»Das war aber unhöflich«, murmelte Teela.
»Chiron will nicht mit Nessus zusammentreffen. Habe ich dir das nicht erzählt? Sie halten Nessus für verrückt!«
»Sie sind doch alle verrückt.«
»Sie sehen das wahrscheinlich anders, aber das heißt nicht, daß du dich täuschst. Willst du immer noch mitkommen?«
Zur Antwort schenkte sie ihm den gleichen verständnislosen Blick wie damals, als er ihr sein schleuderndes Herz zu erklären versucht hatte. »Du willst also immer noch mit«, schloß Louis.
»Sicher. Wer würde sich das entgehen lassen? Wovor fürchten sich die Puppenspieler eigentlich?«
»Ich kann das verstehen«, sagte Der-zu-den-Tieren-spricht. »Die Puppenspieler sind Feiglinge. Was ich nicht begreifen kann: Warum wollen sie noch mehr in Erfahrung bringen, als sie schon wissen? Louis, sie sind bereits an der beringten Sonne vorbeigekommen, und das mit beinahe Lichtgeschwindigkeit. Wer immer den Ring gebaut hat, er besitzt ganz sicher keinen Überlichtantrieb. Er kann also keine Gefahr für die Puppenspieler darstellen, jetzt und auch in Zukunft nicht. Ich begreife unsere Rolle in diesem Spiel nicht.«
»Es paßt.«
»Muß ich das als eine Beleidigung verstehen?«
»Nein, selbstverständlich nicht. Es ist nur, daß wir es mit Bevölkerungsproblemen zu tun haben, die Ihnen fremd sind. Warum sollten Sie das verstehen?«
»Also schön, dann erklären Sie es mir bitte.«
Louis hatte den Zierdschungel nach einem Zeichen von Nessus abgesucht. »Nessus könnte es besser als ich. Zu schade. Also gut. Stellen Sie sich eine Billion Puppenspieler auf diesem Planeten vor. Können Sie das?«
»Ich kann jeden einzelnen riechen. Allein der Gedanke macht mich nervös!«
»Nun stellen Sie sich die Billion Puppenspieler auf der Ringwelt vor. Schon besser, was?«
»Hmmm. Ja. Bei mehr als acht hoch sieben mal soviel Lebensraum… Trotzdem verstehe ich nicht. Glauben Sie, die Puppenspieler planen eine Eroberung? Wie wollen sie ihre Bevölkerungsmassen auf den Ring übersiedeln? Sie vertrauen doch keinem Raumschiff!«
»Keine Ahnung. Sie führen auch keine Kriege. Darum geht es nicht. Worum es geht ist vielmehr: Ist die Ringwelt sicher genug, um darauf zu leben?«
»Hmmm.«
»Verstehen Sie? Vielleicht denken die Puppenspieler daran, eigene Ringwelten zu bauen. Vielleicht erwarten sie, draußen in der Magellanschen Wolke eine leere vorzufinden. Übrigens gar keine so abwegige Hoffnung. Doch ob sie nun Pläne haben oder nicht: Bevor sie irgend etwas unternehmen, müssen sie feststellen, ob es sicher ist.«
»Dort kommt Nessus.« Teela stand auf und trat zu der unsichtbaren Wand. »Er sieht betrunken aus. Können Puppenspieler sich überhaupt betrinken?«
Nessus bewegte sich nicht in seinem üblichen Trott. Er tippelte auf den Hufspitzen und schlug mit übertriebener Vorsicht einen weiten Bogen um einen knapp anderthalb Meter großen chromgelben Federstrauch, während seine beiden Köpfe in alle Richtungen zuckten. Fast hatte er die Kuppel erreicht, als sich etwas, das einem großen schwarzen Schmetterling ähnlich sah, auf seinem Rumpf niederließ. Nessus kreischte auf wie eine Frau und machte einen Satz, als wollte er einen hohen Zaun überspringen. Er landete und rollte sich ab. Als er zur Ruhe kam, blieb er zu einer Kugel zusammengerollt liegen, den Rücken gebogen, die Beine gefaltet und die beiden Köpfe und Hälse zwischen den angewinkelten Vorderfüßen versteckt.
