Heinz Konsalik STRAFBATAILLON 999

Kapitel 1

Julia Deutschmann machte sich an jenem Morgen hübsch, weil sie glaubte, daß man einer hübschen Frau eher ein Geheimnis verrät als einer verhärmten. Viel hatte sie nicht zu tun; sie war schön, auch wenn um ihre übernächtigten, müden Augen Schatten lagen und ihre Lippen blaß waren. Augenbrauen nachziehen, eine Spur Rouge auf die Lippen, etwas Puder, hundert Bürstenstriche über das lockige, schwarze Haar, das sie offen, ohne Spangen und ohne Kamm, trug. Das schlichte Kostüm war betont auf ihre Figur geschnitten, die hochhackigen Pumps waren auf die Farbe des Stoffes abgestimmt. Als sie hineinschlüpfte, erinnerte sie sich daran, daß es Ernst war, der sie ausgesucht hatte. Einen Augenblick verharrte sie reglos, die Erinnerung huschte wie ein Lichtschein über ihr Gesicht und verlosch.

Sie richtete sich auf und warf einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel.

Dann ging sie.

Der Posten vor dem Oberkommando der Wehrmacht, Berlin, Bendlerstraße, las das kurze Schreiben, das sie ihm hinreichte, lange und aufmerksam, als stünden dort nicht nur drei armselige Zeilen - eine unpersönliche Vorladung, beim General von Frankenstein vorzusprechen.

Im Hauptflur des großen Gebäudekomplexes traf sie einen Adjutanten, einen jungen Leutnant, der bei ihrem Anblick sehr zackig, mit knallenden Absätzen, grüßte und sich bereitwillig erbot, sie ins zweite Stockwerk zu führen. Vor der großen Eichentür am Ende des Flurs verhielten sie den Schritt: ein Tor, das in eine andere Welt zu führen schien.

In die Welt, die über Ernsts Schicksal entschied: fremd, unbekannt, voller Rätsel.

Neben der Tür ein rechteckiges Schild:

BODO v. FRANKENSTEIN

Der junge Leutnant verbeugte sich ein wenig steif. Julia glaubte fast, einen Corpsstudenten vor sich zu haben:

»Herr General wird Sie gleich hereinbitten. Ich melde Sie im Vorzimmer an. Darf ich Ihr Schreiben haben, gnädige Frau?«

Julia gab ihm den Brief. Der Leutnant mit dem eifrigen, milchigen Gesicht und mit schwärmerischen Augen verschwand im Nebenraum. Es dauerte nicht lange, bis er wieder auf den Flur trat - ein wenig steifer, förmlicher, zurückhaltender und, wie es Julia schien, auch nicht mehr so selbstsicher wie vorhin.

»Einen Augenblick noch. Sie werden gerufen.«

Er wandte sich ab und ging. Seine glänzend-polierten Stiefel knarrten. Kein Gruß mehr, kein »Gnädige Frau -«. So ist das also, dachte Julia ein wenig schmerzlich, der Name Deutschmann genügt, um ihn zu einem Eiszapfen erstarren zu lassen.

Sie setzte sich auf eine der klobigen, unbequemen Bänke im Flur und wartete. Erst nach einer halben Stunde öffnete sich die schwere Tür, und der Kopf einer jungen Sekretärin erschien.

»Frau Deutschmann?«

»Ja.« Julia stand auf.

»Herr General läßt bitten.«

General von Frankenstein kam ihr drei Schritte entgegen, als sie das weite Zimmer betrat. Dann blieb er abrupt stehen, wie eine aufgezogene Puppe, der das Räderwerk abgelaufen ist, und nickte ihr zu.

»Frau Dr. Deutschmann?«

»Ja, Herr General.«

»Sie haben wegen Ihres Mannes ein Gnadengesuch eingereicht?«

»Ja.«

»Warum?«

Einen flüchtigen Augenblick lang überfiel Julia der verrückte Vergleich, daß die Stimme des Generals genauso knarrte wie die Stiefel des Leutnants, der sie hierhergebracht hatte. »Er -«, sagte sie stockend, »- er wurde eines Irrtums wegen verhaftet, verurteilt zu einem Strafbataillon - ich weiß nicht, wo er jetzt ist ...«

»Es war kein Irrtum«, knurrte der General.

