Louis Wu kannte Leute, die ihre Augen schlossen, wenn sie eine Transferkabine benutzten. Der rasche Wechsel der Umgebung löse bei ihnen Schwindelanfälle aus, behaupteten sie. Für Louis war das Unsinn; andererseits hatten einige seiner Freunde noch viel seltsamere Anwandlungen.
Er behielt die Augen offen, während er wählte. Die Aliens, die ihn beobachtet hatten, verschwanden. Jemand rief: »Hallo! Louis ist zurück!«
An der Tür entstand ein Auflauf. Louis mußte die Tür gegen den Andrang öffnen. »Ihr widerlichen Narren! Ist denn noch keiner von euch nach Hause gegangen?« Er breitete die Arme aus, um sie alle einzuschließen, schob sich wie ein Schneepflug nach vorne und drängte sie von der Kabine zurück. »Macht Platz, ihr Stoffel! Ich erwarte noch mehr Gäste!«
»Großartig!« brüllte eine Stimme an seinem Ohr. Anonyme Hände ergriffen seine Hand und zwängten seine Finger um die Rundung eines Trinkgefäßes. Louis drückte die sieben oder acht, die er mit den Armen umfassen konnte, an sich, und strahlte sein Empfangskomitee an.
Louis Wu. Aus der Entfernung sah er mit seiner blaßgelben Haut und dem wehenden weißen Haar aus wie ein Orientale. Seine kostbare blaue Robe hing achtlos an ihm herunter und schien seine Bewegungsfreiheit einzuschränken, doch das war nicht der Fall.
Aus der Nähe betrachtet war alles Betrug. Louis’ Haut war kein blasses Gelbbraun, sondern ein glattes Chromgelb, die Farbe eines Fu-Man-Chu aus einem Comicheft. Der Zopf war viel zu dick und nicht weiß vom Alter, sondern gefärbt. Es war ein strahlendes, reines Weiß mit einem Hauch von Blau, die Farbe weißer Zwergsonnen. Wie bei allen Flatlandern bestand Louis’ Äußeres nur aus Kosmetik.
Flatlander. Man sah es auf den ersten Blick. Louis’ Züge waren weder kaukasisch noch mongolid noch negrid, obwohl Spuren von allen dreien vorhanden waren: eine einheitliche Mischung, die Jahrhunderte zu ihrer Entstehung benötigt hatte. Bei einer Erdanziehung von 9,98 Metern pro Sekundenquadrat war seine Haltung von einer unbewußten Natürlichkeit. Louis hob das Trinkgefäß und strahlte seine Gäste an.
Wie es der Zufall wollte, lächelte er in ein Paar reflektierender Silberaugen, nur einen Zoll von seinen eigenen entfernt.
Eine gewisse Teela Brown war irgendwie Nase an Nase und Brust an Brust mit Louis gelandet. Ihre Haut war blau, und sie steckte in einem Netz aus Silberfäden. Ihr Haarschopf war von feuerroten Strähnen durchzogen, die Augen waren konvexe Spiegel. Teela war zwanzig. Louis hatte schon vorher mit ihr gesprochen. Ihre Konversation war seicht gewesen, voller Klischees und billigem Enthusiasmus — doch Teela war sehr hübsch.
»Ich muß einfach wissen«, hauchte sie atemlos, »wie Sie einen Trinoc zum Kommen bewegen konnten?«
»Sagen Sie nicht, er ist noch hier!«
»O nein. Ihm ging die Luft aus, und er mußte nach Hause.«
»Eine kleine Notlüge«, klärte Louis sie auf. »Ein trinocscher Luftbereiter hält zwei Wochen vor. Nun, wenn Sie es genau wissen wollen: dieser Trinoc war vor Jahren einmal für ein paar Wochen mein Gast und Gefangener. Sein Schiff war am Rand des Bekannten Weltraums zu Bruch gegangen und seine Mannschaft tot. Ich mußte ihn nach Margrave schaffen, wo man eine Umweltkabine für ihn bauen konnte.«
In den Augen des Mädchens stand entzücktes Staunen.
Louis empfand es als seltsam und angenehm, daß ihre Augen auf gleicher Höhe lagen: Teela Browns zerbrechliche Schönheit ließ sie kleiner erscheinen, als sie in Wirklichkeit war. Ihre Augen glitten an Louis vorbei und weiteten sich noch mehr. Louis grinste, als er sich umdrehte.
Nessus der Puppenspieler trottete aus der Transferkabine.
Louis hatte genau daran gedacht, als sie das Krushenko’s verlassen hatten. Er hatte versucht, Nessus zu überreden, ein paar Einzelheiten über ihr Reiseziel zu verraten, doch der Puppenspieler hatte sich vor elektronischen Spionen gefürchtet.
»Dann kommen Sie doch einfach mit zu mir nach Hause«, hatte Louis vorgeschlagen.
»Aber Ihre Gäste!«
»Nicht in meinem Büro. Mein Büro ist vollkommen wanzensicher. Außerdem — denken Sie nur, welchen Eindruck Sie auf meiner Party machen werden! Vorausgesetzt, inzwischen sind nicht alle nach Hause gegangen.«
Der Eindruck, den Nessus erweckte, war ganz nach Louis’ Geschmack. Das Tap-Tap-Tap der Puppenspielerhufe war schlagartig das einzige Geräusch im Zimmer. Hinter Nessus materialisierte Derzu-den-Tieren-spricht in der Kabine. Der Kzin betrachtete das Meer menschlicher Gesichter rings um die Kabine. Dann entblößte er zögernd die Zähne.