Louis rannte los. »Depressive Phase!« rief er über die Schulter. Mit Glück, und weil er sich die Stelle gemerkt hatte, fand er den Eingang der unsichtbaren Kuppel. Er schoß in den Park hinaus.
Die Blumen rochen alle nach Puppenspieler. (Wenn alles Leben auf der Welt der Puppenspieler die gleiche chemische Basis besaß — wie konnte Nessus sich dann an warmem Karottensaft erfrischen?) Louis folgte einer gestutzten orangefarbenen Hecke in einem rechtwinkligen Zickzackkurs und erreichte den Puppenspieler.
Er kniete neben ihm nieder. »Ich bin es, Louis«, sagte er. »Sie brauchen keine Angst mehr zu haben!« Sanft griff er in die wirre Mähne über dem Schädel des Puppenspielers und kraulte ihn. Der Puppenspieler zuckte unter der Berührung zusammen, doch dann beruhigte er sich.
Es war ein schlimmer Anfall, doch Louis hatte Zeit. »War dieses Ding gefährlich?« fragte er. »Das Ding, das auf Ihrem Rücken landete.«
»Das? Nein.« Die Kontraaltstimme klang erstickt, aber wunderbar rein und unverstellt. »Das war nur ein… Blütenschnüffler!«
»Wie ist es gelaufen mit Denen-die-Führen?«
Nessus zuckte zusammen. »Ich habe gewonnen.«
»Großartig. Was haben Sie gewonnen?«
»Mein Recht auf Fortpflanzung und eine Gruppe Partner.«
»Und das hat Sie so verängstigt?« Nicht ganz abwegig, dachte Louis. Vielleicht war Nessus so etwas Ähnliches wie das Männchen einer Schwarzen Witwe, das nach dem Liebesspiel aufgefressen wurde. Andererseits konnte er auch eine nervöse Jungfrau sein… gleichgültig, welchen Geschlechts… oder welcher Geschlechter…
»Ich hätte Pech haben können, Louis. Ich bluffte sie. Ich…«
»Reden Sie weiter.« Louis bemerkte, daß Teela und Der-zu-denTieren-spricht hinzugekommen waren. Sanft kraulte Louis Nessus Mähne. Der Puppenspieler hatte sich noch nicht bewegt.
Die erstickte, reine Kontraaltstimme fuhr fort: »Die-die-Führen gaben mir das Recht zur Reproduktion meiner Gene, falls ich unsere Expedition überlebe. Doch das allein reichte nicht. Um Nachkommen zu zeugen, benötige ich Partner. Und wer will sich schon mit einem Verrückten mit struppiger Mähne paaren?
Ich mußte bluffen. Schafft mir Partner herbei, sagte ich, oder ich werde die Expedition nicht durchführen! Und wenn ich nicht gehe, wird auch der Kzin nicht gehen! Das sagte ich, und sie waren außer sich vor Zorn.«
»Das kann ich mir lebhaft vorstellen. Sicher waren Sie in ihrer manischen Phase!«
»Ich habe mich künstlich hineingesteigert. Ich drohte, ihre Pläne zu ruinieren, und sie kapitulierten. Ein selbstloser Freiwilliger, sagte ich, müsse bereit sein, sich mit mir zu paaren, falls ich vom Ring zurückkehrte.«
»Herrlich. Das lief ja alles glatt! Haben Sie Ihre Freiwilligen bekommen?«
»Eines unserer Geschlechter ist… Eigentum. Ohne Intelligenz. Dumm. Ich benötige nur einen Freiwilligen. Die-die-Führen…«
»Warum sagen Sie nicht einfach Anführer?« unterbrach ihn Teela.
»Ich habe versucht, es in Ihre Begriffe zu übersetzen«, antwortete der Puppenspieler. »Strenggenommen müßte es heißen: Die-die-vonhinten-Führen. Es gibt einen erwählten Vorsitzenden oder Sprecherfür-Alle… die korrekte Übersetzung für seinen Titel lautet Hinterster.
Es war der Hinterste, der mich als Geschlechtspartner akzeptierte. Er sagte, er könne von keinem anderen Puppenspieler verlangen, daß er meinetwegen seine Selbstachtung opfert.«
Louis pfiff leise. »Das ist wirklich ein Ding. Rollen Sie sich nur zusammen. Sie haben es sich verdient. Besser man fürchtet sich hinterher, als im entscheidenden Augenblick.«
Nessus rührte sich. Er schien sich ein wenig zu entspannen.