»Aber ...«

»Gestatten Sie bitte, daß ich Sie unterbreche«, sagte der General und verbeugte sich leicht: ein altgedienter preußischer Offizier, ein Kavalier alter Schule, dem man in seiner Kadettenzeit beigebracht hatte, daß er sich Damen gegenüber in jeder Situation höflich und korrekt benehmen soll: das war die Tradition. Und Julia war offenbar eine Dame - auch wenn Dr. Ernst Deutschmann ihr Mann war. So etwas sah man. Wenn man jung ist, hält man fast jede Frau für eine Dame, besonders wenn sie hübsch ist. Aber nicht mehr als hoher Sechziger, auch dann nicht, wenn man noch so voll Spannkraft war und immer noch so viel Mark in den Knochen hatte, potztausend, daß man es mit jedem dieser jungen Milchbärte von Leutnants aufnehmen konnte. Um des Generals verkniffenen Mund spielte die Andeutung eines Lächelns, denn: Ein General lächelt, er lacht nicht.

»Sie sind doch Ärztin, gnädige Frau«, fuhr er fort, »und Sie müssen davon etwas verstehen. Es war kein Irrtum. Ich stütze mich hier nicht auf meine eigenen Beobachtungen, sondern auf korrekte wissenschaftliche Analysen bekannter Sachverständiger. Ich selbst bin in diesen Fragen ein Laie. Wir sind nie leichtfertig, gnädige Frau, das entspricht nicht der Art der deutschen Wehrmacht. Wir haben den Fall Ihres Mannes gewissenhaft geprüft, und das Ergebnis heißt eindeutig - Selbstverstümmelung durch Injizierung von Sta-sta-nnn .«

»Staphylokokken -«, sagte Julia.

»Genau!« Jetzt klang seine Stimme schneidend und abgehackt. Er wandte sich ab und ging zu seinem mächtigen Schreibtisch zurück. Die dunkelroten Streifen an seiner Hose leuchteten auf, als er durch einen Sonnenstrahl schritt, der schräg durch die Gardine ins Zimmer fiel. Hinter dem Schreibtisch blieb er leicht vornübergebeugt stehen und stützte sich mit beiden Fäusten auf die Tischplatte. Julias Blick tastete sich von seinen blaugeäderten, braunbesprenkelten Greisenhänden empor, über den hellgrauen, seidig glänzenden Rock - das EK I. Klasse des Ersten Weltkrieges - rote Spiegel mit goldenem, stilisiertem Eichenlaub - ein finnisches Halskreuz - ein faltiger Hals - ein knöchernes, unbewegliches Gesicht - bis zu den blaßblauen, rotgeäderten Augen unter der zerfurchten Stirn und weißen, einer stachligen Bürste ähnlichen Haaren.

Sie sah in seine Augen und sagte:

»Gerade weil ich Ärztin bin und ihm bei seiner Arbeit geholfen habe, weiß ich, daß Sie unrecht haben. Was er getan hat, würde so bald kein zweiter tun. Er wollte anderen helfen, deshalb hat er einen Selbstversuch gemacht. Das ist die Wahrheit. Aber dann - dann wurde er wie ein Verbrecher eingesperrt und verurteilt. Deshalb habe ich ein Gnadengesuch eingereicht.«

»Es hätte schlimmer sein können«, sagte der General ungeduldig. »Hören Sie zu, Frau Dr. Deutschmann: Ihr Mann war ein hinreichend bekannter Wissenschaftler. Deshalb haben wir ihn vom Wehrdienst zurückgestellt, solange es ging. Dann ging es nicht mehr, und er hätte einrücken müssen. Er tat es nicht, sondern infizierte sich mit dieser - eh - Krankheit. Das ist eindeutig Selbstverstümmelung. Und was seine Verurteilung zum Dienst in einem Strafbataillon angeht - es ist eine Einheit der deutschen Wehrmacht. Er muß sich bei dieser Spezialtruppe bewähren, dann wird er in eine andere Einheit kommen. Die Sache ist also für ihn sehr, ich muß schon sagen: sehr glimpflich abgelaufen.«

»Ich habe gehört«, begann Julia wieder, obwohl sie wußte, daß ihre Worte und alles, was sie sagen konnte, an diesem Mann abprallen würden wie ein Ball an der Wand, »ich habe gehört, daß dieses Bataillon 999 .«

»Was haben Sie gehört?« unterbrach sie der General.

»Daß die Leute dort sehr schlecht - wie Verbrecher -«

Der General hob gebieterisch die Hand. »Er ist Soldat«, sagte er kalt. »Sie sollen diesen Gerüchten nicht aufsitzen. Bei der Wehrmacht wird nicht gekegelt. Wir haben zu kämpfen. Nicht nur Ihr Mann wird es tun - Millionen andere tun es schon seit Jahren. Das ist alles, was ich dazu zu sagen habe.«

»Ja -«, sagte Julia schwach.

