»Ich möchte mich der Expedition anschließen«, sagte Teela Brown in das Display des Telefons.
Der Puppenspieler stieß ein langgezogenes Stöhnen in E-moll aus.
»Verzeihung?«
»Entschuldigen Sie«, sagte Nessus. »Melden Sie sich morgen früh um acht Uhr auf dem Outback-Raumhafen in Australien. Persönliche Besitztümer dürfen das Gewicht von fünfzig Pfund nicht überschreiten. Louis, für Sie gilt das gleiche. Aaah…« Der Puppenspieler hob die Köpfe und stieß ein Heulen aus.
Besorgt erkundigte sich Louis: »Sind Sie krank?«
»Nein. Ich sehe meinen eigenen Tod kommen. Louis, ich wünschte, Sie wären weniger überzeugend gewesen. Leben Sie wohl. Wir sehen uns auf dem Raumhafen wieder.«
Der Schirm wurde dunkel.
»Siehst du«, krähte Teela. »Siehst du jetzt, was du davon hast, daß du so überzeugend gewesen bist?«
»Ich und meine vorschnelle Zunge. Ich habe mir die größte rhetorische Mühe gegeben. Mach mir keine Vorwürfe, wenn du einen schrecklichen Tod stirbst.«
In der Nacht, als sie schwerelos nebeneinander in der Dunkelheit schwebten, hörte Louis sie sagen: »Ich liebe dich. Deswegen komme ich mit.«
»Ich liebe dich ebenfalls«, erwiderte Louis in schläfriger Höflichkeit. Dann dämmerte ihm, was sie gesagt hatte, und er erkundigte sich: »Das war es also, was du nicht verraten wolltest, nicht wahr?«
»Mm hmmm.«
»Du folgst mir zweihundert Lichtjahre, weil du mich nicht gehen lassen kannst?«
»Jepp.«
»Schlafzimmerlicht gedämpft«, befahl Louis. Schwaches blaues Leuchten erfüllte den Raum.
Sie schwebten einen Fuß voneinander entfernt zwischen den Schlafplatten. Während der Vorbereitungen für die Reise hatten sie Hautfarben und flatlandermäßige Frisuren abgelegt. Das Haar von Louis’ Zopf war nun schwarz und glatt, sein Schädel voller grauer Stoppeln. Sein Aussehen hatte sich beträchtlich geändert, nicht zuletzt wegen seiner natürlichen braungelben Hautfarbe und den nicht im geringsten mandelförmigen braunen Augen.
Die Veränderung, die Teela Brown erfahren hatte, war nicht minder drastisch. Ihr Haar war dunkel und gelockt und aus dem Gesicht gekämmt. Ihre Haut war nordisch blaß. Das ovale Gesicht wurde von großen braunen Augen und einem kleinen, ernsten Mund beherrscht; ihre Nase ging fast unter. Sie schwebte in ihrem Schlaffeld wie Öl auf Wasser; vollkommen entspannt.
»Aber du warst bis jetzt nie weiter als bis zum Mond!«
Sie nickte.
»Und ich bin auch nicht der größte Liebhaber der Welt. Das hast du selbst gesagt!«
Sie nickte erneut. Teela Brown kannte keine Zurückhaltung. Zwei Tage und Nächte hatte sie weder gelogen noch die Wahrheit verschleiert und war nicht einer Frage ausgewichen. Louis hätte es gespürt. Sie hatte ihm von ihren beiden ersten Liebhabern erzählt: Dem ersten, an dem sie nach einem halben Jahr das Interesse verloren hatte, und dem zweiten, einem Cousin, der ein Angebot erhalten hatte, nach Mount Lookitthat auszuwandern. Louis erzählte ihr wenig von seinen eigenen Erfahrungen, und sie schien seine Zurückhaltung zu respektieren. Aber sie kannte keine. Und sie stellte die heikelsten Fragen.
»Warum ausgerechnet ich?« wollte er wissen.
»Ich weiß es nicht«, gestand sie. »Vielleicht liegt es an deiner Ausstrahlung. Du bist ein Held, weißt du.«
Er war der einzige lebende Mensch, der einen Erstkontakt mit einer fremden Spezies gemacht hatte. Würde die Trinoc-Episode denn niemals in Vergessenheit geraten?
