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Am nächsten Morgen erschien ich fünf Minuten vor neun Uhr zum Frühstück in unserem gemeinsamen Wohnzimmer. Mein Freund, Hercule Poirot, öffnete soeben, wie stets zu dieser Stunde, sein zweites Frühstücksei.

Er lachte mir zu, als ich eintrat.

»Hast du gut geschlafen? Hast du dich von der schrecklichen Überfahrt schon erholt? Es wundert mich, daß du auch heute pünktlich bist. Pardon, aber deine Schleife ist schlecht gebunden. Erlaube, daß ich sie in Ordnung bringe.«

Ich habe Hercule Poirot schon an anderer Stelle beschrieben. Ein ganz außergewöhnlich kleiner Mann! Fünfeinhalb Fuß hoch, den eiförmigen Kopf ein wenig zur Seite geneigt, mit Augen, die in der Erregung grünlich schillerten, einem martialisch steifgedrehten Schnurrbart und mit unendlich würdevollem Aussehen! Seine äußere Erscheinung war peinlich, beinahe übertrieben elegant. Überhaupt war bei ihm jede Form von Ordnungsliebe zur Leidenschaft gesteigert. Sah er irgendwo etwas, was schief stand, lag irgendwo ein Körnchen Staub, gab es irgendwo die geringste Unordnung, so litt der kleine Mann Folterqualen, bis er sein Herz durch Abschaffung des Übels erleichtert hatte. »Ordnung« und »Methode« hießen seine Götter. Er verachtete gewissermaßen greifbare Beweise wie Fußstapfen und Zigarettenasche und behauptete, daß sie allein noch niemals einem Detektiv die Lösung seiner Auf gäbe ermöglicht hätten. Darauf schlug er sich mit lächerlichem Behagen auf den eiförmigen Kopf und bemerkte selbstgefällig: »Die wahre Arbeit muß von ihnen heraus getan werden. Die kleinen grauen Zellen - gedenke nur immer der kleinen grauen Zellen, mein Freund.«

Ich nahm Platz und bemerkte lässig, als Antwort auf Poirots Begrüßung, daß eine Stunde Überfahrt von Calais nach Dover wohl kaum das Beiwort »schrecklich« verdiene.

Poirot schwenkte seinen Eierlöffel als nachdrückliche Widerlegung meiner Bemerkung.

»Wenn jemand eine Stunde lang die fürchterlichsten Gemütsbewegungen und -empfindungen erleidet, dann hat er viele Stunden gelebt! Sagt nicht einer eurer englischen Dichter, daß die Zeit nicht nach Stunden, sondern nach Herzschlägen bemessen werden sollte?«

»Ich bilde mir ein, daß Browning dabei aber etwas viel Romantischeres vorschwebte als Seekrankheit.«

»Weil er ein Engländer, ein Inselbewohner war, dem der Ärmelkanal nichts bedeutete. Oh, ihr Engländer! Aber wir anderen! Stelle dir vor, eine Dame meiner Bekanntschaft floh zu Beginn des Krieges bis Ostende. Dort erlitt sie einen furchtbaren Nervenzusammenbruch. Weitere Fluchtmöglichkeiten gab es nicht, außer über das Wasser. Aber sie hatte Abscheu vor dem Meere! Was war da zu tun? Täglich rückte der Feind näher. Versetze dich in ihre Lage!«

»Und was tat sie?« fragte ich neugierig.

»Glücklicherweise war ihr Gatte ein praktischer Mensch. Er war auch sehr ruhig. Nervenkrisen rührten ihn nicht. Er hat sie ganz einfach mitgeschleppt. Natürlich war sie völlig niedergebrochen, als sie in England ankam, aber sie atmete noch.«

Poirot schüttelte ernst den Kopf. Ich legte mein Gesicht in angemessene Falten.

Plötzlich erstarrte er. Mit dramatischer Geste wies er auf den Toastständer.

»Aber das ist ja unerhört!« schrie er.

»Was gibt es?«

»Fällt dir dieses Stück Toast nicht auf?« Er riß das ihn beleidigende Stück aus dem Ständer und reichte es mir zur Begutachtung.