»Sehen Sie. Ihr Gesuch ist gegenstandslos. Bataillon 999 ist eine Truppe. Ob in der oder einer anderen .«

»Ja«, sagte Julia.

»Na also«, schloß der General, klappte einen Aktendeckel zu, sah auf und lächelte wieder.

Julia ging. Es war umsonst. Sie stand draußen vor der großen Eichentür und stützte sich auf das Fensterbrett. Ob im Bataillon 999 oder in einer anderen Einheit -, dachte sie, er ist Soldat, Millionen andere auch, Strafbataillon, er muß sich bewähren, wenn er sich bewährt, dann -, Ernsti, dachte sie, Ernsti .! Und all die unendlich langen Wochen ihrer Verzweiflung und unnützen Hoffnung und des nutzlosen Kampfes um ihn, die endlosen bangen Nächte, der Prozeß, die Verurteilung, der Versuch zu einer Revision, das vergebliche Ankämpfen gegen Menschen, die ihn verurteilt hatten und gegen die genausowenig anzukommen war wie gegen den General - einer nachgiebigen, undurchdringlichen Gummiwand ähnlich, Angst, Furcht, versteckte Andeutungen oder brutale, harte Worte, und jetzt die endgültig vernichtete, letzte Hoffnung: all dies stürzte über sie zusammen, begrub sie unter sich wie eine Lawine dunklen Schnees. Sie sah mit großen, verstörten Augen um sich, ohne etwas zu sehen, sie verstand nichts mehr - was war es nur, was war es, was hatte der General gesagt?

Als der junge Leutnant mit dem eifrigen Milchgesicht stiefelknarrend und leise vor sich hinpfeifend über die Treppe gelaufen kam, blieb er plötzlich wie angenagelt stehen. Sein Pfeifen erstarb, aber seine Lippen blieben noch eine ganze Weile zugespitzt. Mit erschrockenen, weit offenen Augen starrte er auf das Bündel Mensch, das vor der Tür des Generalzimmers lag. Dann begann er zu laufen: zögernd zuerst und dann immer schneller.

Julia lag ohnmächtig auf dem steinernen Boden. Zwischen ihren halboffenen Lippen hingen Fetzen eines zerbissenen Taschentuches.

Am Stadtrand Posens, nach Kostrzyn hin, lag das Lager »Friedrichslust«: der einstweilige Stammsitz des Strafbatail-lons 999. Wer dieser Ansammlung von massiven, langweilignüchternen Steinbaracken im schwermütig-kahlen Land den poetischen, nach licht-heiteren Wäldern, Waldhörnern, kläffenden Hundemeuten und barocken Jagdgesellschaften klingenden Namen gab, wußte niemand mehr. Aber so stand es geschrieben an einem schon etwas verwitterten Schild neben der Wachbaracke und dem Schlagbaum, der nach alter Sitte den Eingang des Lagers von der Außenwelt abtrennte.

Herbst. Aus einem grauverhangenen, schweren Himmel nieselte es langsam und stetig.

Zur gleichen Zeit, als sich in Berlin, viele, viele Kilometer von hier entfernt, der junge Leutnant über die ohnmächtige Julia beugte, empfing der Spieß und somit die Mutter der II. Kompanie des Strafbataillons 999, Oberfeldwebel Krüll, von allen »Krüllschnitt« genannt, am Schlagbaum die Neuankömmlinge. Oder er tat das, was er gemeinhin »einen würdigen

Empfang« nannte, und was fast immer gleich aussah.

Zuerst verabschiedete er sich mit einem lässigen Gruß von den Feldgendarmen, die die Neuankömmlinge hierhergebracht hatten, als wollte er ihnen zu verstehen geben: Habt keine Bange, ich pass’ schon auf, ich bin da, und wo ich bin, da geht’s diesen Burschen genauso, wie sie’s verdienen.

Vor dem Wachgebäude ließ er dann die vier Männer der Größe nach in einer Reihe antreten und betrachtete sie mit zusammengekniffenen Augen unter der leicht schief aufgesetzten Schildmütze, lange und eingehend: von links nach rechts, vom größten bis zum kleinsten, von oben bis unten und wieder nach oben. Was er sah, schien ihn zu betrüben: sein breites, fleischiges Gesicht bekam Kummerfalten wie ein Baby, kurz bevor es losheult, die dicke Unterlippe schob er vor, und mehrmals nickte er, als hätte er sich seine Erwartungen genau bestätigt.

»Sie heißen?« fragte er den längsten links in der Reihe.