»Etwas verwirrt mich noch«, sagte Louis. »Und es nervt mich. Entweder sind Sie eine Sie oder der Hinterste.«
»Das ist ungehörig, Louis. Man spricht nicht mit Aliens über Sexualität.« Ein Kopf kam zwischen Nessus Beinen hoch, und ein vorwurfsvoller Blick traf Louis. »Sie und Teela würden sich doch auch nicht vor meinen Augen paaren, oder?«
»Eigenartig; darüber haben wir auch schon gesprochen. Teela meinte…«
»Ich bin schockiert!« konstatierte der Puppenspieler.
»Weshalb denn?« fragte Teela. Der exponierte Puppenspielerkopf tauchte in Deckung. »Nun kommen Sie schon wieder raus da! Ich tue Ihnen doch nichts!«
»Wirklich nicht?«
»Wirklich nicht. Ich meine es ehrlich. Ich finde Sie ganz entzückend.«
Der Puppenspieler entrollte sich völlig. »Haben Sie mich wirklich entzückend genannt?«
»Ja.« Sie blickte zu dem orangefarbenen Berg von Der-zu-denTieren-spricht auf. »Sie übrigens auch«, fügte sie großzügig hinzu.
»Ich will Sie nicht beleidigen«, fauchte der Kzin, »aber sagen Sie das nie wieder! Niemals!«
Teela schien wieder einmal verwirrt.
Es war eine staubige, orangefarbene Hecke, zehn Fuß hoch, vollkommen gerade und mit kobaltblauen Tentakeln, die schlaff herabhingen. Wie es aussah, war die Hecke aus einer fleischfressenden Pflanze hervorgegangen. Sie bildete die Grenze des Parks, und Nessus führte die kleine Gruppe darauf zu.
Louis erwartete, einen Durchgang vorzufinden. Er war verblüfft, als Nessus einfach hindurchging. Die Hecke teilte sich vor dem Puppenspieler und schloß sich dahinter wieder.
Die anderen folgten.
Bisher hatten sie einen himmelblauen Himmel über sich gesehen. Doch sobald sich die Hecke hinter ihnen geschlossen hatte, wurde der Himmel schwarz und weiß. Im Dunkel der ewigen Nacht trieben weiße Wolken, deren Unterseiten vom Licht der meilengroßen Stadt angestrahlt wurden, in die die kleine Gruppe nun trat.
Auf den ersten Blick unterschied sie sich nicht wesentlich von einer irdischen Stadt. Die Gebäude waren massiver, kantiger, uniformer — und sie waren höher, schrecklich hoch. So hoch, daß der Himmel nur aus erleuchteten Fenstern und hell strahlenden Balkonen zu bestehen schien. Schmale Spalten oder Risse aus Schwarz markierten den Zenit. Hier gab es die rechten Winkel, die man bei Puppenspielermöbeln vergeblich suchte, hier an den Gebäuden, wo ein rechter Winkel viel zu groß war, um sich ein Knie daran zu stoßen.
Aber warum hatte die Stadt nicht als Silhouette über dem Park aufgeragt? Auf der Erde gab es nur wenige Gebäude, die höher waren als eine Meile. Hier war keines niedriger. Louis schätzte, daß der Park von lichtbeugenden Feldern umgeben war. Er fragte den Puppenspieler nicht danach. Es war sicher noch das kleinste Wunder der Puppenspielerwelt.
»Unser Raumfahrzeug wartet am anderen Ende der Insel«, flötete Nessus. »Wir können in weniger als einer Minute dort sein, wenn wir Stepperscheiben benutzen. Ich werde es Ihnen zeigen.«
»Geht es Ihnen wieder besser?«
»Ja, Teela. Wie Louis gesagt hat: Das Schlimmste ist vorbei.« Der Puppenspieler tänzelte leichtfüßig vor ihnen her. »Der Hinterste ist mein Liebster. Ich muß nur von der Ringwelt zurückkehren!«
Der Weg war elastisch. Für das Auge sah er aus wie Beton, der mit irisierenden Partikeln durchsetzt war.