Jemand kippte seinen halbvollen Drink in eine Topfpalme. Die ganz große Geste. In den Zweigen zeterte eines dieser GummidgyOrchideenwesen. Die Gäste wichen von der Transferkabine zurück. Kommentare folgten, wie: »Nein, dir fehlt nichts. Ich seh’ sie auch.«
»Ausnüchterungspillen? Ich seh’ mal in meiner Tasche nach.«
»Sie ist schon eine Wucht, diese Party, nicht wahr?«
»Der gute alte Louis.«
»Wie nennt man dieses Ding nochmal?«
Sie wußten nichts mit Nessus anzufangen. Die meisten ignorierten den Puppenspieler einfach. Sie fürchteten, sich zu blamieren, wenn sie Bemerkungen über ihn abgaben. Der-zu-den-Tieren-spricht widmeten sie um so mehr Aufmerksamkeit. Einst waren die Kzinti der gefährlichste Feind der Menschheit. Jetzt wurde er mit stummer Ehrerbietung behandelt, wie eine Art Held.
»Folgen Sie mir«, wandte sich Louis an den Puppenspieler. Mit ein wenig Glück würde der Kzin ihnen ebenfalls folgen. »Entschuldigt uns«, rief er und bahnte sich einen Weg durch die Menge. Er grinste nur als Antwort auf die vielen aufgeregten und/oder verwunderten Fragen.
Als sie sicher in sein Büro gelangt waren, verriegelte Louis die Tür und schaltete das Antiabhörgerät ein. »Okay. Wer möchte etwas trinken?«
»Wenn Sie mir etwas Bourbon anwärmen, kann ich ihn trinken«, sagte der Kzin. »Wenn Sie ihn nicht anwärmen, kann ich ihn vielleicht immer noch trinken.«
»Nessus?«
»Irgendein Gemüsesaft wäre angenehm. Haben Sie warmen Karottensaft?«
»Hm«, sagte Louis. Er programmierte die Bar, und ein paar Kannen warmen Karottensafts erschienen in der Ausgabe.
Nessus ruhte auf seinem zusammengefalteten Hinterbein. Der Kzin ließ sich schwer auf ein aufblasbares Kissen fallen. Unter seinem Gewicht hätte es eigentlich platzen müssen wie ein kleiner Ballon. Es sah merkwürdig lächerlich aus, wie der Zweitälteste Feind der Menschheit auf dem viel zu kleinen Kissen balancierte.
Die Kzin-Kriege waren langwierig und blutig gewesen. Hätten die Kzinti die ersten Feldzüge gewonnen, wäre die Menschheit für den Rest der Ewigkeit versklavt und zum Fleischlieferanten degradiert worden. Aber die Kzinti hatten in den folgenden Schlachten schreckliche Verluste hinnehmen müssen. Sie neigten dazu anzugreifen, ehe sie gerüstet waren. Geduld war für sie ein unbekannter Begriff, und Erbarmen oder begrenzte Kriegsziele kannten sie ebensowenig. Jede Schlacht war für sie ein kräftiger Aderlaß mit hohen Verlusten gewesen und hatte zur Annexion einiger weiterer ihrer Welten geführt.
Seit zweihundertfünfzig Jahren hatten die Kzinti keine von Menschen besiedelte Welt mehr angegriffen. Sie besaßen nichts, womit sie hätten angreifen können. Seit zweihundertfünfzig Jahren hatten die Menschen die Kzinti nicht mehr angegriffen — und kein Kzin vermochte das zu verstehen. Die Menschen gaben ihnen unlösbare Rätsel auf.
Die Kzinti waren furchterregende, gnadenlose Krieger, und Nessus, ein erklärter Feigling, hatte vier ausgewachsene Kzinti in einem öffentlichen Lokal beleidigt.
»Erklären Sie mir das doch bitte noch einmal«, sagte Louis. »Wie verhält es sich mit der sprichwörtlichen Vorsicht der Puppenspieler? Ich vergaß das.«
»Vielleicht war ich nicht ganz aufrecht zu Ihnen, Louis. Meine Spezies hält mich für verrückt.«
»Oh, fein.« Louis nippte an dem Gefäß, das ihm einer seiner Gäste in die Hand gedrückt hatte. Es enthielt Wodka, Heidelbeersaft und Eisstücke.