Louis startete einen letzten Versuch. »Sieh mal, ich kenne den größten Liebhaber der Welt. Ein Freund von mir. Es ist sein Hobby. Er schreibt Bücher darüber. Er besitzt Doktortitel in Physiologie und Psychologie. In den letzten hundertdreißig Jahren war er…«
Teela hielt sich die Ohren zu. »Hör auf«, sagte sie. »Hör endlich auf.«
»Ich möchte nur nicht, daß du umkommst«, sagte Louis schläfrig. »Du bist noch so jung.«
Sie bedachte ihn mit einem verwirrten Blick. Mit diesem verwirrten Blick. Louis hatte wieder einmal korrekte Interspeak-Vokabeln benutzt, die in ihren Ohren keinerlei Sinn ergaben. Herz am Schleudern? Umkommen? Louis seufzte innerlich. »Schlaffelder verschmelzen«, befahl er, und die Schlaffelder gerieten in Bewegung. Die beiden Zonen stabilen Gleichgewichts, Anomalien, die Louis und Teela daran hinderten, aus den Feldern zu fallen, bewegten sich aufeinander zu und verschmolzen zu einer. Louis und Teela folgten ihnen, indem sie »bergab« rutschten, bis sie gegeneinanderstießen und sich in die Arme schlossen.
»Ich war wirklich müde, Louis«, sagte sie. »Macht nichts…«
»Bevor du einschläfst — denk darüber nach, daß wir kein Privatleben führen können. In Raumschiffen besteht eine Tendenz zu drangvoller Enge.«
»Du meinst, wir können uns nicht lieben? Tanj, Louis! Es stört mich nicht, wenn sie zuschauen. Sie sind Aliens!«
»Aber mich stört es!«
Sie sah ihn wieder mit diesem typischen Blick an. »Angenommen, die beiden gehörten keiner fremden Spezies an — würde es dir dann etwas ausmachen?«
»Ja, es sei denn, wir wären sehr gute Bekannte. Bin ich deswegen altmodisch?«
»Ein bißchen.«
»Erinnerst du dich noch an den Freund, von dem ich neulich sprach? Den größten Liebhaber der Welt? Er hatte eine Kollegin, und sie lehrte mich ein paar Dinge, die sie von ihm hatte. Wir brauchen Schwerkraft dafür«, fügte er hinzu. »Schlaffeld abschalten.«
»Du versuchst nur, mich vom Thema abzulenken!« sagte Teela.
»Ja. Ich geb’s auf.«
»Okay. Vergiß eines nicht. Eine Sache. Dein Puppenspielerfreund hätte vielleicht lieber vier Spezies statt drei mitgenommen. Du könntest genausogut mit einem Trinoc im Bett liegen statt mit mir.«
»Eine entsetzliche Vorstellung. Also, diese Stellung — sie hat drei Phasen. Wir fangen mit einer Grätsche an…«
»Was ist eine Grätsche?«
»Ich zeige es dir…«
Der Morgen brach an, und Louis war ganz froh darüber, daß Teela mitkam. Als seine Skrupel sich wieder regten, war es zu spät. Es war schon seit ganz beträchtlicher Zeit zu spät gewesen.
Die Outsider handelten mit Informationen. Sie kauften teuer und verkauften teurer, und was sie einmal gekauft hatten, konnten sie immer und immer wieder verkaufen. Ihr Handelsgebiet erstreckte sich über die gesamte Milchstraße. Bei den Banken auf der Erde genossen sie praktisch unbegrenzten Kredit.
Wahrscheinlich stammten sie ursprünglich von einem kalten, hellen Mond irgendeines Gasriesen; von einer Welt wie Nereid, dem größeren Mond des Planeten Neptun. Heutzutage lebten die Outsider im Nichts zwischen den Sternen, in stadtgroßen Raumschiffen, deren technische Entwicklungsstufen sich gewaltig unterschieden und von Photonenseglern bis hin zu Schiffen reichten, deren Antriebe nicht einmal theoretisch für die menschliche Wissenschaft faßbar waren. Sobald die Outsider auf ein Planetensystem mit potentiellen Kunden und einen Planeten stießen, der ihren Umweltbedingungen entsprach, pachteten sie diesen Planeten und errichteten Handelsniederlassungen, Lagerdepots und Erholungszentren. Vor einem halben Jahrtausend hatten die Outsider Nereid gepachtet.
