KAPITEL SECHS GESCHENKBAND

»Der Witz geht auf meine Kosten«, sagte Louis Wu. »Jetzt weiß ich, wie ich die Welt der Puppenspieler finde. Ein guter Witz, Nessus. Sie haben Ihr Versprechen gehalten.«

»Ich sagte Ihnen doch, daß die Information Sie mehr überraschen als Ihnen nutzen würde.«

»Ein gelungener Scherz«, stimmte der Kzin Louis zu. »Ihr Sinn für Humor überrascht mich, Nessus.«

Unter ihnen ragte eine winzige, langgestreckte Insel aus dem Meer. Sie leuchtete wie ein Feuersalamander, und Louis meinte, hohe schlanke Gebäude zu unterscheiden. Anscheinend vertraute man Fremden nicht genug, um sie auf dem Festland zu empfangen.

»Das war kein Scherz«, sagte Nessus. »Meine Spezies hat keinen Sinn für Humor.«

»Merkwürdig. Ich habe immer geglaubt, Humor sei ein Ausdruck von Intelligenz.«

»Nein. Humor ist mit einer Unterbrechung des Verteidigungsmechanismus gekoppelt.«

»Trotzdem…«

»Sprecher-zu-den-Tieren, kein vernünftiges Wesen vernachlässigt jemals seine Verteidigung.«

Während das Schiff dem Boden entgegensank, lösten sich die Lichter in einzelne Quellen auf: Sonnenpaneele auf Bodenniveau, beleuchtete Fenster in den Häusern, Laternen in parkähnlichen Anlagen. Louis erhaschte noch einen flüchtigen Blick auf die Umrisse von Gebäuden, die wie schlanke Degenklingen meilenweit in den Himmel ragten. Dann umschloß sie die Stadt, und sie waren gelandet.

Mitten in einer Parklandschaft voller fremdartiger, farbenfroher Pflanzen.

Nichts rührte sich.

Puppenspieler standen auf der Liste der harmlos aussehenden intelligenten Lebewesen des Bekannten Weltraums an zweiter Stelle. Sie waren zu scheu, zu klein und sahen zu komisch aus, um als gefährlich zu gelten. Sie waren lustig, sonst nichts.

Doch plötzlich war Nessus ein Mitglied seiner Rasse — und diese Rasse war mächtiger, als Menschen sich in ihren kühnsten Träumen vorgestellt hatten. Der verrückte Puppenspieler saß ganz still. Seine Hälse fuhren auf und nieder, während er seine auserkorenen Untergebenen beobachtete. Plötzlich war nichts mehr an Nessus lachhaft. Seine Gattung hatte Welten bewegt, sogar fünf zur gleichen Zeit.

Teelas Kichern wirkte wie ein Schock.

»Ich hatte mir gerade überlegt«, erklärte sie, »daß Sie nur eine einzige Methode kennen, zu viele kleine Puppenspieler zu vermeiden. Totale sexuelle Enthaltsamkeit. Stimmt’s, Nessus?«

»Ja.«

Sie kicherte erneut. »Kein Wunder, daß Puppenspieler keinen Sinn für Humor haben.«

Sie folgten einem schwebenden blauen Licht durch einen Park, der zu regelmäßig, zu symmetrisch und zu gezähmt wirkte.

Die Luft war zum Schneiden dick vom würzig-aromatischen Duft nach Puppenspieler. Der Geruch war allgegenwärtig. In der Kabine des Fährschiffes war er stark gewesen und künstlich wie ein Parfüm. Er war nach dem Offnen der Luftschleuse nicht schwächer geworden. Eine Billion Puppenspieler hatten die Atmosphäre dieser Welt mit ihren Ausdünstungen aromatisiert, und sie würde bis in alle Ewigkeit nach Puppenspieler riechen.

Nessus tanzte. Seine kleinen Hufe schienen kaum die elastische Oberfläche der Gehwege zu berühren. Der Kzin glitt katzenartig dahin, während sein nackter rosiger Schweif sich im Rhythmus der Schritte bewegte. Das Geräusch, das Nessus beim Gehen erzeugte, war das eines Steptänzers im Dreivierteltakt. Der Kzin bewegte sich dagegen völlig lautlos.

