KAPITEL SIEBZEHN DAS STURMAUGE

Sie verließen das schwebende Schloß in Richtung Backbord. Über ihnen war der stahlgraue Deckel, der in dieser Gegend als Himmel diente. Über den Spiegelblumenfeldern hatten die Wolken ihnen das Leben gerettet. Jetzt wirkte ihr Grau nur noch deprimierend.

Louis betätigte drei Sensoren in der Konsole, um seine Maschine in der gegenwärtigen Höhe zu verankern. Er mußte genau hinsehen, was er tat. Seine Rechte war fast taub wegen der Medikamente und der aufgesprühten Haut und den weißen Pflastern auf den Fingerspitzen. Er betrachtete seine Hand nachdenklich. Es hätte schlimmer kommen können…

Das Bild des Kzin erschien über der Konsole. »Louis, warum steigen wir nicht über die Wolken?«

»Weil wir vielleicht etwas übersehen könnten.«

»Aber wir haben unsere Karten!«

»Würden wir darauf ein Spiegelblumenfeld entdecken?«

»Sie haben recht«, erwiderte Der-zu-den-Tieren-spricht und schaltete ab.

Der Kzin und Teela hatten im Kartenraum gewartet, während Louis unten bei dem Priester gewesen war. Sie hatten die Zeit genutzt und konturierte Karten ihrer Route zum Randwall skizziert. Sie hatten sogar die Städte eingezeichnet, die auf dem Vergrößerungsschirm als helle gelbe Flecken zu erkennen gewesen waren.

Dann hatte irgend jemand Anstoß an der Funkfrequenz genommen, die sie benutzten. Reserviert von wem, zu welchem Zweck, und wie lange war das her? Warum hatte es bis zu diesem Zeitpunkt keine Probleme gegeben? Louis vermutete irgendeine alte Automatik, ähnlich der Meteoritenabwehr, die die Lying Bastard abgeschossen hatte. Vielleicht funktionierte diese hier nur noch hin und wieder, in unregelmäßigen Abständen.

Und die Translatorscheibe von Der-zu-den-Tieren-spricht war weißglühend geworden und an seiner Hand kleben geblieben. Es würde Tage dauern, bevor er die Hand wieder benutzen konnte, selbst unter Einsatz der »Wundermedizin« aus Militärbeständen der Kzinti. Die Sehnen benötigten Zeit, um sich zu regenerieren.

Die Karten machten es ein wenig leichter. Wiederaufflackernde Zivilisationen würden sich mit so gut wie hundertprozentiger Sicherheit zuerst in den großen Metropolen zeigen. Die kleine Flotte konnte diese Städte überqueren und nach Lichtern oder aufsteigendem Rauch Ausschau halten.

Nessus Rufknopf leuchtete auf der Konsole. Er leuchtete bereits seit Stunden. Louis antwortete endlich.

Er sah die wirre braune Mähne des Puppenspielers und die weiche Haut seines Rückens, die sich im Rhythmus seines Atems bewegte. Einen Augenblick lang glaubte Louis, der Puppenspieler sei erneut in katatonische Starre zurückgefallen. Dann hob er einen seiner dreieckigen Köpfe und flötete: »Guten Tag, Louis! Gibt es Neuigkeiten?«

»Wir entdeckten ein schwebendes Bauwerk«, berichtete Louis. »Mit einem Kartenraum.« Er erzählte dem Puppenspieler von dem Schloß, das die Eingeborenen Himmel getauft hatten, von dem Kartenraum darin, dem Bildschirm, den Globen an den Wänden und den Karten darunter, von dem Priester und dessen Geschichte und Weltbild. Eine ganze Zeitlang beantwortete er die Fragen des Puppenspielers, bis er selbst eine stellte.

»Nessus, funktioniert Ihre Translatorscheibe eigentlich noch?«

»Nein, Louis. Vor kurzer Zeit wurde sie mit einem Mal vor meinen Augen glühend heiß. Ich habe mich tödlich erschrocken. Ich wagte nicht, in Katatonie zu versinken, sonst hätte ich es bestimmt getan. Aber ich weiß nicht, was es zu bedeuten hatte.«

»Nun, die restlichen Scheiben sind ebenfalls zerstört. Teelas Scheibe ist in ihrer Box geschmolzen und hat eine Brandspur auf ihrem Flugrad hinterlassen. Der-zu-den-Tieren-spricht und ich haben uns die Hände verbrannt. Wissen Sie was? Ich schätze, wir müssen die Sprache der Ringwelt lernen.«

»Ja, Louis.«

»Ich wünschte, der alte Mann hätte etwas über den Niedergang der Ringzivilisation gewußt. Ich hatte eine Idee…« Und er berichtete dem Puppenspieler von seiner Theorie der mutierten Kolibakterien.