Unter der Sohle fühlte er sich feucht und schwammig an. Nachdem sie einen Block weit gegangen waren, erreichten sie eine Kreuzung. »Wir müssen hier entlang«, sagte Nessus und deutete mit einem Kopf in die Richtung. »Nehmen Sie nicht die erste Scheibe. Folgen Sie mir.«
In der Mitte der Kreuzung war ein blaues Rechteck markiert. Vier blaue Scheiben umgaben das Rechteck, eine vor jedem Übergang.
»Sie können auf das Rechteck treten«, sagte Nessus, »aber nicht auf die falschen Scheiben. Kommen Sie.«
Er umging die erste Scheibe, überquerte die Kreuzung, trat auf die Scheibe, die der ersten gegenüber lag — und war verschwunden.
Einen Augenblick lang bewegte sich niemand. Schließlich stieß Teela einen gellenden Schrei aus und rannte auf die Scheibe zu. Sie verschwand ebenfalls.
Der-zu-den-Tieren-spricht fauchte und sprang hinterher. Kein Tiger hätte gezielter springen können. Louis war allein.
»Bei den Nebeldämonen!« sagte er verwundert. »Sie haben offene Transferkabinen.«
Er trat vor.
Und fand sich auf der nächsten Kreuzung auf einem blauen Rechteck zwischen Nessus und dem Kzin wieder. »Ihre Gefährtin ist voraus gerannt«, sagte Nessus. »Ich hoffe, sie wartet auf uns.«
Der Puppenspieler verließ das Rechteck in die Richtung, in die er gerade sah. Drei Schritte brachten ihn zur nächsten Scheibe, und er verschwand erneut.
»Was für ein System!« sagte Louis bewundernd. Er war allein, denn der Kzin war Nessus bereits gefolgt. »Man geht einfach los, das ist alles. Drei Schritte, und man ist einen ganzen Block weiter. Das ist wie Zauberei. Und man kann die Blocks so lang machen, wie man will!« Er trat vor.
Louis trug Siebenmeilenstiefel. Er ging leichtfüßig voran, und alle drei Schritte veränderte sich die Umgebung. Die kreisförmigen Zeichen an den Ecken der Gebäude dienten anscheinend der Orientierung, damit ein Fußgänger wußte, wann er sein Ziel erreicht hatte. Sodann mußte er nur noch die Scheiben umrunden, um mitten in den Block zu gelangen.
Entlang der Straßen waren Schaufenster, die Louis liebend gern näher in Augenschein genommen hätte. Oder waren es keine Schaufenster, sondern irgend etwas vollkommen anderes? Doch Nessus und der Rest der Gruppe waren Blocks voraus. Louis konnte sie ganz am Ende der Gebäudeschlucht sehen. Er beschleunigte seine Schritte.
Als er nach einer Scheibe wieder materialisierte, standen sie vor ihm und versperrten den Weg.
»Ich fürchtete, Sie könnten die Biegung versäumen«, sagte Nessus. Und ging nach links voraus.
»Warten Sie…« Doch der Kzin war ebenfalls wieder verschwunden. Wo zur Hölle steckte bloß Teela?
Sie schien vorausgegangen zu sein. Louis wandte sich nach links und ging los…
Siebenmeilenstiefel.
Die Stadt flog an ihm vorüber wie in einem Traum. In Louis’ Kopf tanzten bunte Smarties. Highways durch die Stadt, die Scheiben in unterschiedlichen Farben markiert, zehn Blöcke weit auseinander. Überlandverbindungen, hundert Meilen weit, von einem Stadtzentrum zum nächsten, die Scheiben einen ganzen Block groß. Scheiben, mit denen man Ozeane überqueren konnte: Ein Schritt, und man war auf der nächsten Insel! Inseln wie Trittsteine!
Offene Transferkabinen. Die Puppenspieler waren erschreckend weit fortgeschritten. Die Scheiben maßen nur einen Yard im Durchmesser, und man mußte nicht ganz auf ihnen stehen, damit sie funktionierten. Ein Schritt, und man kam auf dem nächsten Empfängerrechteck heraus. Die Rollsteige der Erde waren dagegen tanj vorsintflutlich!