»Ist es viereckig? Nein. Ist es dreieckig? Auch nicht. Ist es vielleicht rund? Noch weniger. Hat es irgendeine dem Auge gefällige Form? Hat es überhaupt eine symmetrische Form? Nein.«

»Es wurde von einem Laib Landbrot heruntergeschnitten«, erklärte ich besänftigend.

Poirot warf mir einen vernichtenden Blick zu.

»Wie klug doch mein Freund Hastings ist!« rief er spöttisch. »Verstehst du nicht, daß ich mir solch ein Brot verbeten habe — so ein formloses Zufallsbrot, das kein Bäcker zu backen wagen sollte!«

Ich versuchte seine Gedanken abzulenken.

»Interessantes mit der Post gekommen?«

Poirot verneinte mit unzufriedener Miene.

»Ich sah meine Briefe noch nicht durch, aber heutzutage kommt nichts Interessantes mehr. Es gibt keine großen Verbrecher, keine Verbrecher mit Methode. Die Fälle, bei denen ich mich in der letzten Zeit betätigte, waren über alle Maßen banal. Wirklich, ich war gezwungen, verlorengegangene Schoßhunde eleganter Damen wiederzufinden. Der letzte halbwegs interessante Fall war jene verwickelte Affäre mit dem Yardly-Diamanten, und das ist -wie viele Monate mag das zurückliegen, lieber Freund?«

Verzweifelt schüttelte er den Kopf, und ich lachte laut auf.

»Kopf hoch, Poirot, das Glück ist wandelbar. Öffne deine Briefe. Wer kann wissen, ob nicht vielleicht eben jetzt ein bedeutender Fall am Horizont erscheint.«

Lächelnd ergriff Poirot das hübsche, kleine Papiermesser, mit dem er seine Briefe zu öffnen pflegte, und durchschnitt den oberen Rand mehrerer Briefumschläge, die neben seinem Teller lagen.

»Eine Rechnung. Aha! Hier ist eine Nachricht von Japp.«

»Ja?« Ich spitzte die Ohren. Der Polizeiinspektor von Scotland Yard hatte uns schon oft interessante Fälle zugetragen.

»Er dankt mir nur auf seine Art für den kleinen Fingerzeig, den ich ihm in der Angelegenheit Aberystwyth gab, und der ihn auf die richtige Spur wies. Ich bin heilfroh, daß ich ihm diesen Dienst erweisen konnte.«

»Wie dankt er dir?« fragte ich neugierig, denn ich kannte Japp. »Er ist so gütig, mir zu sagen, daß ich für mein Alter erstaunlich tüchtig und daß es ihm ein Vergnügen sei, mir Gelegenheit zur Betätigung bieten zu können.«

Das war so typisch für Japp, daß ich ein Kichern nicht unterdrücken konnte. Gelassen las Poirot seine Briefe weiter.

»Eine Anregung zu einer Vorlesung, die ich unseren jungen Berufskollegen halten soll. Die Gräfin von Fanfanock bittet um meinen Besuch, zweifellos wieder ein Schoßhund! Und nun der letzte. Ah!«

Schnell blickte ich auf, da mir der veränderte Tonfall auffiel. Poirot las aufmerksam. Dann reichte er mir das Blatt. »Das ist einmal etwas anderes, mein Freund. Lies selbst.« Der Brief war mit kühner, charakteristischer Schrift auf fremdländischem Briefpapier geschrieben: »Villa Genevieve, Merlinville-sur-mer, Frankreich.

Werter Herr!

Ich bin genötigt, die Dienste eines Detektivs in Anspruch zu nehmen und möchte aus Gründen, die ich Ihnen später erklären werde, mich nicht an die offizielle Polizei wenden. Ich hörte von verschiedenen Seiten von Ihnen, und alle Berichte stimmen darin überein, daß Sie nicht nur ein Mann von ausgesprochener Begabung, sondern auch diskret und verschwiegen sind. Ich möchte der Post keine Einzelheiten anvertrauen, aber ich bin in einer Lage, die mich täglich um mein Leben zittern läßt. Ich bin davon überzeugt, daß mir unmittelbar Gefahr droht, und bitte Sie daher, keine Zeit zu verlieren und sofort nach Frankreich herüberzukommen. Wenn Sie mir die Stunde Ihrer Ankunft drahten, schicke ich Ihnen einen Wagen nach Calais. Ich wäre sehr dankbar, wenn Sie alles aufgäben, was Sie zur Zeit beschäftigt, und sich nur meinen Interessen widmen wollten. Ich will für jeden Ihnen daraus erwachsenden Schaden die Verantwortung tragen. Wahrscheinlich werde ich Ihre Dienste beträchtlich lange in Anspruch nehmen, und es kann sich für Sie die Notwendigkeit ergeben, nach Santiago fahren zu müssen, wo ich viele Jahre meines Lebens verbracht habe.