»Gut möglich«, sagte Nessus. »Nachdem sie erst die Technik der Transmutation verloren hatten, konnten sie sich nie wieder erholen.«

»Oh? Warum nicht?«

»Sehen Sie sich um, Louis. Was sehen Sie?«

Louis blickte sich um. Er entdeckte ein aufziehendes Gewitter, ein gutes Stück voraus; er sah Hügel, Täler, eine weit entfernte Stadt, zwei Berggipfel, deren Spitzen im schmutziggrauen, halb transparenten Farbton des Ringweltfundaments schimmerten…

»Landen Sie irgendwo auf der Ringwelt und graben Sie nach unten. Was finden Sie?«

»Dreck«, sagte Louis. »Und?«

»Und dann?«

»Noch mehr Dreck. Felssohle. Ringweltfundament«, sagte Louis. Während er dies sagte, schien sich die Landschaft ringsum zu verändern. Die Sturmwolken, Berge, die Stadt spinwärts und die Stadt, die hinter ihnen schrumpfte, der leuchtend helle Fleck weit weg am unendlichen Horizont, der vielleicht ein weiteres Meer aus Spiegelblumen war… all das zeigte sich plötzlich als die Hülse, die es eigentlich war. Der Unterschied zwischen einem echten Planeten und diesem hier war der gleiche wie der zwischen einem echten menschlichen Gesicht und einer hohlen Maske.

»Graben Sie auf einer x-beliebigen Welt«, fuhr der Puppenspieler fort. »Irgendwann stoßen Sie zwangsläufig auf irgendeine Art von Metallerz. Hier finden Sie vierzig Fuß Erdboden — und dann das Ringweltfundament. Dieses Material kann nicht verarbeitet werden. Wenn man es durchstoßen könnte, würde der Schürfer auf Vakuum treffen — ein schlimmer Lohn für seine Mühen.

Setzen Sie auf den Ring eine Zivilisation, die imstande ist, den Ring zu errichten. Notwendigerweise besitzt sie die Technologie billiger Materieumwandlung. Sobald diese Zivilisation die Technologie der Materieumwandlung verliert — gleichgültig, aus welchem Grund — was würde bleiben? Sicherlich hat sie keine Rohstoffe gelagert. Es gibt kein Erz. Das gesamte Metall des Rings wäre in Maschinen und Werkzeugen verbaut, der Rest wäre Rost. Selbst interplanetare Raumfahrt würde ihnen nicht weiterhelfen, weil es im gesamten System nichts mehr gäbe, was abgebaut werden könnte. Die Zivilisation würde niedergehen und nie wieder auferstehen.«

Leise fragte Louis: »Wann haben Sie das herausgefunden?«

»Schon vor einiger Zeit. Es schien für unser Überleben ohne Bedeutung.«

»Also haben Sie es auch nicht erwähnt, richtig?« sagte Louis. Wie viele Stunden hatte er sich mit diesem Problem beschäftigt! Und plötzlich schien alles so offensichtlich. Welch eine Falle! Welch eine schreckliche Falle für denkende Wesen!

Louis sah nach vorn (und notierte beiläufig, daß Nessus Bild von der Konsole verschwunden war). Der Sturm war inzwischen näher, und er war groß. Zweifellos würden die Schallfalten damit fertig, doch…

Es war besser, ihn zu überfliegen. Louis zog den Steuergriff nach hinten, und die Maschinen stiegen dem grauen Dach der Welt entgegen, den Wolken, die den Himmel bedeckten, seit sie das Schloß gefunden hatten.

Louis Gedanken schweiften träge ab…

Es dauerte eine Zeitlang, eine neue Sprache zu lernen. Und jedesmal eine neue Sprache zu lernen, wenn sie irgendwo landeten, wäre ein Ding der Unmöglichkeit. Die Frage wurde immer bedeutsamer. Wie lange schon waren die Bewohner der Ringwelt in die Barbarei zurückgefallen? Wie lange war es her, daß alle die gleiche Sprache gesprochen hatten? Wie weit hatten sich die regionalen Dialekte von der ursprünglichen Sprache entfernt?