»Das dort scheint ihr Handelszentrum zu sein«, sagte Louis Wu. »Dort unten.« Er zeigte mit einer Hand auf den Schirm. Die andere blieb auf den Kontrollen des Transportschiffs.
Nereid war eine eisige, zerklüftete Ebene im hellen Sternenlicht. Die Sonne war ein großer weißer Punkt im Raum, der nicht mehr Helligkeit spendete als der irdische Vollmond, und diese Helligkeit beleuchtete ein Labyrinth niedriger Mauern. Halbkugelförmige Gebäude standen auf der Ebene und eine Ansammlung kleiner, rückstoßgetriebener Fähren, deren Passagiersektionen zum Raum hin offen waren. Den größten Teil der Ebene nahmen jedoch die merkwürdigen niedrigen Mauern ein.
Der Kzin starrte neugierig über Louis’ Schulter. »Ich würde zu gerne wissen, welchem Zweck diese Mauern dienen. Verteidigung?«
»Wärmefelder«, antwortete Louis. »Die Outsider ernähren sich von Thermoelektrizität. Sie liegen mit den Köpfen in der Sonne und mit den Hinterteilen im Schatten. Die Temperaturunterschiede lösen einen Strom aus. Die Mauern erzeugen mehr Schattengrenzlinien.«
Nessus hatte sich während der zehnstündigen Fahrt wieder beruhigt. Er trottete im Lebenserhaltungssystem des Transporters hin und her, inspizierte dieses und jenes, steckte Köpfe und Augen in die verschiedensten Ecken und gab über die Schulter Kommentare und Antworten. Sein Raumanzug, ein unförmiger Ballon mit einem Polster über dem Höcker, in dem sich sein Gehirn befand, sah leicht und bequem aus; der Tornister mit dem Luft- und Nahrungsgenerator war unglaublich klein.
Nessus hatte kurz vor dem Start eine eigenartige Vorstellung abgeliefert. Plötzlich war die Kabine von Musik erfüllt gewesen, von komplexer, wunderschöner Musik, reich an traurigen, klagenden Moll-Akkorden. Nessus pfiff. Mit seinen beiden Mündern, die reichlich mit Nerven und Muskeln ausgestattet waren, weil sie gleichzeitig als Greifwerkzeuge dienten, war der Pierson-Puppenspieler ein wandelndes Orchester.
Er hatte darauf bestanden, daß Louis den Transporter steuerte. Sein Vertrauen in Louis’ Fähigkeiten war so hoch, daß er sich nicht einmal anschnallte. Louis vermutete spezielle, verborgene Geräte in dem von Puppenspielern gebauten Raumschiff, die die Passagiere vor Verletzungen bewahrten.
Der-zu-den-Tieren-spricht war mit einem zwanzig Pfund schweren Koffer an Bord gekommen, der nur wenig mehr als einen zerlegten Mikrowellenherd zum Aufwärmen von Fleisch enthielt. Dazu noch einen Klumpen von etwas Undefinierbarem, Rohem, wahrscheinlich eher von einem Planeten der Kzinti als von der Erde. Louis hatte erwartet, daß der Raumanzug des Kzin wie eine sperrige mittelalterliche Rüstung aussah. Er hatte sich geirrt. Er bestand aus einer Vielzahl transparenter Ballons, mit einem monströs schweren Tornister und einem kugelförmigen Helm voller esoterisch aussehender Zungenkontrollen. Obwohl keine Waffen sichtbar waren, sah der Tornister ganz danach aus, als gehörte er zur Kampfausrüstung eines Kzin. Nessus hatte darauf bestanden, daß der Kzin den Tornister im Lagerraum verstaute.
Der Kzin hatte den größten Teil der Fahrt verschlafen.
Jetzt standen alle hinter Louis und spähten ihm über die Schultern.