Teela ging fast genauso leise. Ihre Bewegungen wirkten tapsig, doch das waren sie nicht. Sie stolperte nie und stieß niemals irgendwo an. Louis bewegte sich am wenigsten elegant von allen.

Warum sollte Louis Wu auch elegant sein? Ein gealterter Affe, den die Evolution niemals richtig an den aufrechten Gang angepaßt hatte. Millionen von Jahren waren seine Vorfahren auf allen Vieren gelaufen, wenn sie laufen mußten, und hatten Bäume benutzt, wann immer es möglich gewesen war.

Das Pliozän hatte dem ein Ende bereitet mit einer Trockenperiode, die Millionen von Jahren angedauert hatte. Die Wälder waren verdorrt und eingegangen, und Louis Wus Ahnen waren hungernd in den trockenen Steppen zurückgeblieben. In ihrer Verzweiflung hatten sie angefangen, Fleisch zu fressen. Nachdem sie das Geheimnis des Antilopenhüftknochens entdeckt hatten, waren sie einigermaßen satt geworden. Die doppelte Gelenkkugel der Antilopenhüfte hatte auf so manchem fossilen Schädel ihren Abdruck hinterlassen.

Jetzt gingen Louis Wu und Teela Brown auf Füßen, die noch immer verkümmerte Finger aufwiesen, neben den beiden fremden Wesen her.

Fremde? Sie selbst waren hier die Fremden, einschließlich dem verrückten, verbannten Nessus mit seiner wirren Mähne und den ruhelos zuckenden Köpfen.

Der-zu-den-Tieren-spricht war genauso unruhig wie Louis. Seine Blicke aus den schwarz umrandeten Augen suchten die fremdartige Vegetation unablässig nach irgendwelchen Dingern mit Giftstacheln oder spitzen Zähnen ab. Wahrscheinlich reiner Instinkt. Die Puppenspieler würden keine gefährlichen Tiere in ihren Parks dulden.

Sie erreichten eine Kuppel, die wie eine riesige, halb vergrabene Perle schimmerte. Das schwebende blaue Licht teilte sich.

»Ich muß Sie jetzt verlassen«, sagte Nessus. Louis sah, daß der Puppenspieler sich entsetzlich fürchtete.

»Ich werde Denen-die-Führen gegenübertreten.« Er sprach leise und drängend. »Sprecher-zu-den-Tieren, verraten Sie mir eins: Falls ich nicht zurückkehren sollte, werden Sie mich suchen und für die Beleidigung im Krushenko’s töten?«

»Besteht denn die Gefahr, daß Sie nicht wiederkommen?«

»Durchaus. Denen-die-Führen wird vielleicht mißfallen, was ich zu berichten habe. Ich frage Sie noch einmal: Würden Sie mich jagen und töten?«

»Hier auf einer fremden Welt, mitten unter Wesen von so furchtbarer Macht und mit so wenig Vertrauen in die friedlichen Absichten eines Kzin?« Der Schweif des Kzin zuckte einmal zur Untermauerung seiner Worte. »Nein. Aber ich würde auch die Expedition nicht mehr fortsetzen.«

»Das genügt.« Nessus trottete sichtlich zitternd hinter seinem blauen Licht her.

»Wovor hat er Angst?« fragte Teela kopfschüttelnd. »Er hat doch alles getan, was sie ihm aufgetragen haben. Warum sollten sie wütend auf ihn sein?«

»Ich glaube, er brütet irgend etwas aus«, murmelte Louis. »Irgendeine Hinterlist. Aber was?«

Das blaue Licht setzte sich wieder in Bewegung. Sie folgten ihm in die schimmernde Kuppel hinein…


Plötzlich war die Kuppel verschwunden. Von ihren im Dreieck aufgestellten Liegen blickten zwei Menschen und ein Kzin hinaus in einen gestutzten Dschungel aus farbenprächtig leuchtenden, fremdartigen Pflanzen und beobachteten, wie sich ein unbekannter Puppenspieler näherte. Entweder war die Kuppel von innen unsichtbar, oder die Parklandschaft war eine Projektion. Die Luft roch nach zahlreichen Puppenspielern.