Das Universum verschwamm, dann wurde es vollkommen grau. Sie waren in den Wolken. Nebelfetzen umströmten die Blase von Louis’ Schallfalte. Dann durchbrachen die Maschinen die Wolkendecke.

Vom endlosen Horizont her starrte ein riesiges blaues Auge Louis Wu über die unendliche Wolkendecke hinweg an.

Wäre Gottes Kopf so groß gewesen wie der irdische Mond, dann hätte das blaue Auge die passende Größe besessen.


Es dauerte einen Augenblick, bis Louis Wu begriff, was er dort sah. Einen weiteren Augenblick lang weigerte sich sein Verstand einfach, es zu glauben. Das Bild wollte verblassen wie ein schlecht beleuchtetes Holo.

Durch das Summen in den Ohren hörte/spürte er, wie jemand schrie.

Bin ich tot? fragte er sich.

Und: Ist das Nessus, der so schreit? Aber er hatte die Verbindung unterbrochen.

Es war Teela. Teela, die sich in ihrem ganzen Leben noch niemals vor irgend etwas gefürchtet hatte. Teela hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und versteckte sich vor dem Blick dieses riesigen blauen Auges.

Es lag Steuerbord voraus, und es bewegte sich nicht. Es schien die kleine Gruppe anzuziehen.

Bin ich tot? Ist das der Schöpfer, der gekommen ist, um über mich zu richten?

Welcher Schöpfer?

Es war an der Zeit für Louis Wu, sich zu entscheiden, an welchen Schöpfer er glaubte, wenn überhaupt.

Das Auge war Blau und Weiß, mit einer weißen Augenbraue und einer dunklen Pupille. Weiß von Wolken, Blau wegen der Entfernung. Als wäre es ein Teil des Himmels selbst.

»Louis!« kreischte Teela. »Unternimm etwas, Louis!«

Das ist nicht wahr, dachte Louis. Seine Kehle war wie zugeschnürt. Sein Verstand rannte in seinem Kopf hin und her wie ein eingesperrtes Tier. Das Universum ist riesig, aber einiges ist trotzdem unmöglich.

»Louis!«

Louis fand seine Stimme wieder. »Sprecher! He, Sprecher-zu-denTieren! Was sehen Sie?«

Der Kzin benötigte einige Zeit für seine Antwort. Seine Stimme klang merkwürdig tonlos. »Ich sehe ein riesiges menschliches Auge genau vor uns.«

»Menschlich?«

»Ja. Sehen Sie es ebenfalls?«

Das Wort, das Louis niemals in den Sinn gekommen wäre, änderte alles. Menschlich. Ein menschliches Auge. Wäre es eine übernatürliche Erscheinung gewesen, hätte der Kzin ein Kzintiauge gesehen — oder überhaupt nichts.

»Dann gibt es eine natürliche Erklärung«, sagte Louis. »Es muß eine geben.«

Teela blickte ihn hoffnungsvoll an.

Aber wieso schien es sie dann anzuziehen?

»Oh!« sagte Louis und riß das Steuer herum. Die Räder schwenkten spinwärts.

»Das ist nicht unser Kurs, Louis!« sagte Der-zu-den-Tieren-spricht augenblicklich. »Bringen Sie uns wieder auf Kurs, oder übergeben Sie mir das Steuer.«

»Sie denken doch wohl nicht daran, durch dieses Ding hindurchzusteuern, oder?«

»Es ist zu groß, um einen Umweg zu fliegen.«

»Sprecher, es ist nicht größer als der Plato-Krater. Wir können es in einer Stunde umrunden. Warum ein Risiko eingehen?«

»Wenn Sie Angst haben, dann scheren Sie aus der Formation aus, Louis. Fliegen Sie um das Auge herum und treffen Sie mich auf der anderen Seite wieder. Teela, Sie können das gleiche tun. Ich fliege hindurch.«

»Warum?« Louis’ Stimme klang in seinen eigenen Ohren erschüttert. »Glauben Sie vielleicht, daß eine… zufällige Wolkenformation eine Herausforderung an Ihre Männlichkeit darstellt?«

»Meine was? Louis, meine Fähigkeit zur Fortpflanzung steht nicht zur Diskussion. Es geht hier um meinen Mut.«

»Aber warum?« Die Räder jagten mit zwölfhundert Meilen in der Stunde über den Himmel. »Warum steht Ihr Mut zur Diskussion? Sie schulden mir eine Antwort. Sie riskieren unser aller Leben.«