»Ich lande neben dem Outsiderschiff«, sagte Louis.
»Nein. Bringen Sie uns nach Osten! Wir haben eine abgelegene Zone gewählt, um die Long Shot zu parken.«
»Weshalb? Erwarten Sie, daß die Outsider Ihr Raumschiff ausspionieren?«
»Nein. Die Long Shot benutzt Fusionsantriebe statt Thrustern. Die Hitzeentwicklung beim Starten und Landen würde die Outsider stören.«
»Warum Long Shot?«
»Beowulf Shaeffer hat das Schiff so getauft. Er war das erste und bisher einzige intelligente Wesen, das mit diesem Schiff gefahren ist. Er schoß die einzigen existierenden Aufnahmen von der Explosion des galaktischen Zentrums. Ist der Ausdruck Long Shot nicht ein Begriff aus dem Glücksspiel?«
»Vielleicht rechnete Shaeffer nicht damit, von seiner Reise zurückzukehren. Ich gestehe besser gleich, daß ich noch nie ein Schiff mit Fusionsantrieb gesteuert habe.«
»Sie werden es lernen«, erwiderte Nessus.
»Einen Augenblick«, meldete sich der Kzin zu Wort. »Ich habe Erfahrungen mit fusionsgetriebenen Raumschiffen! Ich werde die Long Shot steuern!«
»Unmöglich. Der Sitz für den Piloten ist menschlichen Formen angepaßt. Die Kontrollen entsprechen menschlichen Gepflogenheiten.«
Der Kzin knurrte ärgerlich.
»Dort, Louis! Ein Stück voraus!«
Die Long Shot war eine durchsichtige Blase, ungefähr dreihundert Meter im Querschnitt. Während Louis den Transporter um die Riesenblase steuerte, fand er nicht einen Kubikfuß, der nicht mit der charakteristischen grünen und bronzefarbenen Maschinerie eines Hyperraum-Shuntmotors vollgepackt gewesen wäre. Die Schiffszelle war jedem erfahrenen Raumfahrer ein Begriff. Es handelte sich um eine General-Products-Zelle Mark Vier — so groß, daß sie normalerweise nur eingesetzt wurde, um ganze vorgefertigte Fabrikationsanlagen zu verschiffen. Die Long Shot sah nicht aus wie ein gewöhnliches Raumschiff. Sie erinnerte eher an einen riesigen primitiven Orbitalsatelliten, den eine Rasse mit begrenzten Ressourcen und technologischen Fähigkeiten gebaut hatte, so daß auch noch der kleinste freie Raum ausgenutzt werden mußte.
»Und wo sollen wir sitzen?« fragte Louis. »Oben drauf?«
»Die Kabine befindet sich auf der Unterseite. Landen Sie unter der Krümmung der Hülle.«
Louis landete auf schwarzem Eis und glitt anschließend mit dem Transporter vorsichtig unter den ausladenden Bauch der Long Shot.
Im Lebenserhaltungssystem der Long Shot brannte Licht. Hinter der durchsichtigen Außenhaut erkannte Louis zwei winzige Kabinen. Die untere war gerade groß genug für die Pilotenliege, einen Massendetektor und die hufeisenförmige Instrumentenkonsole. Die obere Kabine war nicht viel größer. Louis spürte, wie der Kzin hinter ihn trat.
»Interessant«, knurrte der Kzin. »Ich nehme an, die untere Kabine ist für Louis bestimmt. Wir drei dürfen uns die oberen teilen.«
»Richtig«, flötete der Puppenspieler. »Es war gar nicht leicht, drei Liegen in einem so kleinen Raum unterzubringen. Jede Liege besitzt ein eigenes Stasisfeld, um ein Maximum an Sicherheit zu gewährleisten. Da wir uns während des Fluges in Stasis befinden, macht es nichts, daß es keinen Platz gibt, um sich zu bewegen.«
Der Kzin schnaubte, und Louis spürte, wie er den Platz hinter seiner Schulter verließ. Der Transporter kam zur Ruhe, und Louis legte eine Reihe von Schaltern um.
