame«, sagte M. Hautet mit berechneter Brutalität, »ein Mann seiner Geliebten Dinge sagt, die er nicht immer seiner Gattin anvertraut.«
»Ah!« Sie sprang auf. Ihre Augen funkelten. »Monsieur, Sie beschimpfen mich! Und noch dazu in Gegenwart meiner Tochter! Ich kann Ihnen nichts weiter sagen. Bitte, verlassen Sie mein Haus.«
Unzweifelhaft hatte Mme. Daubreuil ehrenvoll bestanden. Wir verließen die Villa Marguerite wie eine Rotte beschämter Schuljungen. Der Untersuchungsrichter hielt ärgerliche Selbstgespräche. Poirot schien in Gedanken versunken. Plötzlich fuhr er aus seinen Träumen empor und erkundigte sich bei M. Hautet, ob es in der Nähe ein gutes Hotel gebe.
»Es gibt ein kleines Hotel, das Hotel des Bains, unmittelbar vor der Stadt. Einige hundert Meter den Weg hinab. Es liegt sehr günstig für Ihre Forschungen. Dann sehen wir Sie also morgen früh, nehme ich an.«
»Ja, danke, Monsieur Hautet.«
Nach gegenseitigem Austausch von Höflichkeiten verließen wir die Gesellschaft. Poirot und ich gingen nach Merlinville, die anderen kehrten zur Villa Genevieve zurück.
»Der französische Polizeidienst ist ausgezeichnet organisiert«, sagte Poirot und blickte ihnen nach. »Die Informationen, die sie über jedermanns Leben, bis zu den alltäglichsten Einzelheiten besitzen, sind bewundernswert. Obwohl Monsieur Renauld nicht viel länger als seit sechs Wochen hier war, wußten sie über ihn, über seine Neigungen genau Bescheid, und es ist ihnen sogar möglich, über das Bankkonto von Madame Daubreuil Auskunft zu erteilen und über die Summen, die kürzlich darauf eingezahlt wurden! Aber was soll das bedeuten?« und er wandte sich um. Eine Gestalt lief hinter uns her. Marthe Daubreuil!
»Verzeihen Sie«, rief sie atemlos, als sie uns erreicht hatte. »Ich sollte das nicht tun, ich weiß es. Sie dürfen es meiner Mutter nicht erzählen. Aber ist es richtig, was die Leute sagen, daß Monsieur Renauld vor seinem Tode einen Detektiv herbeirief - und daß Sie dieser Detektiv sind?«
»Ja, Mademoiselle«, sagte Poirot liebenswürdig. »Das ist allerdings wahr. Aber wie erfuhren Sie es?«
»Francoise erzählte es unserer Amelie«, erklärte Marthe errötend.
Poirot verzog das Gesicht. »Verschwiegenheit ist wohl in so einer Angelegenheit ganz ausgeschlossen! Aber das macht nichts. Nun, Mademoiselle, was möchten Sie gern wissen?«
Das Mädchen zögerte. Es schien, als fürchte es zu sprechen.
Endlich fragte es fast flüsternd: »Hat - hat man irgendeinen Verdacht?«
Poirot sah sie durchdringend an. Dann antwortete er ausweichend: »Verdacht, Mademoiselle ... allerdings.«
»Ja, aber - handelt es sich um eine bestimmte Person?«
»Warum wollen Sie das wissen?«
Es schien, als habe die Frage das Mädchen erschreckt. Sogleich kamen mir die Worte ins Gedächtnis, die Poirot einige Stunden früher gesprochen hatte. »Das Mädchen mit den angstvollen Augen.«
»Monsieur Renauld war immer sehr gütig zu mir«, erwiderte sie endlich. »Es ist nur natürlich, daß ich mich dafür interessiere.«
»Ich verstehe«, sagte Poirot. »Nun, Mademoiselle, der Verdacht schwankt momentan zwischen zwei Personen.«
»Zwei?«
Ich hätte schwören mögen, daß Staunen und Erleichterung aus ihrer Stimme klangen.