»Nein. Sie können das Auge umfliegen.«

»Und wie sollen wir Sie hinterher wiederfinden?«

Der Kzin dachte nach. »Da haben Sie recht. Haben Sie von der Ketzerei des Kdapt-Predigers gehört?«

»Nein.«

»In den dunklen Tagen nach dem Vierten Waffenstillstand mit der Menschheit begründete Kdapt-Prediger eine neue Religion. Er wurde vom Patriarchen selbst im Duell Mann gegen Mann getötet, da er seinen Familiennamen trug, doch die ketzerische Religion überlebt im Geheimen bis heute. Kdapt-Prediger glaubte, daß Gott der Schöpfer die Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen hat.«

»Die Menschen? Aber… Kdapt-Prediger war doch ein Kzin?«

»Ja. Ihr habt immer wieder gewonnen, Louis. Drei Jahrhunderte lang. Vier Kriege. Und immer habt ihr gewonnen. Die Anhänger von Kdapt-Prediger trugen Menschenmasken, wenn sie beteten. Sie hofften, den Schöpfer lange genug zu narren, um einen Krieg zu gewinnen.«

»Und als Sie dieses Auge sahen, das vom Horizont her auf uns starrt…«

»Ja, Louis.«

»Meine Güte.«

»Ich schätze, meine Theorie klingt wahrscheinlicher als Ihre, Louis. Eine zufällige Wolkenformation! Wirklich, Louis!«

Louis’ Verstand funktionierte endlich wieder. »Streichen Sie meinetwegen zufällig. Vielleicht haben die Ringweltkonstrukteure das Auge zu ihrer eigenen Erbauung geschaffen, oder als einen Wegweiser zu irgend etwas.«

»Zu was denn?«

»Wer weiß? Irgend etwas Großes. Ein Vergnügungspark, eine Kirche. Das Hauptquartier der Optometervereinigung. Bei der Technologie, die ihnen zur Verfügung stand, und bei diesem Platz kann es alles Mögliche sein!«

»Ein Gefängnis für Spanner und Voyeure«, sagte Teela, die mit einem Mal wieder zur Vernunft zu kommen schien. »Eine Universität für Privatdetektive. Oder ein Testbild von einem gigantischen 3DKino! Ich hatte genausoviel Angst wie Sie, Sprecher!« Ihre Stimme klang wieder normal. »Ich dachte, es sei… ich weiß nicht, was ich dachte. Aber ich bleibe bei Ihnen. Wir fliegen zusammen hindurch.«

»Wie Sie meinen, Teela.«

»Wenn das Auge blinzelt, sind wir beide tot.«

»Die Mehrheit hat immer recht«, seufzte Louis. »Ich werde Nessus anrufen.«

»Finagle, ja! Er ist sicher schon hindurch oder außen herum.«

Louis lachte härter, als er eigentlich vorgehabt hatte. Er hatte sich sehr erschrocken. »Ihr glaubt doch wohl nicht im Ernst, daß Nessus den Kundschafter für uns spielt, oder doch?«

»Bitte?«

»Nessus ist ein Puppenspieler. Er hat einen Bogen geschlagen, nachdem er außer Sichtweite war. Anschließend hat er sein Flugrad wahrscheinlich mit dem von Der-zu-den-Tieren-spricht gekoppelt. Auf diese Weise kann Der-zu-den-Tieren-spricht ihn niemals einholen, und wir begegnen jeder möglichen Gefahr vor ihm.«

»Sie entwickeln ein bemerkenswertes Talent, wie ein Feigling zu denken, Louis«, sagte der Kzin.

»Seien Sie froh. Wir befinden uns auf einer fremden Welt. Wir haben fremde Denkweisen bitter nötig.«

»Schön, rufen Sie ihn an. Sie beide scheinen ja ziemlich ähnlich zu denken. Ich beabsichtige, durch das Auge zu fliegen. Ich will wissen, was dahinter liegt. Oder darin.«

Louis setzte sich mit Nessus in Verbindung.


Im Holo über der Konsole war nur der Rücken des Puppenspielers zu sehen. Seine Mähne bewegte sich langsam im Rhythmus seines Atems.

»Nessus!« rief Louis. Dann noch einmal, lauter: »Nessus!«

Der Puppenspieler zuckte zusammen. Ein dreieckiger Kopf hob sich fragend.

»Ich hatte schon Angst, ich müßte die Sirene benutzen!«

»Gibt es einen Notfall?« Alarmiert zitternd kamen beide Köpfe hoch.