Während Louis weiterging, entstand in seinem Kopf das Phantombild eines Puppenspielers, der Hunderte von Meilen groß war und sich einen verschlungenen Weg über die Inselkette bahnte; der vorsichtig auf seine Schritte achtete, um keine nassen Füße zu kriegen. Der Phantompuppenspieler wurde größer und größer, und seine Stepperscheiben waren ganze Welten…
Die Puppenspieler waren den Menschen furchtbar weit voraus…
Plötzlich waren keine Scheiben mehr vor ihm. Louis stand am Ufer der ruhigen schwarzen See. Hinter dem Rand der Welt standen vier große Vollmonde in einer Reihe übereinander am Sternenhimmel. Auf halbem Weg zum Horizont lag eine weitere Insel. Auch sie war in gleißendes Licht getaucht.
Die beiden Aliens warteten auf ihn.
»Wo steckt Teela?«
»Keine Ahnung«, erwiderte Nessus.
»Nebeldämonen! Nessus, wie können wir sie finden?«
»Sie muß uns finden, Louis. Machen Sie sich keine Sorgen, Louis. Wenn…«
»Sie hat sich auf einer fremden Welt verirrt! Alles mögliche kann ihr zustoßen!«
»Nicht auf unserer Welt, Louis. Keine Welt ist so sicher wie die unsere. Wenn Teela den Rand dieser Insel erreicht, wird sie feststellen, daß die Stepperscheiben zur nächsten Insel für sie nicht funktionieren. Sie wird den Scheiben an der Küste entlang folgen, bis sie die einzige findet, die funktioniert.«
»Glauben Sie, wir sprechen von einem Computer, der sich verirrt hat? Teela ist ein zwanzig Jahre altes Mädchen!«
Teela materialisierte plötzlich neben ihm. »Hallo! Ich habe mich ein wenig verirrt. Warum sind denn alle so aufgeregt?«
Der-zu-den-Tieren-spricht bedachte Louis mit einem spöttischen Grinsen. Louis vermied Teelas Blicke. Er spürte, wie ihm die Röte auf die Wangen stieg. Nessus sagte nur: »Folgen Sie mir!«
Der Puppenspieler steuerte auf eine Reihe von Scheiben entlang der Küste zu. Schließlich erreichten sie ein braunes Fünfeck. Sie wechselten hinüber… und standen auf einem kahlen Felsen, der von Sonnenröhren in gleißendes Licht getaucht wurde. Ein kleines felsiges Eiland von der Größe eines privaten Raumhafens. Im Mittelpunkt der Insel standen ein einzelnes großes Gebäude und ein Raumschiff.
»Das ist unser Raumfahrzeug«, erklärte Nessus.
Teela und Der-zu-den-Tieren-spricht zeigten Enttäuschung; der Kzin hatte die Ohren angelegt, und Teela blickte sehnsüchtig nach der Insel zurück, die sie soeben hinter sich gelassen hatten, einer Mauer aus Lichtern von meilenhohen Bauwerken, die Schulter an Schulter in den ewigen Nachthimmel ragten. Louis blickte ebenfalls zurück, doch er spürte nichts als Erleichterung, und seine verspannten Muskeln lockerten sich. Er hatte genug von Wundern. Die Stepperscheiben, die gigantische Stadt, die vier Agrarwelten, die wie reife Kürbisse am Himmel hingen. Das alles war irgendwie… deprimierend. Nicht so das Schiff. Es war eine ganz gewöhnliche General-Products-Zelle Mark Zwo, eingepaßt in einen Deltaflügel, unter dem die Thruster und der Fusionsantrieb hingen. Vertraute Technik.
Der Kzin überzeugte ihn vom Gegenteil. »Ein eigenartiges Vehikel, vom Standpunkt eines Puppenspieler-Ingenieurs betrachtet. Nessus, würden Sie sich nicht sicherer fühlen, wenn sämtliche Aggregate im Rumpf untergebracht wären?«
»Auf keinen Fall. Dieses Schiff ist ein gewaltiger Fortschritt im Design. Kommen Sie, ich werde es Ihnen zeigen!« Nessus trottete auf das Schiff zu.
Der Kzin hatte ein gutes Argument angeführt.