»Gottfried von Bartlitz«, sagte der grauhaarige Mann mit den müden, tief in den Höhlen liegenden Augen und den tiefen Falten von den Nasenflügeln bis zu den Winkeln der schmalen, blutleeren Lippen. Seine viel zu weite, abgetragene Uniformjacke war durchnäßt, Regenwasser lief ihm über das Gesicht.

»Aha«, sagte Krüll. »Ein von, General, was?«

»Schütze«, sagte der große Mann.

»Und ich bin auch ein Schütze, was?« fragte der Oberfeldwebel sanft.

»Nein. Sie sind Oberfeldwebel.«

»Jawohl. Ich bin ein Oberfeldwebel und noch dazu Ihre Mutter. Gerade geworden. Und was sind Sie? Wie heißen Sie?« Das letzte brüllte er mit weit offenem Mund, vorgebeugt, mit Händen in die Hüften gestemmt, der Schall seiner Stimme zerriß die graue, schwere Luft und brach sich an den langen Barackenwänden jenseits des großen, weiten und naß glänzenden Hofes.

»Schütze Gottfried von Bartlitz, Herr Oberfeldwebel«, sagte der große Mann mit unbewegtem Gesicht.

»Hinlegen!« sagte Krüll, jetzt wieder leise; vielmehr, er sagte es nicht, er stieß das Wort hervor, als spucke er es aus, als schoß es gleichsam in den anderen, und als sich der große Mann hingelegt hatte, ging er schweigend um ihn herum und drückte mit den Füßen seine Absätze herunter in eine Pfütze, betrachtete eine Weile den Liegenden, ging rund um die drei übrigen und baute sich dann mit einer scharfen Kehrtwendung wieder vor ihnen auf.

»Und Sie?« fragte er den zweiten.

»Schütze Ernst Deutschmann, Herr Oberfeldwebel.«

»Beruf?«

Deutschmann zögerte. »Arzt, Herr Oberfeldwebel.«

»Doktor, was?«

»Jawohl, Herr Oberfeldwebel!«

Oberfeldwebel Krüll starrte den hageren Mann mit der hohen Stirn, gelblich-fahlem Gesicht und unruhigen, gehetzten Augen an, zog hoch, spuckte seitwärts aus und sagte schließlich: »Heiliger Bimbam, was muß ich auf meine alten Tage hören! Von Beruf Doktor!« Er schüttelte mit dem Kopf. Und dann brüllte er; er brüllte immer, bevor er »Hinlegen« befahl: »Entweder Doktor oder Schütze, aber jetzt sind Sie Schütze. Von Beruf und Berufung! Hinlegen!«

Chemiker, Privatdozent an der Berliner Universität, anerkannter Privatgelehrter und Verfasser einiger beachteter Artikel in den medizinischen Fachzeitschriften, legte sich hin und drückte dabei die Fersen nach innen zu Boden. »Schütze Doktor -!« hörte er die Stimme des Oberfeldwebels noch einmal sagen. Und dann hörte er den dritten in der Reihe:

»Schütze Erich Wiedeck, Herr Oberfeldwebel!«

Dann sagte der Oberfeldwebel etwas, brüllte wieder, aber Deutschmann verstand nicht, was er brüllte; er lag mit dem

Gesicht auf den Armen, es war ihm übel, der Regen stach ihm kalt in den Nacken, trommelte sanft auf seinen Rücken, er fröstelte, aber zugleich war es ihm auch heiß, vor seinen Augen lag ein rundes, nasses Steinchen, und eine kleine, nasse, verlorene Ameise kletterte darüber, verharrte, drehte sich herum, lief zurück, und er dachte: Es wird noch eine Weile dauern, bis ich gesund bin.

Und dann hörte er, wie sich der dritte Mann neben ihm hinlegte.

Oberfeldwebel Krüll stand jetzt vor dem vierten. Dieser war mittelgroß und genauso breit wie der Oberfeldwebel. Doch was bei Krüll Fett war, waren bei ihm dicke, schwellende Muskeln, die bei jeder seiner Bewegungen wie von eigenem Leben erfüllt unter dem knappen, geflickten, naß anklebenden Uniformrock spielten. Der mächtige Brustkorb spannte sich weit über den eingefallenen Bauch und stämmigen, dicken O-Beinen. Der Mann schien wie aus einem Felsblock grob herausgehauen zu sein, und sein Gesicht war wie ein plumper Lehmklumpen: eine niedrige Stirn unter dem kurzgeschorenen, schwarzen Haar, eine plattgeschlagene Nase und das Kinn eines Totschlägers. Er grinste. Doch nur sein Mund grinste; die etwas schrägstehenden dunklen Augen waren leblos und stumpf wie zwei Glaskugeln.