Louis fand es unmöglich, das Starren des riesigen Auges vor ihm zu erwidern. Sein Blick glitt immer wieder zur Seite. »So etwas Ähnliches«, sagte er. »Meine verrückten Kameraden sind dabei, Selbstmord zu begehen. Ich denke nicht, daß wir uns leisten können, sie zu verlieren.«

»Erklären Sie das bitte genauer.«

»Sehen Sie nach vorn und sagen Sie mir, ob sie ebenfalls eine Wolkenformation erkennen, die wie ein menschliches Auge aussieht?«

»Ich sehe sie«, antwortete der Puppenspieler.

»Irgendeine Idee, wodurch sie zustande kommt?«

»Offensichtlich handelt es sich um einen Sturm. Sie werden sicher inzwischen selbst herausgefunden haben, daß es auf der Ringwelt keine wirbeiförmigen Stürme geben kann. Keine Hurrikans.«

»Oh?« Louis hatte noch nicht darüber nachgedacht.

»Die Spiralform eines Hurrikans kommt durch Corioliskräfte zustande, durch die unterschiedliche Grundgeschwindigkeit zweier Luftmassen auf verschiedenen Breitengraden. Ein Planet ist ein Rotationsgeoid. Wenn zwei Luftmassen sich aufeinander zubewegen, um ein partielles Vakuum aufzufüllen, beispielsweise ein Tiefdruckgebiet, dann treibt ihr eigener Schwung sie aneinander vorbei. Auf diese Weise bildet sich ein Wirbel.«

»Ich weiß, wie Hurrikans zustande kommen.«

»Dann werden Sie sicher auch wissen, daß auf der Ringwelt sämtliche benachbarten Luftmassen die gleiche Grundgeschwindigkeit besitzen. Es kann keinen Wirbel geben.«

Louis sah nach vorn, auf den Sturm in Gestalt eines Auges. »Aber wie würde der resultierende Sturm aussehen? Wahrscheinlich würde es überhaupt keinen geben, denke ich. Die Luft zirkuliert nicht, fertig.«

»Das stimmt nicht, Louis. Warme Luft steigt nach oben, kalte Luft sinkt wieder herab. Allerdings könnte dieser Effekt keinen Sturm wie diesen da hervorbringen.«

»Das ist richtig.«

»Was will denn Der-zu-den-Tieren-spricht unternehmen?«

»Er will durch das Zentrum dieses Ahnherrn Finagles, und Teela folgt ihm treu auf den Fersen.«

Der Puppenspieler stieß einen Pfiff aus, so rein und klar wie das Licht eines Rubinlasers. »Das könnte gefährlich sein. Die Schallfalten würden sie vor jedem gewöhnlichen Sturm schützen, doch das dort sieht nicht wie ein gewöhnlicher Sturm aus…«

»Ich habe mir überlegt, daß er vielleicht künstlichen Ursprungs sein könnte…«

»Ja… Die Ringweltler haben wahrscheinlich ihr eigenes ringumspannendes Zirkulationssystem errichtet. Allerdings müßte dieses System aufgehört haben zu funktionieren, als die Energieversorgung zusammenbrach. Ich sehe nicht… ah, jetzt habe ich es, Louis.«

»Was ist es?«

»Wenn wir eine Art Abfluß postulieren, eine Region, wo die Luft verschwindet, nahe dem Zentrum des Sturms… Der ganze Rest folgt von allein.

Denken Sie mit. Der Abfluß erzeugt ein partielles Vakuum. Luftmassen fließen von spinwärts und antispinwärts herbei…«

»Und von Steuerbord und Backbord.«

»Das können wir ruhig ignorieren«, unterbrach ihn der Puppenspieler rasch. »Doch die Luft, die von Spin herankommt, ist ein ganz klein wenig leichter als die umgebende Luft. Sie steigt nach oben. Luft aus der entgegengesetzten Richtung, aus Antispin, ist ein ganz klein wenig schwerer…«

Louis kämpfte mit einer unklaren Vorstellung. »Wieso das?«

»Die Ringrotation, Louis. Was von Antispin kommt, besitzt eine etwas größere Geschwindigkeit als die Ringrotation, Louis. Die Zentrifugalkräfte führen dazu, daß die Luft nach unten sinkt.