Es wäre mir sehr angenehm, wenn Sie mir Ihre Bedingungen mitteilen wollten.

Indem ich Ihnen nochmals versichere, daß die. Angelegenheit von größter Dringlichkeit ist, bin ich Ihr ergebener

P. T. Renauld.«

Unterhalb der Unterschrift befand sich noch eine hastig hingeworfene, beinahe unleserliche Zeile: »Um Gottes Barmherzigkeit willen, kommen Sie!«

Ich gab Poirot den Brief zurück, und meine Pulse schlugen schneller.

»Endlich«, sagte ich, »da ist etwas ganz Außergewöhnliches.«

»Ja, wirklich«, sagte Poirot nachdenklich.

»Du fährst doch«, fuhr ich fort.

Poirot nickte Er war in tiefes Nachdenken versunken. Endlich schien er einen Entschluß gefaßt zu haben und blickte nach der Uhr. Sein Gesicht war ernst geworden.

»Lieber Freund, da ist keine Zeit zu verlieren. Der Continental-Expreß geht um elf Uhr von Victoria Station ab. Rege dich nicht auf. Wir haben reichlich Zeit. Wir können uns zehn Minuten gönnen, um es durchzusprechen. Du begleitest mich doch, nicht wahr?«

»Ja, aber -«

»Du sagtest mir doch selbst, daß dein Chef dich in den nächsten Wochen nicht benötigen werde.«

»Ja, das ist richtig. Aber Monsieur Renauld deutet doch ausdrücklich an, daß seine Angelegenheit streng privat sei.«

»Ta - ta - ta. Überlasse das mir. Übrigens glaube ich den Namen zu kennen.«

»Es gibt einen bekannten südamerikanischen Multimillionär Renauld. Ich weiß nicht, ob es derselbe ist.«

»Aber zweifellos. Das erklärt die Erwähnung von Santiago. Santiago liegt in Chile und Chile in Südamerika! Ah, es geht ja herrlich vorwärts!«

»Herrgott, Poirot«, sagte ich in steigender Erregung, »ich ahne - Reichtum. Wenn wir Erfolg haben, machen wir unser Glück!«

»Sei nicht zu zuversichtlich, lieber Freund. Ein reicher Mann trennt sich nicht so leicht von seinem Geld. Ich sah einmal, wie ein bekannter Millionär einen vollbesetzten Tramwagen räumen ließ, eines halben Pennys wegen, der zu Boden gefallen war.«

Ich gab zu, davon gehört zu haben.

»Jedenfalls«, fuhr Poirot fort, »lockt mich nicht das Geld. Gewiß ist es angenehm, bei unseren Forschungen in jeder Hinsicht Vollmacht zu haben; man ist wenigstens sicher, die Zeit nicht umsonst zu vergeuden, aber das Problem selbst erweckt mein Interesse. Hast du das Postskriptum bemerkt? Was fiel dir daran auf?«

Ich überlegte.

»Deutlich erkennbar hatte er sich fest in der Hand, während er den Brief schrieb, aber am Schluß verlor er die Selbstbeherrschung und kritzelte, einer plötzlichen Eingebung folgend, diese verzweifelten Worte.«

Aber energisch schüttelte mein Freund den Kopf.

»Du irrst. Siehst du nicht, daß die Tinte der Unterschrift fast schwarz, das Postskriptum aber ganz blaß ist?«

»Na, und?« fragte ich erstaunt.