Der Schweif des Kzin wischte ruhelos hin und her. »Warum sollten wir mit einem erklärten Verrückten zu einer Expedition aufbrechen? Sie müssen wirklich wahnsinnig sein, wenn Sie mit einem Kzin zusammen auf die Reise gehen wollen.«
»Sie erregen sich zu leicht«, sagte Nessus mit seiner weichen, suggestiven und unglaublich sinnlichen Stimme. »Kein Mensch ist je einem Puppenspieler begegnet, der nicht in den Augen seiner eigenen Spezies verrückt gewesen wäre. Kein Fremder hat je die Welt der Puppenspieler gesehen, und kein geistig gesunder Puppenspieler würde sein Leben dem fehleranfälligen Lebenserhaltungssystem eines Raumschiffs anvertrauen, geschweige denn sich den unbekannten und wahrscheinlich tödlichen Gefahren einer fremden Welt aussetzen.«
»Ein verrückter Puppenspieler, ein ausgewachsener Kzin und ich. Als viertes Mitglied sollten wir vielleicht einen Psychiater mitnehmen.«
»Nein, Louis. Keiner unserer Kandidaten ist Psychiater.«
»Und warum nicht?«
»Ich überließ die Wahl nicht dem Zufall.« Der Puppenspieler trank mit einem seiner Münder Karottensaft und redete mit dem anderen. »Da bin zuerst einmal ich. Unsere geplante Expedition soll meiner Rasse zugute kommen, also muß ein Vertreter meiner Spezies dabei sein. Jemand, der verrückt genug ist, sich einer unbekannten Welt zu stellen, und doch gesund genug, um an sein Überleben zu denken. Wie es der Zufall will, erfülle ich beide Anforderungen gleichermaßen.
Wir hatten unsere Gründe, einen Kzin in die Mannschaft einzubeziehen. Der-zu-den-Tieren-spricht, was ich Ihnen jetzt verrate, ist ein Geheimnis. Wir beobachten Ihre Spezies bereits seit einer ganz beträchtlichen Weile. Wir kannten Sie schon, lange bevor Sie Ihre Angriffe auf die Menschheit begannen.«
»Sie taten gut daran, uns nicht unter die Augen zu kommen«, fauchte der Kzin.
»Zweifellos. Zuerst schlossen wir, die Kzinti seien eine gefährliche und nutzlose Spezies. Wir vergaben Forschungsaufträge, wie wir Ihre Spezies gefahrlos ausrotten konnten.«
»Ich werde einen Knoten in Ihre Hälse schlingen!«
»Sie werden keine Gewalttätigkeiten begehen!«
Der Kzin stand auf.
»Nessus hat recht«, sagte Louis. »Setzen Sie sich wieder, Sprecherzu-den-Tieren. Sie gewinnen nichts damit, daß Sie einen Puppenspieler ermorden.«
Der Kzin setzte sich wieder. Das Kissen platzte immer noch nicht.
»Das Projekt wurde aufgegeben«, sagte Nessus. »Wir stellten fest, daß der Krieg zwischen Menschen und Kzinti die Expansion Ihrer Spezies ausreichend einschränkte und Sie weniger gefährlich machte. Trotzdem beobachteten wir Sie weiter. Im Verlauf von ein paar hundert Jahren griff Ihre Rasse sechsmal von Menschen besiedelte Welten an. Sechsmal wurden Sie besiegt, und in jedem Feldzug verloren Sie annähernd zwei Drittel Ihrer männlichen Bevölkerung. Muß ich mich zum Grad der Intelligenz äußern, der sich hier offenbarte? Nein? Jedenfalls drohte Ihnen nie die Gefahr, ausgerottet zu werden. Ihre nicht mit Intelligenz begabten Weibchen blieben vom Krieg weitgehend unbehelligt, so daß die folgende Generation die Verluste immer wieder auffüllen konnte. Trotzdem verloren Sie unaufhaltsam ein Imperium, das Sie in Jahrtausenden aufgebaut hatten.
Nach und nach wurde offensichtlich, daß die Kzinti in atemberaubendem Tempo evolvierten.«
»Evolvierten?«
Nessus fauchte ein Wort in der Heldensprache. Louis zuckte zusammen. Er hatte nicht geahnt, daß die Stimmbänder des Puppenspielers dazu imstande waren.
»Ja«, sagte Der-zu-den-Tieren-spricht. »Ich habe Sie schon richtig verstanden. Ich wußte nur nicht, wie es gemeint war.«
»Evolution beruht auf dem Überleben der geeignetsten Vertreter einer Rasse. Ein paar hundert Kzin-Jahre lang waren die tüchtigsten Vertreter Ihrer Spezies jene, die genügend Verstand und Selbstbeherrschung besaßen, um den Kampf mit Menschen zu vermeiden. Die Ergebnisse sind offensichtlich. Seit beinahe zweihundert KzinJahren herrscht Friede zwischen Menschen und Kzinti.«
»Aber es wäre sinnlos gewesen! Wir konnten nicht gewinnen!«
»Das hielt Ihre Vorfahren nicht von einem Krieg ab.«
Der-zu-den-Tieren-spricht nippte an seinem warmen Bourbon.
Der rattenähnliche Schwanz, nackt und rosig, peitschte aufgeregt hin und her.
»Ihre Spezies wurde dezimiert«, fuhr der Puppenspieler fort. »Die heute lebenden Kzinti sind die Nachkommen derer, die sich nicht in den Kriegen gegen die Menschheit in den Tod stürzten. Einige von uns neigen inzwischen der Theorie zu, daß die Kzinti seither die Intelligenz oder Empathie oder Selbstbeherrschung erworben haben, die im Umgang mit fremden Rassen nötig ist.«
»Und deshalb riskieren Sie Ihr Leben, um mit einem Kzin zu reisen?«
»Ja«, erwiderte Nessus und schüttelte sich. »Ich habe eine starke Motivation. Wenn ich meinen Mut und meine Bedeutung unter Beweis stelle, indem ich meiner Spezies einen wertvollen Dienst erweise, wird mir gestattet, mich fortzupflanzen.«
»Kein besonders überzeugendes Motiv«, murmelte Louis.