Diese Luftmassen bilden das untere Lid des Sturmauges. Die Luft von spinwärts steigt nach oben und bildet das obere Lid. Ein Wirbeleffekt entsteht, doch die Achse des Wirbels verläuft horizontal, anstatt vertikal wie auf einem Planeten.«

»Der Effekt ist minimal!«

»Es ist der einzige Effekt, Louis. Nichts stört ihn, nichts dämpft ihn. Vielleicht hat er Jahrtausende gebraucht, um das aufzubauen, was wir jetzt sehen.«

»Vielleicht. Vielleicht.« Das Auge schien jetzt weniger furchteinflößend. Wie der Puppenspieler gesagt hatte, es mußte eine Art Sturm sein. Es hatte alle Farben, die ein Sturm hat; schwarze Wolken, von der Sonne angestrahlte weiße Wolken hoch oben und das dunkle »Auge« des Sturms, die »Iris« des Riesenauges.

»Das Problem ist natürlich der Abfluß. Warum verschwindet Luft in der Nähe vom Zentrum des Sturms?«

»Vielleicht eine Pumpe, die noch immer arbeitet.«

»Ich bezweifle das, Louis. Wäre dem so, müßten die Störungen in der Atmosphäre dieser Gegend geplant sein.«

»Also?«

»Erinnern Sie sich an die Stellen, wo das nackte Fundament der Ringwelt durch Erde und Felssohle zu Tage treten? Diese Erosion ist sicher nicht geplant. Ist Ihnen aufgefallen, daß die nackten Stellen sich häufen, je weiter wir uns diesem Auge nähern? Das Auge des Sturm muß das Wetter im Umkreis von Zehntausenden von Meilen durcheinandergebracht haben. In einem Gebiet, das größer ist als Ihre oder meine Welt.«

Diesmal war Louis an der Reihe zu pfeifen. »Tanj und zugenäht! Aber… Oh, jetzt verstehe ich! Es muß ein Loch von einem Meteoriten geben, im Zentrum des Sturmauges!«

»Genau. Verstehen Sie, wie bedeutsam diese Entdeckung ist? Das Ringweltfundament kann durchbrochen werden.«

»Aber mit nichts, womit wir bewaffnet wären.«

»Zugegeben. Wir müssen herausfinden, ob das Loch wirklich da ist.«

Louis erschien seine abergläubische Panik bereits wie ein verblassender Traum. Der analytische Verstand des Puppenspielers war ansteckend und beruhigend zugleich. Louis Wu blickte furchtlos in das riesige Auge am Horizont und sagte: »Wir müssen hinfliegen und nachsehen. Sie glauben, es ist sicher, wenn wir durch die Iris fliegen?«

»Es sollte nichts weiter als ruhige, klare Luft in einem schwachen Vakuum sein.«

»In Ordnung. Ich sage es den anderen. Wir werden alle durch das Auge des Sturms fliegen.«


Der Himmel wurde immer dunkler, je weiter sie sich der Iris näherten. Wurde es bereits Nacht? Unmöglich zu sagen. Die immer dichter werdenden, schwarzen Wolken erzeugten ihre eigene Finsternis.

Das Auge maß von einem Rand zum anderen wenigstens einhundert Meilen, und es war gut und gern vierzig Meilen hoch. Seine Ränder schienen zu verschwimmen, als die kleine Gruppe näher kam. Schichten und Strömungen wurden sichtbar. Die wirkliche Gestalt des Auges entpuppte sich nach und nach: Ein Tunnel aufgewühlter Stürme, relativ einheitlich, die dort, wo sie aufeinandertrafen, das Bild eines menschlichen Auges erzeugten.

Trotzdem sah es noch immer wie ein Auge aus, während sie immer weiter auf die Iris zu rasten.

Es war, als würden sie in das Auge Gottes fallen. Der sichtbare Effekt war atemberaubend, furchteinflößend, schrecklich und beinahe komisch übertrieben. Louis wollte lachen und weinen zugleich. Oder fliehen. Schließlich reichte ein einziger Beobachter aus, um herauszufinden, ob es ein Loch im Ringweltboden gab oder nicht. Louis würde außen herum fliegen…

Dann waren sie drin.

Sie flogen durch einen schwarzen Korridor, der von Blitzen erhellt wurde. Die Blitze zuckten kontinuierlich, ohne Pause, vor und hinter ihnen und auf allen Seiten. Rings um die kleine Gruppe herum war die Luft ruhig. Dahinter, außerhalb der Iris, wirbelten dunkle, undurchdringliche Wolken mit Geschwindigkeiten, die größer waren als die jedes irdischen Hurrikans.