»Aber mein lieber Freund, strenge deine kleinen grauen Zellen doch ein wenig an! Ist es nicht klar? Monsieur Renauld schrieb seinen Brief. Ohne ihn zu löschen, las er ihn noch einmal aufmerksam durch. Dann, mit Bedacht, nicht impulsiv, fügte er jene letzten Worte hinzu und trocknete dann das Blatt.«

»Aber weshalb?«

»Parbleu! Damit es auf mich den Eindruck mache, den es auf dich gemacht hat.«

»Welchen?«

»Aber, aber - damit ich um so sicherer komme. Er überlas den Brief und war unzufrieden. Er war nicht dringlich genug!«

Er hielt inne, in seinen Augen glomm der grüne Funke auf, der immer innere Erregung verriet, und leise fügte er hinzu: »Und so, mon ami, da das Postskriptum nicht im Impuls, sondern nüchtern und kaltblütig hinzugefügt wurde, scheint die Dringlichkeit sehr groß zu sein, und wir müssen so schnell wie möglich seinem Rufe Folge leisten.«

»Merlinville«, sagte ich gedankenvoll vor mich hin. »Ich glaube, ich kenne diesen Namen.«

Poirot nickte.

»Es ist ein ganz kleiner, aber eleganter Ort! Liegt auf dem Wege zwischen Boulogne und Calais. Kommt jetzt rasch in Mode. Reiche, ruhebedürftige Engländer bringen ihn in die Höhe. Ich vermute. Renauld hat ein Haus in England?«

»Ja, in Rutland Gate, soweit ich mich entsinne. Er hat auch irgendwo in Hertfordshire einen großen Besitz, aber ich weiß wirklich wenig über ihn selbst, er lebt nicht sehr gesellig. Ich glaube, daß er in der City umfangreiche Geschäfte mit Südamerika abwickelt und den größten Teil seines Lebens draußen in Chile und Argentinien verbracht hat.«

»Nun, alles Nähere werden wir ja von dem Manne selbst erfahren. Also packen! Eine kleine Reisetasche für jeden von uns, und dann ein Taxi nach Victoria Station.«

»Und die Gräfin?« fragte ich lachend.

»Ach, kümmert mich nicht. Ihr Fall ist sicher belanglos.«

»Wieso kannst du das behaupten?«

»Weil sie sonst, statt zu schreiben, selbst gekommen wäre. Eine Frau kann nicht warten - vergiß das nie, Hastings.«

Um elf Uhr verließen wir Victoria Station in der Richtung nach Dover. Ehe wir abreisten, hatte Poirot ein Telegramm an Mr. Renauld abgeschickt, das ihm die Zeit unserer Ankunft in Calais meldete.

»Ich wundere mich, Poirot, daß du nicht einige Mittel gegen Seekrankheit mitgenommen hast«, bemerkte ich boshaft.

Mein Freund prüfte ängstlich das Wetter und blickte mich vorwurfsvoll an.

»Hast du die ausgezeichnete Methode Laverguiers vergessen? Ich befolge immer seine Verordnungen. Man wiegt sich hin und her, wendet den Kopf von links nach rechts, atmet ein und aus und zählt nach jedem Atemzug, bis sechs.«

»Hm«, wandte ich ein. »Ich fürchte, du wirst des Wiegens und Zählens reichlich müde werden, bis du nach Santiago oder Buenos Aires kommst, oder wo immer dein Bestimmungsort liegen mag.«

»Blöde Idee! Du glaubst doch nicht, daß ich nach Santiago fahren werde?«

»Renauld deutet es in seinem Briefe an.«

»Er kannte Hercule Poirots Arbeitsweise nicht. Ich laufe nicht hin und her, mache keine Reisen und rege mich nicht unnötig auf. Ich arbeite von innen heraus - von hier«, und er klopfte sich vielsagend an die Stirn. Wie gewöhnlich forderte diese Bemerkung meinen Widerspruch heraus.

»Das ist alles sehr schön, Poirot, aber ich glaube, du verfällst in die Gewohnheit, gewisse Dinge zu sehr zu unterschätzen. Ein Fingerabdruck trug schon oft zur Verhaftung und Überführung eines Mörders bei.«

»Und brachte zweifellos mehr als einen Unschuldigen an den Galgen«, bemerkte Poirot trocken.