General Products war die Handelsgesellschaft der Puppenspieler. Sie hatte zahlreiche Waren im Bekannten Weltraum verkauft, doch das Vermögen der Firma basierte auf ihren Raumschiffzellen. Im wesentlichen hatte es vier Modelle gegeben; angefangen bei einer Kugel von der Größe eines Basketballs bis hin zu einer ebenfalls kugelförmigen Zelle mit über dreihundert Metern Durchmesser: Die Mark-Vier-Zelle der Long Shot. Die Mark-Drei-Zelle — ein an den Enden abgerundeter Zylinder mit abgeflachtem Mittelteil — eignete sich als Passagierschiff. Mit einem Schiff dieser Bauart war die kleine Gruppe wenige Stunden zuvor auf der Welt der Puppenspieler gelandet. Die Mark-Zwo-Zelle war ein Zylinder mit einer Wespentaille, der an beiden Enden in eine lang ausgezogene Spitze mündete. Normalerweise bot sie lediglich Raum für einen Piloten.
General-Products-Zellen waren transparent gegenüber sichtbarem Licht. Gegenüber sämtlichen anderen Formen elektromagnetischer Energie waren sie undurchlässig. Der Name der Firma garantierte dafür, und diese Garantie hielt seit Hunderten von Jahren und bei Millionen von Schiffen. Eine General-Products-Zelle war das Nonplusultra an Sicherheit.
Das Raumfahrzeug, das hier für sie bereitstand, basierte auf einer Mark-Zwo-Zelle.
Aber… soweit Louis sehen konnte, befanden sich lediglich das Lebenserhaltungssystem und der Hyperantrieb innerhalb der Zelle. Alles andere — zwei flache Thruster, die nach unten gerichtet waren, zwei kleine Fusionsmotoren bugwärts, größere Fusionsmotoren an den Außenkanten des Flügels und zwei gewaltige Aggregate am Heck, die mit Detektoren und Kommunikationsausrüstung bestückt sein mußten, denn Louis entdeckte nirgendwo sonst entsprechende Maschinerie — all das befand sich außerhalb der Zelle am Deltaflügel!
Die Hälfte des Schiffs war auf dem Flügel untergebracht und sämtlichen Gefahren ausgesetzt, die ein Puppenspieler nur fürchten konnte. Warum hatten sie keine Mark-Drei-Zelle genommen und alles eingebaut?
Der Puppenspieler führte sie unter den Deltaflügel, zum sich verjüngenden Heck der Zellsektion. »Der Sinn besteht darin, möglichst wenig Durchbrüche in der Hülle zu haben«, erklärte Nessus. »Sehen Sie?«
Durch die glasartige Hülle hindurch erkannte Louis einen Kabelschacht, so dick wie sein Oberschenkel, der aus dem Rumpf in den Flügel führte. Alles sah recht kompliziert aus, bis Louis plötzlich aufging, daß der gesamte Kabelbaum so konstruiert war, daß er eingezogen werden konnte. Louis entdeckte den dafür zuständigen Motor sowie das Metallschott, das die entstandene Öffnung versiegelte.
»Ein gewöhnliches Schiff benötigt zahlreiche Durchbrüche in der Hülle«, sagte der Puppenspieler. »Für Sensoren, die nicht mit sichtbarem Licht arbeiten, für Reaktionsmotoren, falls solche verwendet werden, für die Leitungen zu den Treibstofftanks. Hier haben wir nur zwei Öffnungen — die Luftschleuse und den Kabelschacht. Die eine läßt Passagiere hindurch, die andere Informationen. Beide können versiegelt werden.
Unsere Ingenieure haben die Innenwand der Zelle mit einem durchsichtigen Leitermaterial überzogen. Sobald die Luftschleuse zu und der Kabelschacht versiegelt ist, bildet der Innenraum eine geschlossene leitende Oberfläche.«
»Ein Stasisfeld«, vermutete Louis.