»Der Blätteresser hatte recht«, hörte Louis den Kzin brüllen. »Es ist nur ein Sturm, weiter nichts.«

»Eigenartig, nicht wahr? Er war der einzige von uns Vieren, der nicht in Panik ausbrach, als er das Auge entdeckte. Ich schätze, Puppenspieler sind nicht abergläubisch«, schrie Louis Wu zurück.

»Ich kann etwas sehen, ein Stück weit voraus!« rief Teela.

Eine Senke in der Wand des Tunnels. Louis grinste angespannt und ließ die Hände leicht auf den Kontrollen. Möglicherweise herrschte über der Senke ein starker Abwind oder Sog.

Er war nicht mehr so mißtrauisch, so aufgeregt wie zu dem Zeitpunkt, als sie in das Auge eingeflogen waren. Was konnte geschehen, wo selbst ein Puppenspieler Sicherheit wähnte?

Wolken und Blitze wirbelten ringsum, während sie sich der Senke näherten.

Sie verlangsamten ihren Flug und schwebten über der Senke. Die Maschinen kämpften gegen Abwinde. Durch das dumpfe Wimmern der Schallfalten hindurch kreischte der Sturm in ihren Ohren.

Es war, als würden sie in einen Trichter blicken. Offensichtlich verschwand dort unten Luft. Wurde sie mit hoher Geschwindigkeit abgepumpt, oder verschwand sie durch ein Loch im Boden der Ringwelt zwischen den Sternen? Es war nicht viel zu sehen…

Louis bemerkte nicht, daß Teela ihr Flugrad tiefer steuerte. Sie war zu weit entfernt, das flackernde Licht der Blitze zu irritierend, und Louis starrte in den Trichter. Plötzlich erkannte er einen winzigen Punkt, der nach unten gerissen wurde. Er dachte sich nichts dabei.

Dann, abgeschwächt durch das Heulen des Sturms, hörte er Teelas Schrei.

Ihr Gesicht war deutlich auf der Interkomkonsole zu sehen. Sie blickte nach unten, und sie schien schreckliche Angst zu haben.

»Was ist los?« bellte Louis.

Ihre Antwort war kaum zu verstehen. »… hat mich gepackt!«

Louis sah nach unten.

Zwischen den wirbelnden konischen Wänden war der Trichter klar. Er war merkwürdig gleichmäßig erhellt, nicht durch Blitze, sondern durch Kathodenstrahleffekte, die durch Potentialdifferenzen in einem beinahe vollständigen Vakuum zustande kamen. Louis sah einen Sprenkel dort unten, den er nicht identifizieren konnte, irgend etwas, das möglicherweise ein Flugrad sein konnte — wenn irgend jemand dumm genug war, sein Flugrad in einen Malstrom zu steuern, nur um durch ein winziges Loch am Boden einen besseren Blick hinaus in den Weltraum zu haben.

Louis wurde ganz schlecht. Es gab nichts, das er tun konnte, überhaupt nichts… Er wandte den Blick ab… und sah Teelas Kopf über seiner Instrumentenkonsole. Sie blickte in etwas Furchtbares hinunter…

Blut strömte ihr aus beiden Nasenlöchern.

Louis sah, wie das Entsetzen aus ihrem Gesicht wich, um einer weißen, leichenähnlichen Gelassenheit Platz zu machen. Sie war kurz davor, das Bewußtsein zu verlieren.

Sauerstoffmangel?

Die Schallfalte würde die Luft gegen den Sog des Vakuums festhalten, doch sie mußte zuerst entsprechend eingestellt werden.

Halb bewußtlos sah Teela zu Louis Wu hinauf. Unternimm etwas, bettelte ihr Blick. Hilf mir.

Ihr Kopf fiel vornüber auf die Konsole.

Louis’ Zähne hatten sich tief in seine Unterlippe gegraben. Er schmeckte das Blut. Er sah in den Trichter aus wirbelnden, neonfarben erleuchteten Wolken, und ihm wurde schwindlig wie beim Blick in den Wasserwirbel eines Badewannenabflusses. Er entdeckte den winzigen Punkt, der Teelas Flugrad sein mußte…

… und sah, wie er einen Satz nach vorn machte, direkt in die Wand aus wirbelnden Wolken hinein.

Sekunden später sah er voraus einen Kondensstreifen auftauchen, weit voraus im horizontalen Auge des Hurrikans. Ein winzig schmaler weißer Streifen mit einer scharfen Spitze. Irgendwie zweifelte Louis nicht eine Sekunde daran, daß es Teelas Flugrad war.