»Aber das Studium der Fingerabdrücke und Fußspuren, von Zigarettenasche und anderem Zeug und all jene anderen Anhaltspunkte, die zur genauen Beobachtung aller Einzelheiten gehören, sind sicher von großer Bedeutung «

»Aber gewiß. Ich habe nie das Gegenteil behauptet. Der geübte Beobachter, der Sachverständige, ist zweifellos sehr brauchbar. Aber die anderen, die ,Hercule Poirots', stehen höher. Ihnen bringen die Sachverständigen die Tatsachen, ihre Aufgabe ist es, das System des Verbrechers, die logische Schlußfolgerung, die richtige Folge und Ordnung der Tatsachen und vor allem die wahre Psychologie des Falles zu erkennen. Du warst doch sicher auch bei Fuchsjagden, nicht?«

»Ja, ab und zu«, sagte ich etwas verblüfft über diesen plötzlichen Gesprächswechsel. »Warum?«

»Gut, um den Fuchs zu jagen, sind Hunde nötig, nicht wahr?«

»Rüden«, verbesserte ich freundlich. »Ja, natürlich.«

»Ja, aber du steigst doch nicht vom Pferd, um mitzulaufen, den Boden mit der Nase zu beschnüffeln und laut Wau-wau zu rufen?«

Gegen meinen Willen mußte ich nun lachen. Poirot nickte zufrieden.

»So. Du überläßt also die Arbeit den Hun ... , den Rüden. Aber von mir, Hercule Poirot, verlangst du, daß ich mich lächerlich mache, daß ich mich womöglich in nasses Gras legen soll, um fragwürdige Fußspuren zu prüfen, daß ich die Asche von Zigaretten zusammenscharre, wo ich die eine von der anderen nicht unterscheiden kann. Denk an das Geheimnis des Plymouth Expreß. Der gute Japp fuhr die Strecke ab, um sie genau zu überprüfen. Als er heimkehrte, konnte ich, der ich in meiner Wohnung verblieben war, ihm genau voraussagen, was er gefunden hatte.«

»So bist du der Ansicht, daß Japp seine Zeit vergeudet?«

»Durchaus nicht, da ja seine Beweise meine Ansicht bestätigen. Aber für mich wäre es Zeitverschwendung gewesen, wenn ich gefahren wäre. So verhält es sich auch mit den sogenannten Sachverständigen'. Erinnere dich an die Schriftprobe im Fall Cavendish. Die Fragestellung des Staatsanwaltes hatte ein Sachverständigenurteil auf Schriftengleichheit zur Folge, der Verteidiger bringt sie zur entgegengesetzten Ansicht. Die Ausdrucksweise ist sehr gewandt. Und das Ergebnis? Nichts, was uns nicht von Anfang an schon bekannt gewesen wäre. Die Schrift habe große Ähnlichkeit mit John Cavendishs Schrift. Und der grübelnde Verstand wird vor die Frage gestellt, ,weshalb?'. Weil es wirklich seine Schrift ist, oder weil jemand ein Interesse daran hatte, uns glauben zu machen, daß es seine Handschrift sei? Ich beantwortete die Frage, mon ami, und ich beantwortete sie richtig.«

Und Poirot, der mich zwar nicht überzeugt, aber zum Schweigen gebracht hatte, leimte sich befriedigt zurück.

Auf dem Schiff wußte ich mir eine bessere Beschäftigung, als die Einsamkeit meines Freundes zu stören. Das Wetter war prachtvoll und das Meer so glatt wie ein Mühlteich; so war ich durchaus nicht erstaunt, daß sich Laverguiers Methode wieder einmal glänzend bewährt hatte, was mir Poirot lächelnd bei der Landung in Calais versicherte. Dort harrte unser eine Enttäuschung; kein Wagen war für uns da, aber Poirot führte das darauf zurück, daß sein Telegramm verspätet eingetroffen sei.

»Da wir Vollmacht haben, werden wir uns einen Wagen mieten«, sagte er heiter. Und wenige Minuten später konnte man uns in dem wackeligsten aller Automobile, das je auf der Straße nach Merlinville gefahren war, dahinrattern sehen.

Ich war in bester Laune.