»Es gibt noch einen weiteren Grund, einen Kzin mitzunehmen. Wir werden uns einer unbekannten Umgebung stellen müssen, in der unbekannte Gefahren lauern. Wer soll mich beschützen? Wer wäre besser dazu geeignet als ein Kzin?«
»Um einen Puppenspieler zu schützen?«
»Klingt das verrückt?«
»Das tut es«, erwiderte Der-zu-den-Tieren-spricht. »Und es amüsiert mich… Wie steht es mit diesem da, diesem Louis Wu?«
»Wir haben schon immer einträglich mit der Menschheit zusammengearbeitet. Deshalb nehmen wir selbstverständlich auch einen Menschen mit. Louis Gridley Wu ist erwiesenermaßen ein Überlebenstyp, auf seine unbedachte, fast verwegene Art.«
»Unbedacht und tollkühn. Er hat mich zum Kampf herausgefordert!«
»Hätten Sie die Herausforderung angenommen, wenn Hroth nicht zugegen gewesen wäre? Hätten Sie Louis Wu verletzt?«
»Um anschließend mit Schimpf und Schande nach Hause gejagt zu werden, weil ich einen ernsten diplomatischen Zwischenfall provoziert habe…? Doch das ist nicht der springende Punkt«, fuhr der Kzin beharrlich fort. »Oder?«
»Vielleicht doch. Louis ist noch am Leben. Sie wissen jetzt, daß Sie ihn nicht einschüchtern können. Glauben Sie an Ergebnisse?«
Louis bewahrte diskretes Schweigen. Wenn der Puppenspieler ihm Scharfsinn und Kaltblütigkeit bescheinigte, konnte es ihm nur recht sein.
»Sie haben von Ihren Motiven gesprochen«, sagte Der-zu-denTieren-spricht. »Reden wir jetzt von meinen. Was habe ich davon, wenn ich mit Ihnen komme?«
Und sie kamen zum geschäftlichen Teil.
Für die Puppenspieler war der Quantum II Hyperantrieb ein wertloser Besitz. Ein Schiff mit diesem Antrieb konnte in eineinviertel Minuten ein ganzes Lichtjahr überbrücken, während ein konventioneller Hyperraumantrieb für die gleiche Distanz drei Tage benötigte. Aber konventionelle Raumschiffe hatten Platz für Fracht.
»Wir haben den Motor in eine General-Products-Zelle Mark Vier eingebaut — den größten Rumpf, den unsere Gesellschaft herstellt. Nachdem unsere Wissenschaftler und Ingenieure mit ihrer Arbeit fertig waren, füllte der Hyperraumschaltkreis fast die gesamte Zelle aus. Unsere Reise wird also unter ziemlich beengten Bedingungen stattfinden.«
»Ein Experimentalschiff!« fauchte der Kzin. »Wie gründlich wurde es erprobt?«
»Das Schiff hat eine Reise zum galaktischen Zentrum und zurück hinter sich.«
Doch das war die einzige Erprobungsfahrt gewesen. Die Puppenspieler konnten das Schiff nicht selbst testen, und sie konnten auch keine anderen Rassen dafür anheuern, weil sie sich mitten in ihrer Völkerwanderung befanden. Das Schiff konnte so gut wie keine Ladung mitnehmen, obgleich es mehr als dreihundert Meter Durchmesser besaß. Außerdem konnte es nicht verzögern, ohne sofort in den Normalraum zurückzufallen.
»Wir benötigen es nicht«, erklärte Nessus. »Im Gegensatz zu Ihnen. Wir beabsichtigen, das Schiff zusammen mit den Bauplänen an Sie zu übergeben, damit Ihre Rassen mehr von diesen Schiffen herstellen können. Zweifellos werden Sie den Entwurf noch verbessern.«
»Damit kann ich mir einen Namen machen«, sagte der Kzin. »Einen Namen! Ich muß dieses Schiff in Aktion sehen!«
»Während unserer Reise nach draußen.«
»Der Patriarch wird mir einen Namen geben, wenn ich ihm so ein Schiff bringe, davon bin ich überzeugt. Welchen Namen soll ich wählen? Vielleicht…« Der Kzin stieß ein Fauchen aus, das die Tonleiter hinaufkletterte.
Der Puppenspieler antwortete in der gleichen Sprache.
Louis rutschte verdrossen auf seinem Stuhl hin und her. Er verstand die Heldensprache nicht und überlegte, die beiden allein zu lassen — doch dann kam ihm eine bessere Idee. Er zog das Hologramm des Puppenspielers aus der Tasche und warf es quer durch den Raum in den haarigen Schoß des Kzin.
Der Kzin nahm es vorsichtig mit eingezogenen Krallen und hielt es hoch.