»Ich möchte noch einen Punkt klären«, sagte Louis und drehte sich um. »Teela und ich teilen uns den gleichen Gewinn, den Der-zuden-Tieren-spricht für sich allein hat.«
»Sie wollen mehr Geld?« flötete Nessus. »Ich werde darüber nachdenken.«
»Ich möchte etwas, das Sie nicht mehr benötigen«, sagte Louis. »Etwas, das Ihre Rasse hinter sich gelassen hat.« Er hatte einen günstigen Augenblick zum Feilschen abgewartet. Er rechnete nicht damit, daß es funktionieren würde, aber es war allemal einen Versuch wert. »Ich will die Koordinaten der Puppenspielerwelt!«
Nessus Hälse schwangen auseinander, dann drehten sie sich nach innen, und der Puppenspieler blickte sich selbst in die Augen. »Warum?« fragte er schließlich.
»Früher einmal waren die Koordinaten der Puppenspielerwelt das bestgehütete Geheimnis des Bekannten Weltraums. Ihre Rasse hätte einem Erpresser jeden Preis gezahlt, damit er das Geheimnis nicht ausplaudert«, sagte Louis. »Deswegen waren die Koordinaten auch so wertvoll. Glücksritter suchten jeden Stern der Klassen G und K ab, den sie erreichen konnten. Selbst heute noch können Teela und ich eine Menge Geld verdienen, wenn wir die Informationen einem Nachrichtensender verkaufen.«
»Und wenn unser Heimatplanet außerhalb des Bekannten Weltraums liegt?«
»Mm rmmm«, räusperte sich Louis. »Mein Geschichtslehrer hat sich das auch immer gefragt. Trotzdem — die Information wäre gutes Geld wert.«
»Ehe wir zu unserem eigentlichen Bestimmungsort aufbrechen«, erwiderte der Puppenspieler vorsichtig, »werden Sie die Koordinaten der Welt der Puppenspieler erfahren. Ich schätze, Sie werden die Information eher überraschend als nützlich finden.« Erneut blickte er sich einen Herzschlag lang selbst in die Augen.
Dann wurde er ernst: »Achten Sie auf die vier kegelförmigen Vorsprünge…«
»Ja.« Louis hatte die am äußeren Ende offenen Kegelstümpfe bereits entdeckt. Sie waren um den Kabinenteil herum angeordnet und zeigten schräg nach unten. »Sind das die Fusionsmotoren?«
»Ja. Sie werden feststellen, daß das Schiff sich genauso verhält wie eines mit Thrustertriebwerken. Nur die innere Schwerkraft fällt weg. Unsere Konstrukteure hatten nicht genügend freien Raum. Was die Bedienung des Quantum II Hyperantriebs anbelangt, so gibt es eine Sache, wegen der ich Sie warnen muß…«
»Ich habe ein Varioschwert!« fauchte Der-zu-den-Tieren-spricht plötzlich. »Ich schlage vor, niemand bewegt sich!«
Es dauerte einen Augenblick, bis Louis begriff. Langsam drehte er sich um, sorgfältig darauf bedacht, keine hastigen Bewegungen zu machen.
Der Kzin stand an der konkaven Innenwand der Pilotenkanzel. In einer seiner krallenbewehrten Fäuste hielt er etwas, das an den Griff eines überdimensionierten Springseils erinnerte. Drei Meter vom Griff entfernt, gekonnt auf Höhe der schwarz umrandeten Katzenaugen gehalten, schwebte eine kleine, rot leuchtende Kugel. Der Draht, der die Kugel mit dem Griff verband, war viel zu dünn, als daß man ihn mit bloßen Augen hätte sehen können, doch Louis zweifelte keinen Augenblick, daß er da war. Umhüllt und in Form gehalten von einem Slaver-Stasisfeld, durchschnitt dieser Draht so gut wie jedes Metall — auch die Rückenlehne der Pilotenliege, falls Louis dahinter Schutz suchen sollte. Und der Kzin hatte sich einen Platz ausgesucht, von dem aus er jeden Punkt der Kabine erreichen konnte.
Zu Füßen des Kzin lag der unidentifizierbare Klumpen Alienfleisch. Er war aufgerissen und — natürlich — innen ausgehöhlt gewesen.