»Was ist passiert?« rief Der-zu-den-Tieren-spricht über Interkom.

Louis schüttelte den Kopf. Er konnte nicht antworten. Er fühlte sich ganz taub. Sein Verstand war kurzgeschlossen, und seine Gedanken bewegten sich unablässig im Kreis, wieder und wieder.

Teelas Gesicht im Interkom lag noch immer auf der Konsole. Louis sah kaum mehr als ihr Haar. Sie saß bewußtlos auf einem unkontrollierten Flugrad, das sich mit mehr als zweifacher Schallgeschwindigkeit entfernte. Irgend jemand mußte wirklich etwas unternehmen…

»Sie stand im Begriff zu sterben, Louis! Kann es sein, daß Nessus einen Mechanismus aktiviert hat, von dem wir nichts wissen?«

»Nein. Ich glaube eher, daß… nein.«

»Ich glaube, genau das ist passiert«, beharrte Der-zu-den-Tierenspricht.

»Sie haben doch gesehen, was passiert ist! Sie wurde ohnmächtig, und ihr Kopf krachte auf die Instrumentenkonsole. Im gleichen Augenblick schoß ihr Flugrad aus dem Trichter, als wäre der Teufel hinter ihr her! Sie hat mit der Stirn die richtigen Kontrollen berührt!«

»Unsinn.«

»Wenn Sie meinen.« Louis wollte schlafen, nicht mehr denken…

»Überlegen Sie doch, wie unwahrscheinlich das ist, Louis!« Endlich begriff der Kzin. Sein Mund blieb offen, während er über seine eigenen Worte nachdachte. Er kam zu einem Urteil. »Nein. Unmöglich.«

»Wie Sie meinen.«

»Sie wäre niemals mit uns gekommen. Wenn ihr Glück auch nur ein ganz klein wenig verläßlich wäre, hätte Nessus sie niemals gefunden! Sie wäre zu Hause auf der Erde geblieben.«

Blitze zuckten und erleuchteten den langen, langen Tunnel aus wirbelnden Sturmwolken. Eine schmale schnurgerade Linie zeigte genau geradeaus: Der Kondensstreifen von Teelas Flugrad. Das Rad selbst war längst außer Sichtweite.

»Louis, wir wären niemals auf die Ringwelt abgestürzt!«

»Darüber denke ich immer noch nach.«

»Vielleicht sollten Sie lieber darüber nachdenken, wie wir Teela retten können.«

Louis nickte. Ohne irgendein Gefühl von Dringlichkeit drückte er den Rufknopf für Nessus — eine Sache, die Der-zu-den-Tierenspricht niemals getan hätte.

Der Puppenspieler antwortete augenblicklich, als hätte er nur auf ein Zeichen gewartet. Louis war überrascht festzustellen, daß der Kzin in der Leitung blieb. Rasch erzählte Louis dem Puppenspieler, was sich zugetragen hatte.

»Es scheint, daß wir uns beide in Teela geirrt haben«, sagte Nessus schließlich.

»Wie Sie meinen.«

»Sie flog mit äußerster Kraft. Ich wüßte nicht, wie sie das allein mit ihrer Stirn hätte bewerkstelligen können. Sie mußte zuerst die Sicherung überbrücken. Keine Chance, so etwas zufällig zu schaffen.«

»Wo ist die Sicherung?« Der Puppenspieler zeigte es ihm. Louis sagte: »Möglicherweise hat sie aus reiner Neugier den Finger hineingesteckt.«

»Wirklich?«

Der-zu-den-Tieren-spricht kam Louis’ Antwort zuvor. »Was können wir tun?«

»Sie soll sich bei mir melden, sobald sie wieder aufwacht«, sagte Nessus steif. »Ich werde ihr zeigen, wie sie auf normalen Schub zurückschaltet und wie sie uns finden kann.«

»Und bis dahin können wir nichts unternehmen?«

»Ganz genau. Es besteht die Gefahr, daß das Antriebssystem teilweise zerstört wird. Allerdings wird sie nicht abstürzen, und ihre Maschine wird Hindernissen automatisch ausweichen. Sie fliegt uns mit ungefähr Mach Vier davon. Die größte Gefahr, die ihr im Augenblick droht, ist Sauerstoffmangel, was zu Gehirnschäden führen kann. Allerdings vermute ich, daß sie auch davor sicher ist.«

»Wieso das? Anoxie ist gefährlich!«

»Sie hat einfach zuviel Glück«, antwortete Nessus.

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