»Sehr richtig. Wenn eine Gefahr droht, geht das gesamte Lebenserhaltungssystem mehrere Sekunden lang in Slaver-Stasis. Da die Zeit in Stasis stillsteht, kann nichts die Passagiere gefährden. Wir sind nicht so töricht, allein der Zelle zu vertrauen. Laser, die sichtbares Licht verwenden, können einen General-Products-Rumpf durchschlagen und die Passagiere töten, ohne daß das Schiff beschädigt wird. Antimaterie kann eine General-Products-Zelle völlig vernichten.«
»Das wußte ich nicht.«
»Wir erwähnen nichts davon in unseren Werbefilmen.«
Louis ging zurück unter den Deltaflügel, wo der Kzin die Maschinen inspizierte. »Warum so viele Motoren?«
Der Kzin fauchte. »Sicherlich hat kein Mensch die Kzinti-Lektion vergessen?«
»Oh.« Selbstverständlich kannte ein Puppenspieler, der sich mit der Geschichte der Menschheit oder der Kzinti befaßt hatte, die Kzinti-Lektion. Ein reaktionsloser Antrieb ist eine Waffe, deren Effizienz in direktem Zusammenhang mit der Leistung als Antrieb steht. Hier gab es Thruster für friedliche Zwecke und Fusionsmotoren, die als Waffe dienen konnten.
»Jetzt begreife ich, warum Sie wissen, wie man Fusionsschiffe steuert«, meinte Louis.
»Selbstverständlich bin ich für den Kriegsdienst ausgebildet, Louis!«
»Nur für den Fall eines neuen Konflikts zwischen Menschen und Kzin, nehme ich an.«
»Muß ich meine Eignung als Soldat beweisen, Louis?«
»Das werden Sie«, unterbrach der Puppenspieler. »Unsere Ingenieure haben dieses Schiff für einen Kzin-Piloten gebaut. Wollen Sie den Kontrollraum besichtigen, Sprecher-zu-den-Tieren?«
»Gleich. Ich benötige Leistungsdaten, die Ergebnisse der Testflüge, die Aufzeichnungen der Flugschreiber und so weiter. Ist dieser Hyperantrieb ein Standardmodell?«
»Ja. Bisher wurden jedoch keine Testflüge durchgeführt.«
Typisch, dachte Louis, während sie die Luftschleuse durchschritten. Sie bauen das Ding und lassen es einfach stehen, bis wir es übernehmen. Aber sie hatten auch keine andere Wahl. Kein Puppenspieler würde sich bereit finden, dieses Ding zu testen.
Wo steckte Teela nur wieder?
Louis blickte sich suchend um.
Er wollte gerade nach ihr rufen, als sie auf der fünfeckigen Empfängerplattform materialisierte. Sie hatte erneut mit den Stepperscheiben gespielt und das Schiff völlig ignoriert. Sie folgte ihnen an Bord, doch sie warf weiter sehnsüchtige Blicke zu der Puppenspielerstadt hinter dem schwarzen Meer.
Louis erwartete sie an der inneren Luftschleusentür. Er wollte sie für ihre Sorglosigkeit tadeln. Man sollte meinen, daß ein wenig Vorsicht angebracht wäre, nachdem man sich bereits einmal verirrt hat!
Die Tür glitt auf. »Oh, Louis, ich bin so froh, daß ich mitgekommen bin! Diese Stadt — sie ist so aufregend!« Sie packte seine Hände und drückte sie, und sie strahlte über das ganze Gesicht.
Er konnte ihr nicht böse sein. »Ja, es ist aufregend«, sagte er und küßte sie leidenschaftlich. Dann faßte er sie um die Taille und schob sie zum Kontrollraum.
Er war sich seiner Sache sicher. Teela Brown hatte noch nie im Leben Schmerz erfahren. Sie hatte niemals Vorsicht gelernt und verstand nicht, was Furcht überhaupt war. Das erste Schmerzerlebnis würde für sie eine furchtbare Überraschung werden. Vielleicht zerbrach sie daran.
Louis Wus Tod würde ihr weh tun.
Die Götter schützen keine Toren. Toren werden nur von etwas erfahreneren Toren beschützt.
Eine General-Products-Zelle Mark Zwo maß zwanzig Fuß im Durchmesser und war ungefähr dreihundert Fuß lang. Rumpf und Heck liefen in einer Spitze aus.