»Ich hätte eine weniger grausame Waffe vorgezogen«, sagte Derzu-den-Tieren-spricht. »Ein Betäubungsstrahler zum Beispiel wäre für meine Zwecke ideal gewesen, doch ich konnte in so kurzer Zeit keinen auftreiben. Louis, nehmen Sie die Hände von der Konsole und legen Sie sie auf die Rückenlehne.«
Louis gehorchte. Er hatte mit dem Gedanken gespielt, die Kabinenschwerkraft zu manipulieren, doch der Kzin hätte ihn in zwei Teile zerschnitten, falls er den Schwerkraftregler auch nur berührt hätte.
»Nachdem Sie sich endlich alle ruhig verhalten, werde ich Ihnen erklären, was als nächstes geschieht.«
»Weshalb das alles?« erkundigte sich Louis. Er wartete auf eine Gelegenheit. Die rote Kugel zeigte dem Kzin, wo seine unsichtbare Drahtklinge endete. Falls Louis die Kugel zu fassen bekam, ohne dabei seine Finger einzubüßen…
Nein. Die Kugel war zu klein.
»Meine Motive sollten eigentlich offensichtlich sein«, sagte Der-zuden-Tieren-spricht. Die schwarzen Zeichnungen um seine Augen erinnerten an eine Gangstermaske in einem Cartoon. Der Kzin war weder aufgeregt noch entspannt, und er stand so, daß ein Angriff so gut wie unmöglich war.
»Ich beabsichtige, die Long Shot meinem Volk zu überbringen. Nach ihrem Vorbild werden wir viele Schiffe bauen, die uns im nächsten Krieg gegen die Menschen eindeutig überlegen machen, vorausgesetzt, die Menschen haben nicht ebenfalls Pläne für dieses Schiff. Genügt Ihnen das?«
»Sie haben nicht zufällig Angst vor unserem Zielort?« fragte Louis Wu sarkastisch.
»Nein.« Die Beleidigung entging dem Alien völlig. Wie sollte man einem Kzin Sarkasmus begreiflich machen? »Sie werden sich jetzt alle ausziehen, damit ich sicher sein kann, daß Sie keine Waffen mehr tragen. Anschließend wird der Puppenspieler seinen Druckanzug wieder anlegen. Ich werde mit ihm zusammen an Bord der Long Shot gehen. Louis und Teela bleiben zurück. Ich werde Ihre Kleidung, Ihr Gepäck und Ihre Druckanzüge mitnehmen und dieses Schiff manövrierunfähig machen. Zweifellos werden die Outsider neugierig werden, warum Sie nicht zur Erde zurückgekehrt sind, und zu Hilfe kommen, bevor Ihre Lebenserhaltungssysteme versagen können. Haben Sie alle verstanden?«
Louis war völlig entspannt und bereit, jeden Fehler auszunutzen, den der Kzin beging. Er warf einen Seitenblick zu Teela, und eisiger Schreck fuhr ihm in die Glieder. Sie spannte ihre Muskeln, um sich auf den Kzin zu stürzen!
Er würde sie in Stücke hauen!
Louis mußte ihr zuvorkommen.
»Machen Sie keine Dummheiten, Louis! Stehen Sie langsam auf und stellen Sie sich dort an die Wand! Sie sind der erste, den ich… Aaah.«
Seine Worte verklangen in einem schmachtenden Stöhnen.
Louis hielt überrascht inne. Er konnte sich nicht erklären, was er sah.
Der-zu-den-Tieren-spricht warf den schweren orangefarbenen Kopf zurück und miaute: Ein unheimliches Kreischen, durchsetzt von Ultraschall. Er breitete die Arme aus, als wollte er das gesamte Universum umarmen. Die Drahtklinge seines Schwerts ging durch einen Wassertank, ohne merklich aufgehalten zu werden. Wasser ergoß sich aus dem zersägten Behälter. Der Kzin bemerkte es nicht. Seine Augen sahen nichts, und seine Ohren hörten nichts.
»Nehmen Sie ihm die Waffe ab!« befahl Nessus.