»Das sieht aus wie ein beringter Stern«, bemerkte er. »Was ist es?«
»Es hat mit unserem Reiseziel zu tun«, sagte der Puppenspieler. »Mehr darf ich im Augenblick nicht dazu sagen.«
»Wie geheimnisvoll. Wann werden wir aufbrechen?«
»In ein paar Tagen vermutlich. Meine Agenten suchen im Augenblick nach einem qualifizierten vierten Mitglied für unser Erkundungsteam.«
»Bis dahin müssen wir uns also mit Geduld wappnen. Louis, wollen wir uns unter Ihre Gäste mischen?«
Louis stand auf und streckte sich. »Warum nicht? Verschaffen wir ihnen einen Nervenkitzel. Sprecher-zu-den-Tieren, bevor wir das Büro verlassen, möchte ich Ihnen noch einen Vorschlag machen. Betrachten Sie es bitte nicht als einen Angriff auf Ihre Würde. Es ist nur so eine Idee von mir…«
Die Gäste hatten sich in Gruppen aufgelöst: ein Teil sah 3D-Filme, andere spielten Bridge und Poker; Liebespaare und größere Liebesgruppen zogen sich zurück; ein Teil lauschte Geschichtenerzählern oder war einfach Opfer der Langeweile. Draußen auf dem Rasen, unter einer dunstigen frühen Morgensonne, hatte sich eine gemischte Gruppe aus Gelangweilten und Xenophilen eingefunden: die Gruppe im Freien schloß Nessus und Der-zu-den-Tieren-spricht ein. Auch Louis Wu gehörte dazu, Teela Brown und ein überlasteter Bartender.
Der Rasen gehörte zu der Sorte, die nach uraltem britischem Rezept gepflegt wurde: fünfhundert Jahre lang säen und rollen. Fünfhundert Jahre, die in einem Börsencrash geendet hatten, aus welchem Louis Wu mit Geld hervorgegangen war und eine höchst ehrenwerte adlige Familie nicht. Das Gras war grün und glänzte und bestand offensichtlich aus natürlich gezüchtetem Material. Niemand hatte seine Gene auf der Suche nach einer zweifelhaften Verbesserung manipuliert. Am Ende des sanft geneigten grünen Abhangs lag ein Tennisplatz, wo kleine Gestalten umhersprangen und mit großem Eifer ihre überdimensionierten Fliegenklatschen schwangen.
»Sport ist doch etwas Wunderbares«, sagte Louis. »Ich könnte den ganzen Tag hier sitzen und zuschauen.«
Teelas Lachen überraschte ihn. Er dachte flüchtig an die Millionen von Witzen, die sie nie gehört hatte, die alten und uralten, die niemand mehr erzählte. Von den Millionen Witzen, die Louis auswendig kannte, waren sicher neunundneunzig Prozent schlichtweg obsolet. Vergangenheit und Gegenwart lassen sich schlecht vermischen.
Der Bartender glitt in geneigter Position herbei. Louis’ Kopf lag in Teelas Schoß, und da er die Tasten nicht erreichen konnte, ohne sich aufzusetzen, mußte der Bartender sich zu ihm hinunterbeugen. Louis tastete die Bestellung für zwei Mokkas ein, fing die Getränke auf, als sie im Ausgabeschlitz erschienen, und reichte eines davon Teela.
»Sie sehen aus wie ein Mädchen, das ich einmal kannte«, sagte Louis. »Haben Sie je von Paula Cherenkow gehört?«
»Die Karikaturistin? Geboren in Boston?«
»Ja. Sie lebt heute auf We Made It.«
»Das ist meine Ururgroßmutter. Wir haben sie schon einmal besucht.«
»Sie hat vor langer Zeit mein Herz ins Schleudern gebracht. Sie könnten ihre Zwillingsschwester sein.«
Teelas Lachen sandte ein angenehmes Vibrieren durch Louis’ Wirbelsäule. »Ich verspreche Ihnen, daß ich Ihnen nicht das Herz ins Schleudern bringen werde, wenn Sie mir erzählen, was das überhaupt bedeutet.«
Louis dachte nach. Der Ausdruck stammte von ihm selbst; er beschrieb, was damals in ihm vorgegangen war. Louis hatte ihn nicht oft benutzt, doch er hatte ihn auch nie erklären müssen. Sie hatten immer alle gewußt, was er damit gemeint hatte.
Ein ruhiger, friedlicher Morgen. Wenn er jetzt zu Bett ging, würde er zwölf Stunden durchschlafen. Müdigkeit und Erschöpfung erreichten einen neuen Höhepunkt. Teelas Schoß war ein bequemes Ruhekissen. Die Hälfte von Louis’ Gästen waren Frauen, und viele von ihnen waren in früheren Jahren Gattinnen oder Geliebte gewesen. In der ersten Phase der Geburtstagsfeier hatte er zurückgezogen mit drei Frauen gefeiert, die früher einmal eine wichtige Rolle in seinem Leben gespielt hatten und umgekehrt.
Drei? Vier? Nein, es waren nur drei gewesen. Und heute schien es, daß er immun war gegen Herzschleudern. Zweihundert Jahre hatten zuviel Narbengewebe über seine Persönlichkeit wachsen lassen. Und jetzt ruhte sein Kopf bequem und ruhig im Schoß einer Fremden, die wie Paula Cherenkow aussah.
»Ich verliebte mich in sie«, erzählte er. »Wir kannten uns schon jahrelang. Wir hatten uns sogar ein paarmal verabredet. Und dann, eines Nachts, kamen wir ins Gespräch, und Peng! — ich war verliebt. Ich glaube, sie liebte mich ebenfalls.