»Wundervolle Luft!« rief ich aus. »Das wird eine köstliche Fahrt!«

»Für dich schon, aber nicht für mich, denn mich erwartet Arbeit am Ende dieser Reise «

»Bah!« meinte ich fröhlich. »Du wirst alles aufdecken, Renaulds Lebensgefahr beseitigen, die angeblichen Mörder in Grund und Boden rennen, und alles endet mit einem Lorbeerkranz für dich.«

»Du bist sehr optimistisch, lieber Freund!«

»Ja, ich glaube fest an den Erfolg. Bist du nicht Hercule Poirot?«

Mein kleiner Freund jedoch wollte nicht anbeißen. Er betrachtete mich ernst.

»Du bist in seltsamer Stimmung, Hastings. Das bedeutet Unglück.«

»Unsinn. Jedenfalls teilst du meine Gefühle ja doch nicht.«

»Nein, aber ich habe Furcht.

»Furcht? Wovor?«

»Das weiß ich nicht, aber ich habe eine Ahnung - ein ... ich weiß wirklich nicht ... «

Er sprach so ernsthaft, daß es unwillkürlich Eindruck auf mich machte.

»Ich habe ein Gefühl«, sagte er langsam, »als ob dies ein großer Fall würde - ein langes, mühevolles Problem, das nicht leicht zu lösen sein dürfte.«

Ich hätte gern weiter gefragt, aber wir fuhren eben ins Städtchen Merlinville ein und verlangsamten das Tempo, um den Weg nach der Villa Genevieve zu erfragen.

»Geradeaus, Monsieur. Die Villa Genevieve liegt ungefähr eine halbe Meile hinter der Stadt. Sie können sie nicht verfehlen. Eine große Villa am Meer!«

Wir dankten dem Auskunftgeber und ließen bald die Stadt hinter uns. An einer Straßenkreuzung mußten wir halten. Ein Bauer humpelte mühsam des Weges, und wir warteten auf ihn, um uns aufs neue nach dem Wege zu erkundigen. Rechts neben der Straße stand ein kleines Häuschen, aber es war gar zu unansehnlich, um jene Villa zu sein, die wir suchten.

Während wir warteten, öffnete sich die Tür, und ein Mädchen kam heraus.

Der Bauer war jetzt neben uns, und der Wagenlenker beugte sich hinaus, um Auskunft zu erbitten.

»Die Villa Genevieve? Nur wenige Schritte weiter auf der rechten Seite, Monsieur. Wenn die Kurve nicht wäre, könnte man sie sehen.«

Der Chauffeur dankte und fuhr weiter. Meine Augen hingen wie gebannt an dem jungen Mädchen, das noch immer dastand, die Hand auf der Klinke, und uns beobachtete. Ich bin ein Schönheitsanbeter, und hier war eine Schönheit, an der wohl niemand vorübergehen konnte, ohne sie zu beachten. Sie war sehr hoch gewachsen, ihr Ebenmaß war das einer jungen Göttin, und ihr unbedecktes, goldigschimmerndes Haupt leuchtete im Sonnenlicht. Eines der schönsten Mädchen, das mir je begegnet war! Als wir die holprige Straße hinaufschwankten, wandte ich den Kopf, um sie noch einmal zu betrachten.

»Beim Zeus, Poirot«, rief ich aus, »hast du die junge Göttin gesehen?«

Poirot zog die Brauen hoch.

»Das fängt gut an!« murmelte er. »Schon hat er eine Göttin gesehen!«

»Aber zum Kuckuck, war es vielleicht keine?«

»Möglich, doch mir fiel dies nicht besonders auf ... «

»Aber du bemerktest sie doch?«

»Mon ami, nur selten sehen zwei Menschen ganz das gleiche. Du, zum Beispiel, sahst eine Göttin. Ich - Er zögerte.

»Ja?«

»Ich sah nur ein Mädchen mit angstvollen Augen«, sagte er ernst.

Aber in diesem Augenblick hielten wir an einem großen grünen Gittertor, und gleichzeitig entfuhr uns ein Ruf des Staunens. Vor uns stand ein gewichtiger Gendarm. Er hob die Hand, um uns den Weg zu versperren.

»Sie können nicht weiter, Messieurs.« - »Wir wollen zu Monsieur Renauld«, rief ich. »Wir werden erwartet. Dies ist doch seine Villa, nicht?«

»Ja, Monsieur, aber -«

Poirot beugte sich vor.

»Was aber?«

»Monsieur Renauld ist heute früh ermordet worden.«

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