Der unbekannte Puppenspieler schob sich durch einen letzten Vorhang aus herabhängenden scharlachroten Reben. (Louis erinnerte sich noch, wie er Nessus in Gedanken als Neutrum betrachtet hatte. Wann war der Puppenspieler in Louis’ Vorstellung zu einem Maskulinum geworden? Der-zu-den-Tieren-spricht, ähnlich fremdartig wie der Puppenspieler, war von Anfang an maskulin gewesen.) Der Puppenspieler blieb unmittelbar vor dem vermutlichen Rand der schimmernden Kuppel stehen. Seine Mähne war silbern, nicht braun wie die von Nessus, und sorgfältig in Ringellocken gedreht. Er sprach mit der gleichen vibrierenden Kontraaltstimme wie Nessus.

»Ich muß mich entschuldigen, daß ich Sie nicht persönlich begrüßen kann. Nennen Sie mich Chiron.«

Also eine Projektion. Louis und Teela murmelten knappe Begrüßungen. Der-zu-den-Tieren-spricht entblößte die Zähne.

»Der, den Sie Nessus nennen, weiß alles, was Sie wissen müssen. Er wird im Augenblick anderweitig benötigt. Allerdings berichtete er, wie Sie reagierten, als Sie unsere technische Leistungsfähigkeit kennenlernten.«

Louis zuckte zusammen. Der Puppenspieler fuhr fort: »Das erleichtert mir vielleicht die Aufgabe. Um so besser werden Sie verstehen, wie wir reagierten, als wir von einem noch ehrgeizigeren Werk der Ingenieurkunst erfuhren.«

Die Hälfte der Kuppel wurde dunkel. Ärgerlicherweise war es die Seite, die der Projektion des Puppenspielers gegenüberlag. Louis fand einen Hebel, mit dem er seine Couch herumschwenken konnte. Aber er hätte zwei bewegliche Köpfe mit voneinander unabhängigen Augen benötigt, um beide Hälften der Kuppel zugleich beobachten zu können. Die abgedunkelte Seite zeigte eine kleine gleißende Scheibe vor dem Hintergrund eines sternen-übersäten Alls.

Eine beringte Scheibe. Es war eine vergrößerte Projektion des Hologramms in Louis Wus Tasche.

Die Lichtquelle in der Mitte des ringförmigen Gebildes war klein und strahlend weiß, etwa so hell wie Sol, vom Jupiter aus betrachtet. Der Ring besaß einen gewaltigen Durchmesser und war weit genug, um sich über den größten Teil der verdunkelten Hälfte der Kuppel zu erstrecken. Doch der Ring war schmal, nicht viel breiter als die Lichtquelle in seinem Mittelpunkt. Die dem Betrachter zugekehrte Rundung war schwarz und dort, wo sie die Lichtquelle überdeckte, scharf umrissen. Die gegenüberliegende, entfernte Hälfte des Ringes war ein blaßblaues Band im dunklen All.

Louis gewöhnte sich zunehmend an Wunder, doch er war nicht so blasiert, idiotisch klingende Vermutungen zu äußern. Er sagte: »Sieht aus wie ein Stern mit einem Ring darum. Was ist das?«

Chirons Antwort überraschte ihn nicht.

»Es ist ein Stern mit einem Ring darum«, sagte der Puppenspieler. »Einem Ring aus fester Materie. Einem Artefakt.«

Teela Brown klatschte in die Hände und begann zu kichern. Nach ein paar Sekunden unterdrückte sie ihren Heiterkeitsausbruch und setzte ein wundervoll ernstes Gesicht auf, wenngleich ihre Augen weiter funkelten. Louis verstand nur zu gut, was in ihr vorging. Er spürte die gleiche Freude, wenn auch nicht so stark. Die beringte Sonne war ihr gemeinsames privates Spielzeug: etwas Neues in einem ansonsten profanen Universum.

(Man nehme ein blaßblaues, ein Zoll breites Seidenband, wie man es zum Einpacken von Weihnachtsgeschenken verwendet. Man stelle eine brennende Kerze auf den nackten Boden, wickle ungefähr fünfzehn Meter Seidenband ab und spanne es in einem Kreis um die Kerze im Mittelpunkt, wobei man das Band hochkant stellt, damit die innere Seite vom Kerzenlicht beschienen wird.)

Der Schwanz des Kzin peitschte hin und her, hin und her.

(Schließlich: Das war keine Kerze in der Mitte. Das war eine Sonne!)