Wir gingen nicht ins Bett diese Nacht — nicht zusammen, meine ich. Ich bat sie, mich zu heiraten. Sie gab mir einen Korb. Sie hatte ihre Karriere im Sinn. Sie hatte keine Zeit für die Ehe, sagte sie. Wir planten einen Trip in den Amazonas-Nationalpark, gewissermaßen als Ersatz für eine Woche Hochzeitsreise.
Die folgende Woche war voller Höhen und Tiefen. Zuerst kamen die Höhen. Ich hatte die Fahrkarten und das Hotel reserviert. Haben Sie sich jemals so heftig in jemanden verliebt, daß Sie glaubten, Sie wären seiner nicht würdig?«
»Nein.«
»Ich war jung. Ich verbrachte zwei Tage damit, mich zu überzeugen, ich wäre Paula Cherenkows würdig. Es gelang mir auch. Dann rief sie an und sagte die Reise ab. Ich kann mich nicht mehr entsinnen, warum. Aber es war sicher ein triftiger Grund.
Ich führte sie in dieser Woche ein paarmal zum Essen aus. Nichts passierte. Ich versuchte, sie nicht unter Druck zu setzen. Gut möglich, daß sie gar nicht ahnte, wie sehr ich selbst unter Druck stand. Ich durchlitt Höhen und Tiefen wie ein Jo-Jo. Dann fiel ihre Barriere. Sie mochte mich. Wir hatten Spaß zusammen. Wir sollten gute Freunde bleiben, sagte sie.
Ich war nicht ihr Typ«, erzählte Louis. »Ich dachte, wir wären verliebt. Vielleicht hat sie das auch geglaubt, eine Woche lang. Sie war nicht grausam. Sie wußte nur nicht, was in mir vorging.«
»Aber ich verstehe nicht, wie Ihr Herz schleudern konnte?«
Louis blickte zu Teela Brown auf. Silberaugen sahen ihn treuherzig an, und Louis begriff, daß sie nicht ein einziges Wort verstanden hatte.
Louis hatte sich viel mit fremden Wesen befaßt. Aus Instinkt oder Erfahrung hatte er gelernt zu spüren, wann ein Begriff zu fremdartig war, um von einem anderen Wesen aufgenommen oder verstanden zu werden. Auch hier gab es eine unüberwindbare Kluft.
Welch ein gewaltiger Graben trennte Louis Wu von diesem zwanzigjährigen Geschöpf! War er wirklich so drastisch gealtert? Und falls ja, war Louis Wu überhaupt noch ein menschliches Wesen?
Teela wartete mit naiven Augen auf Erleuchtung.
»Tanj!« fluchte Louis und sprang auf. Schmutzklumpen lösten sich von seiner Robe und rutschten über den Saum.
Nessus der Puppenspieler erging sich in einem Vortrag über Ethik. Er unterbrach sich (buchstäblich, da er zum Entzücken seiner Zuhörer mit beiden Mündern zugleich sprach) und wandte sich zu Louis um. Nein, er habe noch nichts von seinen Agenten gehört, antwortete er auf Louis’ Frage.
Der-zu-den-Tieren-spricht, ähnlich umringt wie der Puppenspieler, lag wie ein orangefarbener Hügel ausgebreitet auf dem Rasen. Zwei Frauen kraulten ihn hinter den Ohren, hinter diesen seltsamen Kzinti-Ohren, die sich wie rosafarbene chinesische Fächer aufspannen oder flach gegen den Kopf legen konnten. Die Ohren waren weit aufgespannt, und Louis bemerkte die Tätowierung im Gewebe.
»War das nicht eine brillante Idee von mir?« rief Louis ihm zu.
»Das war es«, schnurrte der Kzin, ohne sich zu bewegen.
Louis lachte in sich hinein. Ein Kzin war eine furchterregende Bestie, aber wer fürchtet sich schon vor einem Tiger, der sich hinter den Ohren kraulen läßt? Es beruhigte Louis’ Gäste — und den Kzin nicht minder. Alles, was größer ist als eine Feldmaus, läßt sich gerne hinter den Ohren kraulen.
»Sie haben sich abgewechselt«, schnurrte der Kzin träge. »Ein Männchen kam auf ein Weibchen zu, das mich gerade kraulte, und meinte, es möchte auch gekrault werden. Die beiden haben sich zurückgezogen. Sofort war wieder ein Weibchen zur Stelle, um weiterzukraulen. Es muß sehr interessant sein, einer Rasse anzugehören, bei der beide Geschlechter vernunftbegabt sind.«
»Manchmal macht es die Dinge grauenvoll kompliziert.«
»Tatsächlich?«
Das Mädchen hinter der linken Schulter des Tigers — vakuumschwarze Haut, verziert mit Sternen und Galaxien, und mit Haaren, so weiß wie ein Kometenschwanz — blickte von seiner Arbeit auf. »Teela, übernimm mal meinen Platz«, sagte es vergnügt. »Ich habe Hunger.«
Teela kniete gehorsam neben dem großen orangefarbenen Tigerkopf nieder. Louis sagte: »Teela Brown, das ist Der-zu-den-Tierenspricht. Mögt ihr beide…«
In seiner Nähe ertönte ein Fanfarenstoß dissonanter Musik.