»Ihre Namen sind unbekannt, doch es wird angenommen, daß es Chilenen aus Santiago sind. Und nun, Mademoiselle, sehen Sie, was es heißt, jung und schön zu sein! Ich habe Ihretwegen Berufsgeheimnisse verraten!«
Das Mädchen lachte leise und dankte ihm dann ein wenig betreten. »Ich muß nach Hause. Mama könnte mich vermissen.« Und sie machte kehrt und lief den Weg zurück, sie glich einer modernen Atalanta. Ich starrte ihr nach.
»Lieber Freund«, sagte Poirot in seiner leicht ironischen Art, »sollen wir hier die ganze Nacht wie angewurzelt stehen -nur weil du ein schönes junges Weib sahst und dir der Kopf davon wirbelt?«
»Aber sie ist doch wunderschön, Poirot. Und man muß es jedem verzeihen, wenn er durch sie den Kopf verliert.«
Poirot stöhnte. »Mon Dieu! Hast du ein empfindsames Herz!«
»Poirot«, sagte ich, »erinnerst du dich an den Fall Styles, wie-«
»Wie du in zwei reizende Frauen zugleich verliebt warst, von denen keine für dich taugte? Ja, ich erinnere mich.«
»Du tröstetest mich damals und sagtest, daß wir vielleicht eines Tages wieder gemeinsam pürschen würden und daß dann -«
»Eh bien?«
»Nun, wir jagen wieder gemeinsam, und - « Ich hielt inne und lachte ein wenig selbstbewußt.
Doch zu meiner Überraschung schüttelte Poirot sehr ernst den Kopf. »Oh, mon ami, setz dir Marthe Daubreuil nicht in den Kopf. Die ist nichts für dich, die nicht! Laß dir's von Papa Poirot gesagt sein!«
»Weshalb«, rief ich, »der Kommissar versicherte mir doch, sie sei ebenso tugendhaft wie schön! Ein vollkommener Engel!«
»Unter den größten Verbrechern, die mir unter die Hände kamen, hatten einige wahre Engelsphysiognomien«, bemerkte Poirot heiter. »Eine Abnormität der ,grauen Zellen' kann sich sehr leicht hinter einem Madonnengesicht verstecken.«
»Poirot«, rief ich entsetzt, »du willst doch nicht etwa sagen, daß du dieses Mädchen verdächtigst!«
»Ta, ta, ta! Nur keine Aufregung! Ich sagte nicht, daß ich sie verdächtige. Aber du wirst doch zugeben, daß ihre Besorgnis, alles über den Fall zu erfahren, ein wenig ungewöhnlich ist.«
»Diesmal sehe ich ausnahmsweise weiter als du«, entgegnete ich. »Ihre Besorgnis galt nicht ihr selbst - sondern ihrer Mutter.«
»Mein Freund«, sagte Poirot, »wie gewöhnlich siehst du überhaupt nichts. Madame Daubreuil ist tüchtig genug, sich selbst zu verteidigen, sie ist nicht auf die Fürsorge ihrer Tochter angewiesen. Ich gebe zu, daß ich dich jetzt nur necken wollte, aber nichtsdestoweniger wiederhole ich, was ich schon vorhin sagte. Setz dir dieses Mädchen nicht in den Kopf. Sie ist nichts für dich! Ich, Hercule Poirot, weiß das. Wenn ich mich nur erinnern könnte, wo ich dieses Gesicht schon gesehen habe?«
»Welches Gesicht?« fragte ich erstaunt. »Das der Tochter?«
»Nein, das der Mutter.«
Als er mein Erstaunen merkte, nickte er bestätigend. »Ja doch, es ist so, wie ich dir sagte. Es ist schon lange her, als ich noch bei der belgischen Polizei war. Ich sah diese Frau nie persönlich, aber ich sah ihr Bild - im Zusammenhang mit einem - Fall. Ich glaube bestimmt -«
»Was?«
»Ich kann mich irren, aber ich glaube bestimmt, daß es eine Mordaffäre war!«