»Inzwischen wissen Sie«, sagte Chiron, »daß wir uns seit zweihundertvier Jahren irdischer Zeitrechnung entlang der galaktischen Achse nach Norden bewegen. Nach Kzinti-Zeitrechnung sind das…«

»Zweihundertsiebzehn Jahre.«

»Richtig. Während dieser Zeit haben wir natürlich den Raum ringsum nach möglichen Gefahren und unerwarteten Hindernissen abgesucht. Wir entdeckten, daß der Stern EC-1752 von einem uncharakteristisch dichten und schmalen Band aus dunkler Materie umgeben ist. Wir nahmen an, daß der Ring aus Staub oder Stein bestand. Doch seine Form war überraschend regelmäßig.

Vor ungefähr drei Monaten erreichte unsere Weltenflotte eine Position, wo der Ring den Stern völlig verdeckte. Wir fanden heraus, daß der Ring scharfe Konturen aufwies. Weitere Untersuchungen enthüllten, daß er weder aus Gas noch aus Staub und schon gar nicht aus Asteroidengestein besteht, sondern ein festes Band von ganz erheblicher Belastbarkeit darstellt. Selbstverständlich beunruhigte uns diese Entdeckung sehr.«

»Wie konnten Sie auf die Belastbarkeit des Materials schließen?« erkundigte sich Der-zu-den-Tieren-spricht.

»Spektralanalyse und Frequenzschwankungen lieferten uns eine relative Geschwindigkeitsdifferenz. Der Ring rotiert eindeutig um seine Sonne, mit einer Geschwindigkeit von 770 Meilen pro Sekunde. Die Geschwindigkeit reicht aus, um die Anziehungskraft der Sonne zu überwinden und zusätzlich eine Zentripetalbeschleunigung von 9,94 Meter pro Sekundenquadrat zu erzeugen. Bedenken Sie die notwendige Zähigkeit, um eine Konstruktion wie diese nicht unter der Belastung auseinanderbrechen zu lassen.«

»Schwerkraft«, sagte Louis.

»Offensichtlich.«

»Schwerkraft. Eine Spur geringer als auf der Erde.

Irgend jemand lebt dort. Auf der Innenseite des Rings. Finagles Finger!« rief Lous Wu, als ihm die volle Bedeutung seiner Worte aufging. Die kleinen Härchen entlang seiner Wirbelsäule richteten sich auf. Louis hörte das Wisch-wisch des Kzintischwanzes, der durch die Luft peitschte.

Es war nicht das erste Mal, daß Menschen auf überlegene Intelligenzen getroffen waren. Bisher hatten sie stets Glück gehabt…

Abrupt sprang Louis auf und trat an die Kuppelwand. Es funktionierte nicht. Der Ring und der Stern wichen vor ihm zurück, bis er eine glatte Fläche berührte. Doch er bemerkte etwas, das ihm bisher entgangen war. Der Ring war gescheckt. Die blaue Innenseite war von rechteckigen Schatten mit regelmäßigen Zwischenräumen überzogen.

»Haben Sie eine bessere Aufnahme?«

»Wir können sie vergrößern«, erwiderte der Puppenspieler mit seiner Kontraaltstimme. Der G2-Stern sprang Louis entgegen und glitt strahlend hell rechts an ihm vorbei, so daß Louis nun auf die beleuchtete innere Oberfläche des Ringes blickte. Die Vergrößerung war verschwommen, und Louis konnte nur vermuten, daß die helleren, weißeren Bereiche Wolkenfelder darstellten. Dunkleres Blau war Festland, während das hellere Blau Wasserflächen darstellte.

Die Schattenflächen traten deutlich hervor. Der Ring schien von Rechtecken überzogen — langen Abschnitten von schimmerndem Babyblau folgten regelmäßig kürzere in einem tief dunklen Marineblau, an die sich stets wieder ein hellblauer Abschnitt anschloß. Wie eine gestrichelte Linie.