Louis setzte sich in Bewegung. Vorsichtig trat er auf den Kzin zu, bereit, sich zu ducken, falls das Schwert in seine Richtung schwang. Der-zu-den-Tieren-spricht winkte mit der Waffe wie mit einem Taktstock. Vorsichtig wand Louis den Griff aus der widerstandslosen Faust des Kzin. Er berührte den entsprechenden Schalter, und die rote Kugel fuhr zurück, bis sie wieder im Griff saß.
»Behalten Sie das Ding«, befahl Nessus. Er packte den Kzin mit einem seiner Münder am Arm und führte ihn zur Pilotenliege. Der Kzin wehrte sich nicht. Er hatte inzwischen aufgehört zu miauen, doch die schwarz umrandeten Augen starrten in die Unendlichkeit, und auf dem großen behaarten Katzengesicht spiegelte sich grenzenlose Gelassenheit.
»Was ist passiert? Was haben Sie gemacht?« fragte Louis.
Der-zu-den-Tieren-spricht starrte in die Unendlichkeit und schnurrte.
»Passen Sie auf«, sagte der Puppenspieler. Er zog sich vorsichtig von der Liege und dem Kzin zurück. Die beiden flachen Köpfe waren fest auf das Katzenwesen gerichtet. Die Augen des Puppenspielers ließen den Kzin nicht einen Moment los.
Plötzlich kam wieder Leben in den Kzin. Er blickte gehetzt von Louis zu Teela und von Teela zu Nessus. Er gab dumpfe, fauchende Klagelaute von sich, setzte sich auf und wechselte zu Interspeak:
»Das war wunderschön. Ich wünschte…«
Er hielt inne und blinzelte. »Was auch immer Sie getan haben, machen Sie es nicht noch einmal«, grollte er Nessus an.
»Ich hatte Sie für zivilisiert gehalten«, entgegnete Nessus gleichmütig. »Mein Urteil war richtig. Nur ein zivilisiertes Wesen fürchtet sich vor einem Tasp.«
»Ah!« seufzte Teela.
»Tasp?« wiederholte Louis verwundert.
Der Puppenspieler wandte sich an das Tigerwesen. »Sie wissen, daß ich den Tasp jedesmal gegen Sie einsetzen werde, wenn Sie mich dazu zwingen, Sprecher-zu-den-Tieren! Ich werde ihn einsetzen, sobald Sie mich erschrecken oder mir drohen. Wenn Sie zu häufig Gewalt anzuwenden versuchen, werden Sie schon bald süchtig nach dem Tasp sein. Das Gerät ist ein chirurgisches Implantat. Sie müßten mich töten, um in den Besitz meiner Waffe zu gelangen. Trotzdem wären Sie weiterhin süchtig danach. Sehr würdelos.«
»Sehr geschickt«, gestand Der-zu-den-Tieren-spricht. »Eine brillant unorthodoxe Taktik. Ich werde keine weiteren Schwierigkeiten machen.«
»Tanj! Will mir endlich jemand erklären, was ein Tasp ist?«
Louis’ Unkenntnis schien alle zu überraschen. Es war Teela, die ihm schließlich antwortete. »Ein Tasp stimuliert das Lustzentrum im Gehirn.«
»Aus der Entfernung?« Louis hatte nicht einmal gewußt, daß so etwas theoretisch möglich war.