»… zusammen glücklich werden. Was war denn das? Oh, Sie, Nessus. Was…?«
Die Musik entstammte den bemerkenswerten Kehlen des Puppenspielers. Nessus drängte sich rüde zwischen Louis und das Mädchen. »Sind Sie Teela Jandrowa Brown, Identitätszeichen IKLUGGTYN?«
»Das ist mein Name«, erwiderte Teela überrascht, aber ohne Furcht. »An mein Identitätszeichen kann ich mich nicht erinnern. Was gibt es für ein Problem?«
»Wir suchen seit fast einer Woche die ganze Erde nach Ihnen ab, und ich finde Sie bei einer Geburtstagsfeier, in die ich durch blinden Zufall geraten bin! Ich werde ein paar Worte mit meinen Agenten wechseln müssen.«
»O nein!« stöhnte Louis leise.
Teela stand etwas verlegen auf. »Ich habe mich nicht versteckt, weder vor Ihnen, noch vor irgendeinem anderen… außerirdischen Wesen! Was haben Sie für ein Problem?«
»Moment mal!« Louis drängte sich zwischen Nessus und das Mädchen. »Nessus, Teela Brown ist ganz offensichtlich keine Forschernatur! Suchen Sie jemand anderen aus!«
»Aber Louis…«
»Einen Augenblick.« Der Kzin richtete sich auf. »Louis, warum soll denn der Blätteresser nicht aussuchen, wen er will?«
»Aber schauen Sie sich das Mädchen an!«
»Schauen Sie sich an, Louis. Kaum zwei Meter groß und selbst für einen Menschen ziemlich schmal. Sind Sie ein Forschertyp? Ist Nessus einer?«
»Was zum tanj ist hier eigentlich los?« erkundigte sich Teela.
»Louis«, sagte Nessus mit melodischer Hast, »lassen Sie uns in Ihr Büro zurückkehren. Teela Brown, wir möchten Ihnen einen Vorschlag unterbreiten. Sie brauchen ihn nicht anzunehmen, Sie müssen nicht einmal zuhören — aber vielleicht finden Sie ihn ja ganz interessant.«
Das Gespräch wurde hinter geschlossenen Türen fortgesetzt. »Sie erfüllt alle Voraussetzungen«, flötete Nessus hartnäckig. »Wir müssen ihr die Sache vortragen.«
»Sie kann unmöglich die einzige geeignete Kandidatin auf der Erde sein!«
»Nein, Louis, keineswegs. Aber wir haben bis jetzt keinen der anderen Kandidaten aufspüren können.«
»Was wollen Sie denn von mir?«
Der Puppenspieler erklärte es ihr. Schon bald wurde offensichtlich, daß Teela Brown keinerlei Interesse am Weltraum hatte, daß sie bisher noch nicht einmal auf dem Mond gewesen war und mitnichten die Absicht hegte, die Grenzen des Bekannten Weltraums hinter sich zu lassen. Der Quantum II Hyperantrieb erregte nicht ihre Begehrlichkeit. Als sie verwirrt und hilfesuchend um sich blickte, mischte sich Louis wieder ein.
»Nessus, was sind das eigentlich für Voraussetzungen, die Teela so ideal erfüllt?«
»Meine Agenten suchten nach Nachkommen von Gewinnern bei der Geburtsrechts-Lotterie.«
»Ich gebe auf! Sie sind tatsächlich verrückt!«
»Nein, Louis. Meine Befehle stammen vom Hintersten persönlich, demjenigen, der unser Volk anführt. An seinem Verstand ist absolut nicht zu zweifeln. Darf ich es erklären?«
Für Menschen war Geburtenkontrolle schon seit langem ein einfach zu regelndes Problem. Man implantierte einen winzigen Kristall unter die Haut am Oberarm, der sich im Verlauf eines Jahres vollkommen auflöste. Während dieser Zeitspanne konnte die so Geimpfte nicht empfangen. In früheren Jahrhunderten hatte man umständlichere Methoden angewendet.
Die Bevölkerung der Erde hatte sich in der Mitte des einundzwanzigsten Jahrhunderts bei achtzehn Milliarden eingependelt. Die Fortpflanzungsbehörde, eine Unterabteilung der Vereinten Nationen, erließ die Geburtenkontrollgesetze und sorgte für deren Einhaltung. Ein halbes Jahrtausend hatte sich nichts an diesen Gesetzen geändert: zwei Kinder pro Ehepaar, falls der Geburtenausschuß keine Einwände erhob. Der Ausschuß konnte die Quote erhöhen oder einem Paar die Nachkommenschaft verbieten, wofür erwünschte oder unerwünschte Gene als Richtschnur galten.
»Unglaublich«, fauchte der Kzin.