»Irgend etwas erzeugt diese Schatten«, sagte Louis. »Irgend etwas in der Umlaufbahn?«

»Genau das. Zwanzig rechteckige Gebilde rotieren zwischen Ring und Zentralgestirn in einer Kemplerer-Rosette um die Sonne. Wir wissen nicht, zu welchem Zweck.«

»Wie auch? Es schon zu lange her, seit Sie Ihre Sonne hinter sich gelassen haben. Diese Rechtecke im Orbit dienen wahrscheinlich dazu, Tag und Nacht zu erzeugen. Sonst wäre es auf der Innenfläche des Ringes immer zwölf Uhr mittags.«

»Jetzt verstehen Sie, weshalb wir Sie um Hilfe baten. Erfahrungen fremder Spezies können nur nützlich sein.«

»Mm hmmm. Wie groß ist der Ring? Haben Sie ihn genauer untersucht? Haben Sie Sonden losgeschickt?«

»Wir haben den Ring so gründlich wie möglich studiert, ohne unsere Geschwindigkeit zu drosseln und ohne anderweitig Aufmerksamkeit auf uns zu lenken. Selbstverständlich schickten wir keine Sonden aus. Wir hätten sie mit Hyperwellen fernsteuern müssen, und man hätte das Signal zu uns zurückverfolgen können.«

»Man kann ein Hypersignal nicht orten. Das ist theoretisch unmöglich!«

»Vielleicht haben die Konstrukteure des Rings andere Theorien entwickelt.«

»Hmmm.«

»Wir haben den Ring mit anderen Instrumenten untersucht.« Während Chiron sprach, wichen die Farben auf der Kuppelwand einem schwarzweißgrauen Muster. Konturen verschwammen und gerieten ins Wanken. »Wir haben Photographien und Hologramme in sämtlichen elektromagnetischen Frequenzen. Falls Sie daran Interesse haben…«

»Sie zeigen nicht viel Einzelheiten.«

»Nein. Das Licht wird zu sehr von Schwerkraftfeldern und Sonnenwinden abgelenkt. Kosmische Staubwolken und interstellare Gase trugen einen weiteren Teil dazu bei, die Aufnahmen unscharf zu machen. Unsere Teleskope können den Ring nicht weiter auflösen.«

»Also haben Sie wirklich nicht viel herausfinden können.«

»Ich würde sagen, wir haben im Gegenteil ziemlich viel herausgefunden. Eine Sache ist besonders verblüffend: Der Ring hält ungefähr vierzig Prozent aller Neutrinos ab.«

Teela blickte verwirrt drein. Der Kzin gab ein verblüfftes Geräusch von sich, und Louis pfiff sehr leise durch die Zähne.

Das schloß alles aus!

Normale Materie, selbst die ungeheuer komprimierte Materie im Herzen eines Sterns, hielt so gut wie keine Neutrinos auf. Ein Neutrino durchdrang mit fünfzigprozentiger Wahrscheinlichkeit eine Bleibarriere von mehreren Lichtjahren Dicke.

Ein Objekt in einem Slaver-Stasisfeld reflektierte sämtliche Neutrinos. Das gleiche galt für eine General-Products-Zelle.

Aber es gab absolut nichts, das 40 Prozent aller Neutrinos aufhielt und den Rest durchließ.

»Also etwas ganz Neues«, sagte Louis nachdenklich. »Chiron, wie groß ist dieser Ring? Wie massiv?«

»Der Ring besitzt eine Masse von zweimal zehn hoch dreißig Gramm, einen Durchmesser von null Komma neun fünf mal zehn hoch acht Meilen und eine Breite von etwas weniger als zehn hoch sechs Meilen.«

Louis war nicht gewohnt, in abstrakten Potenzen zu denken. Er versuchte die Zahlen in Gedankenskizzen zu übertragen. Er hatte richtig vermutet, als er sich den Ring wie ein zollbreites Geschenkband vorgestellt hatte, das auf der Kante stand und zu einem Kreis aufgespannt war. Der Ring besaß einen Radius von über neunzig Millionen Meilen — schätzungsweise sechshundert Millionen Meilen Umfang —, war jedoch von Rand zu Rand nur knapp eine Million Meilen breit. Seine Masse war kaum größer als die des Planeten Jupiter…

»Irgendwie erscheint er mir nicht massiv genug«, sagte Louis. »Ein Ding von dieser Größe sollte soviel Masse besitzen wie eine größere Sonne.«

Der Kzin stimmte Louis zu. »Man hat die absurde Vorstellung, daß Milliarden von Lebewesen auf einer Konstruktion leben, die kaum dicker ist als ein Buchfilm.«

»Ihre Vorstellung ist falsch«, entgegnete der Puppenspieler mit den silbernen Locken. »Bedenken Sie die Dimensionen. Bestünde der Ring aus Schiffslegierung, wäre er ungefähr fünfzig Fuß dick.«

Fünfzig Fuß? Das war kaum zu glauben.