Die meisten technischen Anlagen des Schiffes befanden sich außerhalb des Rumpfes auf dem überdimensionierten, dünnen Deltaflügel. Das Lebenserhaltungssystem war geräumig genug, um Platz zu bieten für drei Schlafkabinen, eine langgestreckte, schmale Lounge, eine Brücke, eine Reihe Spinde, eine Küche, Autodocs, Recycler, Batterien und dergleichen mehr. Die Kontrollkonsolen waren für Kzinti ausgelegt und zeigten Kzinti-Symbole. Louis wußte, daß er das Schiff im Notfall steuern konnte, doch es mußte schon ein verdammt ernster Notfall sein, damit er es versuchte.
Die Spinde enthielten eine geheimnisvolle Unzahl von Forschungsausrüstung. Nichts, auf das Louis hätte deuten können und auf Anhieb sagen: »Das ist eine Waffe!« Vieles, das sich als Waffe mißbrauchen ließ. Louis entdeckte vier Flugräder und vier Flugtornister (Schwebegurte mit katalytischen Ramjets), Nahrungstester, Nahrungsmittelzusätze in Phiolen, Medikits, Lufttester und Filter. Irgend jemand war tanj überzeugt, daß dieses Schiff irgendwo landen würde.
Nun, warum eigentlich nicht? Eine Spezies, die so mächtig und — mangels eines Hyperraumantriebs — so abgeschottet war wie die Ringweltler, würde sie vielleicht einladen zu landen. Vielleicht war es genau das, was die Puppenspieler erwarteten.
Nichts befand sich an Bord, auf das Nessus hätte zeigen können und mit Bestimmtheit sagen: »Das ist keine Waffe! Das haben wir aus dem und dem Grund mitgenommen.«
Drei verschiedene Spezies befanden sich an Bord — vier, wenn man männliches und weibliches Menschenwesen als verschiedene Spezies betrachtete — was der Kzin oder der Puppenspieler durchaus tun konnten. (Gesetzt den Fall, der Hinterste und Nessus gehörten dem gleichen Geschlecht an. Warum sollten nicht zwei männliche und ein intelligenzloser weiblicher Puppenspieler erforderlich sein, um Nachkommen zu produzieren?) Die Ringweltler — wenn es sie denn gab — konnten jedenfalls auf einen Blick erkennen, daß grundverschiedene Formen intelligenten Lebens friedlich miteinander auskommen konnten.
Und doch… zu viele Ausrüstungsgegenstände wie Flashlaser oder Betäubungsstäbe konnten als Waffen mißbraucht werden.
Sie starteten mit den reaktionslosen Thrustern, um keine Verwüstungen auf der Insel zu hinterlassen. Eine halbe Stunde später hatten sie den schwachen Gravitationstrichter der Puppenspieler-Rosette bereits hinter sich gelassen. Erst dann kam Louis zu Bewußtsein, daß sie außer Nessus (der sie hergebracht hatte) und der Projektion des Wesens namens Chiron keinen einzigen Puppenspieler auf der Welt der Puppenspieler zu Gesicht bekommen hatten…
Nachdem sie in den Hyperraum gegangen waren, verbrachte Louis eineinhalb Stunden damit, jeden Gegenstand in den Spinden zu inspizieren. Lieber sicher als überrascht, sagte er sich. Doch die Waffen und anderen Ausrüstungsteile hinterließen einen bitteren Beigeschmack. Es war ein böses Omen.
Zu viele Waffen, und nicht eine darunter, die nicht vordergründig einen anderen Zweck erfüllte. Taschenlampen, die als Laser dienten. Fusionsmotoren. Als sie am ersten Tag im Hyperraum eine Schiffstaufe vornahmen, schlug Louis den Namen Lying Bastard vor. Aus welchen Gründen auch immer — Der-zu-den-Tieren-spricht und Teela waren mit seinem Vorschlag einverstanden. Und aus welchen Gründen auch immer verzichtete Nessus auf einen Einwand.
Sie blieben eine Woche lang im Hyperraum und legten etwas mehr als zwei Lichtjahre zurück. Als sie in den Einsteinraum zurückfielen, befanden sie sich bereits im System der umringten G2Sonne. Louis war noch immer von bösen Vorahnungen erfüllt.
Irgend jemand war sich Tanj sicher gewesen, daß sie auf der Ringwelt landen würden.