»Sicher. Er bewirkt das gleiche wie Strom für einen Drahtkopf, nur, daß du keinen Draht in dein Gehirn implantieren mußt. Normalerweise ist ein Tasp so groß, daß man ihn eben mit einer Hand halten kann.«
»Hast du schon mal einen Tasp zu spüren bekommen? Nicht, daß es mich etwas anginge.«
Teela grinste spöttisch wegen seines Taktgefühls. »Ja, ich weiß, wie es sich anfühlt. Es ist ein Augenblick der… ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Aber man wendet einen Tasp nie gegen sich selbst an. Man richtet ihn auf jemanden, der nicht darauf gefaßt ist. Das macht erst richtig Spaß. Die Polizei greift andauernd Tasper in den Parks auf.«
»Ihre Tasps«, meldete sich Nessus zu Wort, »induzieren nicht einmal für eine Sekunde Strom. Meiner wirkt etwa zehn Sekunden lang.«
Die Wirkung auf Der-zu-den-Tieren-spricht mußte ungeheuerlich gewesen sein. Louis sah andere Implikationen. »Oh. Wow! Das ist wunderbar. Das ist herrlich! Wer außer einem Puppenspieler würde mit einer Waffe durch die Gegend laufen, die seinen Feinden gut tut?«
»Wer außer einem stolzen, zivilisierten Wesen würde sich vor zuviel Lust fürchten? Der Puppenspieler hat ganz recht«, fauchte Derzu-den-Tieren-spricht. »Ich werde mich nicht mehr diesem Tasp aussetzen. Zu viele Stromstöße von diesem Teufelsding würden mich zu einem willenlosen Sklaven machen. Ich, ein Kzin, versklavt von einem Blätteresser!«
»Wir haben genug Zeit mit Unsinn vergeudet«, sagte Nessus ernst. »Gehen wir endlich an Bord!«
Louis war der erste an Bord der Long Shot.
Er war nicht überrascht, als seine Beine auf Nereids felsiger Oberfläche unwillkürlich zu tanzen versuchten. Louis wußte, wie man sich in niedriger Gravitation bewegte. Doch sein Unterbewußtsein beharrte stur darauf, daß die Gravitation beim Betreten der Long Shot wieder zunahm. Gewappnet für den Wechsel stolperte er und wäre fast gefallen, als die Gravitation unverändert schwach blieb.
»Ich weiß, daß sie damals schon künstliche Gravitation hatten«, brummte er und betrat die Kabine. »… oh.«
Die Kabine war primitiv. Überall gab es Ecken und Kanten, um sich Knie und Ellbogen zu stoßen. Alles war sperriger als nötig. Die Kontrollen waren unmöglich angeordnet…
Schlimmer noch — die Kabine war klein. Es hatte künstliche Gravitation gegeben, als man die Long Shot gebaut hatte — doch selbst in diesem riesigen Schiff war nicht genügend Raum für die Maschinen geblieben. Es gab kaum Platz für einen Piloten.
Instrumentenkonsole und Massendetektor, eine Küchenautomatik, eine Pilotenliege und dahinter ein winziger freier Raum, in dem ein Mann nicht einmal stehen konnte, ohne den Kopf einzuziehen.
Louis zwängte sich in den freien Raum und fuhr die Klinge des Varioschwerts auf einen Meter aus.
Der-zu-den-Tieren-spricht kam selbstbewußt und zeitlupenhaft langsam an Bord. Er zwängte sich ohne anzuhalten an Louis vorbei und kletterte in die obere Kabine hinauf.
Das obere Abteil war ein Erholungsraum für den einzigen Piloten des Schiffs gewesen. Trainingsmaschinen und ein Leseschirm waren herausgerissen worden, um Platz für drei zusätzliche Crashliegen zu schaffen. Der-zu-den-Tieren-spricht kletterte in eine davon.
Louis folgte ihm einhändig die Sprossen hinauf. In der anderen hielt er deutlich sichtbar das Schwert. Er schloß den gewölbten Deckel über der Koje und deaktivierte die Waffe.
Die Crashliege wurde zu einem großen verspiegelten Ei. Im Innern würde die Zeit stehenbleiben, bis Louis das Stasisfeld wieder abschaltete. Falls das Schiff mit einem Antimaterie-Asteroiden zusammenstieß, würde selbst die General-Products-Zelle sich in ionisierten Dampf auflösen. Die Koje des Kzin würde bei diesem Zusammenstoß nicht einmal einen Kratzer abbekommen.
Louis atmete auf. Alles war ihm wie ein ritualisierter Tanz vorgekommen, mit einem verdammt realen Hintergrund. Der Kzin hatte wirklich allen Grund, dieses Schiff zu stehlen. Der Tasp hatte daran nichts geändert. Der-zu-den-Tieren-spricht durfte keine weitere Gelegenheit erhalten.
Louis kehrte in die Pilotenkabine zurück und schaltete die Bordzu-Bord-Kommunikation ein. »Kommt jetzt herein.«
Etwas über hundert Stunden später hatte Louis Wu das Sonnensystem bereits hinter sich gelassen.