Teela hatte die Augen nach oben zur Decke gerichtet und bewegte leise die Lippen. »Er hat recht«, sagte sie. »Die Mathematik leuchtet mir ein. Aber wozu das Ganze? Warum sollte jemand so ein Ding bauen?«

»Raum.«

»Raum?«

»Lebensraum«, bekräftigte Louis. »Das ist der Sinn des Ganzen. Sechshundert Billionen Quadratmeilen Oberfläche, die dreimillionenfache Oberfläche der Erde. Es ist wie drei Millionen Planeten, alle flach ausgewalzt und aneinandergefügt. Drei Millionen Welten in Gleiterreichweite. Das löst jedes Bevölkerungsproblem.

Sie müssen ein gewaltiges Problem gehabt haben. Ein Projekt wie dieses wird nicht einfach aus einer Laune heraus geboren.«

»Eine Frage«, sagte der Kzin. »Chiron, haben Sie die Nachbarsysteme nach weiteren, ähnlichen Ringen abgesucht?«

»Ja, wir…«

»… Sie fanden nichts. Ich dachte es mir. Hätte die Spezies, die diesen Ring erbaut hat, überlichtschnelle Raumfahrt gekannt, würde sie auch andere Planetensysteme besiedelt haben. Sie hätte den Ring nicht benötigt. Deswegen gibt es nur diesen einen Ring.«

»Richtig.«

»Ich bin beruhigt. Wenigstens in einer Hinsicht sind wir den Erbauern dieses Rings überlegen.« Der Kzin stand unvermittelt auf. »Und wir sollen die bewohnbare Oberfläche des Rings erforschen?«

»Eine Landung könnte sich als ein zu ehrgeiziges Unternehmen herausstellen.«

»Unsinn. Wir müssen das Raumfahrzeug sehen, das Sie für uns vorbereitet haben. Sind die Landeeinrichtungen vielseitig genug? Wann können wir aufbrechen?«

Chiron pfiff — ein überraschter Laut aus Disharmonien. »Sie müssen wahnsinnig sein! Denken Sie an die Macht derer, die diesen Ring erbaut haben! Im Vergleich dazu erscheint selbst meine Zivilisation wie ein Haufen Wilder!«

»Oder Feiglinge.«

»Wie Sie meinen. Sie können Ihr Raumfahrzeug in Augenschein nehmen, sobald der, den Sie Nessus nennen, zurückkehrt. Bis dahin habe ich noch weitere Einzelheiten, die ich Ihnen geben möchte.«

»Stellen Sie meine Geduld nicht auf die Probe«, fauchte Der-zuden-Tieren-spricht. Doch er setzte sich wieder.

Du Lügner, dachte Louis. Du verstellst dich gut. Ich bin stolz auf dich. Ihm war flau im Magen, als er zu seinem Sitz zurückkehrte. Ein babyblaues Band erstreckte sich zwischen den Sternen, und der Mensch war überlegenen Intelligenzen begegnet. Wieder einmal.


Die Kzinti waren die ersten gewesen.

Als die Menschen erst Fusionsantriebe verwendeten, um den leeren Raum zwischen den Sternen zu durchqueren, setzten die Kzinti bereits Schwerkraftpolarisatoren ein, um ihre interstellaren Kriegsschiffe anzutreiben. Ihre Schiffe waren schneller und manövrierfähiger als die der Menschen.

Die Menschheit hätte den Kzinti nur verschwindend geringen Widerstand entgegensetzen können, wäre nicht die Kzinti-Lektion gewesen: Ein Reaktionsantrieb ist eine Waffe, deren Wirksamkeit direkt proportional zur Antriebsleistung ist.

Der erste Raubzug in von Menschen besiedelten Raum war ein entsetzlicher Schock für die Kzinti gewesen. Jahrhundertelang hatte sich die menschliche Gesellschaft in Frieden entwickelt. So lange, daß sie vollkommen vergessen hatte, was Krieg überhaupt war. Doch die interstellaren Raumschiffe der Menschheit verwendeten durch Fusionsenergie gespeiste Photonenantriebe, die durch eine Verbindung von Photonensegeln und asteroidengestützten Laserkanonen gestartet wurden.