»Warum? Es ging tanj überfüllt auf der Erde zu, mit achtzehn Milliarden Menschen unter den Beschränkungen einer primitiven Technologie.«
»Wenn das Patriarchat versuchen würde, den Kzinti ein derartiges Gesetz aufzuzwingen, würden wir es für diese Anmaßung auslöschen.«
Aber Menschen waren keine Kzinti. Ein halbes Jahrtausend hatten die Gesetze Bestand. Dann, vor zweihundert Jahren, waren Gerüchte aufgekommen, die Fortpflanzungsbehörde habe willkürliche Entscheidungen getroffen. Der Skandal hatte zu drastischen Änderungen der Geburtenkontrollgesetze geführt:
Jedes menschliche Wesen hatte seither das Recht auf ein Kind, ungeachtet der Beschaffenheit seiner Gene. Es war automatisch auch für ein zweites und weiteres Kind qualifiziert, wenn es folgende Voraussetzungen mitbrachte: Hohe Intelligenz, nachweisbar nützliche Eigenschaften wie Plateauaugen, Richtungssinn, angeborene Veranlagung zu Überleben, Telepathie, natürliche Langlebigkeit oder perfekte Zähne.
Man konnte Geburtsrechte auch für eine Million Stars pro Kind kaufen. Warum auch nicht? Das Talent, viel Geld zu machen, war ein erprobter und erwiesener Überlebensfaktor. Außerdem wurden so Bestechungsversuche unterbunden.
Man konnte auch in der Arena für Geburtsrechte kämpfen, falls man sein Erstes Recht noch nicht beansprucht hatte. Der Gewinner verdiente sich das Geburtsrecht für ein zweites und drittes Kind; der Verlierer verlor sein Erstes Recht und sein Leben. Damit war die Bilanz ausgeglichen.
»Ich habe in Ihren Unterhaltungsprogrammen derartige Zweikämpfe gesehen«, sagte Der-zu-den-Tieren-spricht. »Ich dachte, sie kämpften aus Spaß.«
»Nein, es geht um Leben und Tod«, sagte Louis nüchtern. Teela kicherte.
»Und was ist mit den Lotterien?«
»Sie reichen nicht aus«, sagte Nessus. »Selbst mit Boosterspice, das das Altern eines Menschen hinauszögert, sterben jährlich mehr Leute auf der Erde, als geboren werden…«
Deshalb rechnete die Fortpflanzungsbehörde jedes Jahr Todesfälle und Auswanderer zusammen, subtrahierte Zuwanderer und Geburten und verloste die Differenz als Geburtsrechte in der Silvesterlotterie.
Jeder konnte daran teilnehmen. Wer Glück hatte, konnte zehn oder zwanzig Kinder gewinnen — wenn das als Glück zu bezeichnen war. Selbst verurteilte Kriminelle wurden nicht von der Geburtsrechts-Lotterie ausgeschlossen.
»Ich selbst habe vier Kinder«, sagte Louis Wu. »Ein Geburtsrecht stammt aus der Lotterie. Sie hätten drei von ihnen kennenlernen können, wären Sie zwölf Stunden früher gekommen.«
»Das klingt seltsam und kompliziert«, sagte Der-zu-den-Tierenspricht. »Wenn die Bevölkerung der Kzinti zu groß wird, dann…«
»… greifen Sie die nächstbeste von Menschen bewohnte Welt an?«
»Absolut nicht, Louis. Wir kämpfen gegeneinander. Je gedrängter es bei uns zugeht, um so mehr Möglichkeiten ergeben sich, daß ein Kzin den anderen beleidigt. Unser Bevölkerungsproblem regelt sich von allein. Wir sind nie auch nur in die Größenordnung Ihrer Bevölkerungsdichte auf der Erde gekommen!«
»Ich glaube, ich verstehe allmählich«, sagte Teela Brown. »Meine Eltern waren beide Lotteriegewinner.« Sie lachte nervös. »Sonst wäre ich gar nicht auf der Welt. Wenn ich es richtig überlege, dann war auch mein Großvater…«
»Seit fünf Generationen verdanken alle Ihre Vorfahren ihre Existenz einem Geburtsrechts-Los!«
»Tatsächlich? Das habe ich nicht gewußt!«
»Die Unterlagen sind lückenlos«, versicherte Nessus ihr.
»Bleibt immer noch die Frage«, sagte Louis Wu, »was das soll?«
»Die-die-Führen neigen zu der Theorie, daß die Menschen auf der Erde das Glück züchten.«
»Wie bitte?«
Teela Brown beugte sich auf ihrem Stuhl vor. Sie war fasziniert. Zweifellos hatte sie noch nie einen verrückten Puppenspieler gesehen.
»Denken Sie an die Lotterien, Louis! Denken Sie an die Evolution! Seit siebenhundert Jahren vermehrt sich Ihre Spezies nach festgelegten Zahlen: zwei Geburtsrechte pro Person, zwei Kinder pro Paar. Hier und dort hat jemand ein drittes Geburtsrecht hinzugewonnen oder sein Erstlingsrecht aus zureichenden Gründen verloren: Diabetiker-Gene oder dergleichen. Doch im Schnitt besaßen die meisten Paare zwei Kinder.
Dann wurde das Gesetz geändert. In den letzten zweihundert Jahren haben zwischen zehn und dreizehn Prozent aller Menschen aufgrund eines Lotteriegewinns das Licht der Welt erblickt. Wodurch wird auf der Erde bestimmt, wer überleben kann, um sich fortzupflanzen? Eindeutig durch Glück.
Teela Brown ist die Tochter von fünf Generationen GeburtsrechtsLotteriegewinnern…«