Die Telepathen der Kzinti berichteten unablässig, daß die von Menschen bewohnten Welten vollkommen unbewaffnet seien… während riesige Laserkanonen Kzinti-Schiffe zerfetzten und kleinere, bewegliche Kanonen, angetrieben vom Lichtdruck ihrer eigenen Strahlen, zwischen den Schiffen der Kzinti hin und her jagten…

Der unerwartete Widerstand und die natürliche Barriere der Lichtgeschwindigkeit verlangsamten den Vormarsch und führten zu einem jahrzehntelangen Krieg. Trotzdem hätten die Kzinti den Krieg am Ende gewonnen.

Bis ein Schiff der Outsider über die kleine menschliche Kolonie auf We Made It stolperte. Sie verkauften dem Bürgermeister der Kolonie das Geheimnis ihres Hyperraum-Schaltmotors — auf Kredit. We Made It hatte nichts vom Krieg gegen die Kzinti gewußt; doch nachdem die Kolonisten die ersten paar überlichtschnellen Schiffe gebaut hatten, erfuhren sie schnell genug davon.

Gegen Schiffe mit Hyperraumantrieb hatten die Kzinti nicht einmal Gebete.

Später waren die Puppenspieler gekommen und hatten Handelsniederlassungen im von Menschen besiedelten All errichtet…

Die Menschheit hatte sehr viel Glück gehabt. Dreimal schon war sie auf Spezies getroffen, die ihr technologisch überlegen waren. Ohne den Hyperraumantrieb der Outsider hätten die Kzinti die Menschheit ausgerottet. Die Outsider waren den Menschen ebenfalls technologisch deutlich überlegen; aber sie wollten nichts, das die Menschen ihnen geben konnten, mit Ausnahme von Nachschubbasen und Informationen. Beides konnten sie kaufen. Für den Krieg waren die Outsider, gebrechliche Wesen mit einem HeliumH-Metabolismus und außerordentlicher Wärme- und Schwerkraftempfindlichkeit, sowieso nicht geeignet. Und die Puppenspieler, deren Macht sämtliche Vorstellungen übertraf, waren zu feige.

Wer hatte die Ringwelt gebaut? Und… war es eine kriegerische Spezies?

Monate später betrachtete Louis die Lüge von Der-zu-den-Tierenspricht als seinen persönlichen Umkehrpunkt. Bis dahin hätte er noch einen Rückzieher machen können — Teelas wegen selbstverständlich. Die Ringwelt war schon als abstraktes Zahlengebilde ehrfurchteinflößend genug. Der Gedanke, sich ihr in einem Raumfahrzeug zu nähern, auf ihr zu landen…

Louis hatte das gelähmte Entsetzen des Kzin bemerkt, als er zum ersten Mal die Weltenflotte der Puppenspieler erblickte. Die Lüge von Der-zu-den-Tieren-spricht war eine heroische Geste des Mutes. Durfte Louis sich jetzt als Feigling zeigen?

Er setzte sich und sah auf die leuchtende Projektion. Sein Blick streifte Teela, und er verfluchte sie im stillen für ihre Dummheit. Ihr Gesicht war verklärt vor Staunen und Entzücken. Sie war so begeistert, wie der Kzin zu sein nur vorgab. War sie zu dumm, um Furcht zu empfinden?

Die Innenseite des Ringes besaß eine Atmosphäre. Die Spektralanalyse hatte gezeigt, daß die Dichte der irdischen entsprach und ungefähr die gleiche Zusammensetzung aufwies. Definitiv atembar für Menschen, Kzinti und Puppenspieler. Warum die Atmosphäre nicht ins All entwich, war noch ein Rätsel. Sie würden hinfahren und nachsehen müssen.

Außer dem Ring selbst gab es im System der gelben G2-Sonne nichts. Keine Planeten, keine Asteroiden, keine Kometen.

»Sie haben es leergefegt«, sagte Louis. »Sie wollten nicht, daß irgend etwas den Ring treffen konnte.«

»Natürlich«, pflichtete ihm der Puppenspieler mit den silbernen Locken bei. »Falls irgend etwas den Ring trifft, dann mit wenigstens 770 Meilen in der Sekunde, der Rotationsgeschwindigkeit des Rings selbst. Ganz gleich, wie stabil das Material sein mag — es besteht immer die Gefahr, daß ein Objekt die Außenfläche verfehlt und die Sonne kreuzt, um auf der ungeschützten, bewohnten Innenfläche einzuschlagen.«

Die Sonne selbst war ein gelber Zwerg, ein wenig kleiner und kälter als Sol. »Wir werden Wärmeschutzanzüge benötigen«, sagte der Kzin. Er reibt es ihm unter die Nase, dachte Louis.

»Nein«, entgegnete Chiron. »Die Temperatur auf der Innenfläche der Ringwelt liegt im Toleranzbereich für alle drei Spezies.«

»Woher wollen Sie das wissen?«

»Die Frequenz der Infrarotstrahlung, die von der Außenfläche emittiert wird…«

»Das war wohl eine dumme Frage.«

»Überhaupt nicht. Wir beobachten den Ring seit seiner Entdeckung, während Sie bisher nur wenige Minuten dazu hatten. Die Infrarotstrahlung deutet auf eine durchschnittliche Temperatur von 290 Grad Kelvin hin, was selbstverständlich für die innere Oberfläche genauso gilt wie für die äußere. Für Sie liegt die Temperatur ungefähr zehn Grad über dem Optimum, Sprecher-zu-den-Tieren. Für Louis und Teela ist sie ideal.

Aber lassen Sie sich durch unsere Kenntnis derartiger Details nicht irritieren oder verängstigen«, fügte Chiron hinzu. »Wir würden keine Landung gestatten, es sei denn, die Konstrukteure selbst bestehen darauf. Wir wünschen lediglich, daß Sie auf alle Eventualitäten vorbereitet sind.«

»Sie haben keine Bilder von den Bodenformationen?«

»Leider nicht. Das Auflösungsvermögen unserer Instrumente reicht dazu nicht aus.«

»Wir können ja manches erraten«, sagte Teela. »Der DreißigStunden-Tag beispielsweise. Ihre Ursprungswelt muß den gleichen Zyklus haben. Glauben Sie, daß es ihr Ursprungssystem ist?«

»Wir nehmen es an, da sie anscheinend keinen Hyperraumantrieb kennen«, sagte Chiron. »Vielleicht haben sie ihre Welt auch in ein anderes Sonnensystem geschafft, indem sie die gleiche Technik benutzten wie wir.«

»Bestimmt sogar«, polterte der Kzin. »Jedenfalls besser, als ihren eigenen Planeten zu zerstören, um den Ring zu bauen. Ich schätze, wir finden ihr Ursprungssystem irgendwo in der Nähe, genauso entblößt von Planeten wie dieses hier. Sie werden Terraformtechniken eingesetzt und zuerst alle Planeten ihres eigenen Sonnensystems besiedelt haben, bevor sie zu diesem verzweifelteren Mittel griffen.«

»Verzweifelt?« fragte Teela.

»Nachdem sie den Ring um die Sonne errichtet hatten, mußten sie alle ihre besiedelten Planeten in dieses System schaffen, um die Bevölkerung umzusiedeln.«

»Vielleicht auch nicht«, widersprach Louis. »Vielleicht haben sie riesige Unterlichtschiffe eingesetzt, um den Ring zu besiedeln, wenn er nahe genug bei ihrem Heimatsystem lag.«

»Warum verzweifelt?« wiederholte Teela.

Alle sahen sie an.

»Ich kann mir vorstellen, daß sie diesen Ring gebaut haben, weil… weil…« sie stotterte. »Weil sie es wollten.«

»Aus Vergnügen? Wegen der Landschaft? Finagles Faust! Teela, denk an die ungeheuren Ressourcen, die sie aufbringen mußten. Vergiß nicht, sie müssen ein gewaltiges Bevölkerungsproblem haben. Wahrscheinlich konnten sie sich den Bau gar nicht leisten, als sie ihn benötigten… aber sie schufen ihn trotzdem — weil sie ihn brauchten, verstehst du?«

»Hmmm«, sagte Teela und blickte verwirrt drein.

»Nessus kommt zurück«, sagte Chiron. Ohne ein weiteres Wort drehte sich der Puppenspieler um und trottete in den Park davon.

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