»Meine Fresse - hast du eine Visage!« sagte Krüll.

»Hab’ auch schon ‘ne Schönheitskonkurrenz gewonnen -gleich nach Ihnen«, sagte der andere, »im übrigen heiße ich Karl Schwanecke, habe Schweißfüße, und Sie sind der Spieß, und jetzt leg’ ich mich auch gleich hin.« Er machte Anstalten sich neben die anderen hinzulegen, doch der verblüffte, ratlose Krüll schrie ihn an, er solle stehen bleiben. So blieb Karl Schwanecke stehen und grinste den Oberfeldwebel an, der lange nichts sagte.

Weiß Gott, was Krüll in diesen Sekunden dachte. Wahr-scheinlich gar nichts; sein Gehirn war wie gelähmt. Etwas Ähnliches hatte er noch nie erlebt. Wohl gab es manchen widerspenstigen Kerl in diesem verfluchten Bataillon, ‘ne Menge Intelligenzler und Brillenträger, und auch manchen Kriminellen, der hierher abgeschoben wurde. Aber keiner wagte, ihm, Oberfeldwebel Krüll, so etwas - so etwas -, Schweißfüße, dachte er, und wußte nicht, was er tun sollte. So fing er brüllend zu fluchen an. Das war der beste Ausweg, und wenn man es lange genug tat, fiel einem fast immer etwas Vernünftiges ein.

Es gibt ‘ne Menge Flüche, die ein altgedienter, aktiver Oberfeldwebel lernen konnte, und Krüll hatte immer ein offenes Ohr und ein gutes Gedächtnis gehabt. Außerdem besaß er in dieser Hinsicht so etwas wie eine schöpferische Ader und eine mächtige Stimme, die seinen Neuschöpfungen den nötigen Nachdruck verlieh. Dies, in Verbindung mit seinem Eifer und seiner unnachgiebigen, zielstrebigen Schärfe, war weithin berühmt und ließ ihn schließlich im Strafbataillon landen: wenn überhaupt jemand, so wird dieser Mann mit den Volksschädlingen und solchen Elementen dort fertig werden. Tatsächlich, er hatte es im kleinen Finger.

Aber nun ließ ihn sein kleiner Finger im Stich, und das Gehirn hatte er kaum zu gebrauchen gelernt. Menschen wie Schwanecke hatte man bis zu diesen Tagen des totalen Krieges kaum in eine Uniform gesteckt. Man sperrte sie in ein Zuchthaus ein, oder man brachte sie um, je nachdem. Er, der Erfahrene, war jetzt hilflos, und weil er hilflos war, brüllte er und fluchte: mit einem puterroten Gesicht, weit offenem Mund und hervorquellenden, halbgeschlossenen Augen. Seine brüllende Stimme füllte jeden Winkel des weiten Platzes aus und duckte das schläfrige, dumpfe Leben in der Kaserne bis zum völligen Stillstand. Nur Karl Schwanecke lebte weiter in seinem breiten, unverschämten Grinsen, und als Krüll eine Atempause einlegte, breitete sich mit einem Schlag lähmende, fast hörbare Stille aus, hörbar durch das Gluckern des Wassers und durch das hierhergewehte Lied marschierender Soldaten, das von irgendwoher aus der regenverhangenen Landschaft kam.

Dieses hierhergewehte Lied war Krülls Ausweg.

Mit der verblüffenden Fähigkeit altgedienter Soldaten, aboder umzuschalten, brach er die Schimpfkanonade ab, sah auf seine Armbanduhr, verglich sie mit der Uhr auf der Wachbaracke, nickte, befahl dem immer noch grinsenden Schwanecke das übliche Hinlegen und stakste dann zum Schlagbaum.

Die vier Neuankömmlinge ließ er liegen: in einer kurzen, schiefen, durchnäßten Reihe, von dem Längsten bis zu dem Kleinsten, vom Schützen Gottfried von Bartlitz bis zum Schützen Karl Schwanecke.

Das war Dr. Ernst Deutschmanns Ankunft im Strafbataillon 999: Er lag auf dem Gesicht, oder auf der Schnauze in der üblichen Umgangssprache, verfolgte mit dem Blick die umherirrende, nasse Ameise, über seinen Körper liefen lange Frostschauer, er kämpfte gegen die Übelkeit an, und er horchte auf den Marschgesang, der langsam und stetig näherkam und immer lauter wurde.

Sie marschierten durch den Regen und sangen.

Unteroffizier Peter Hefe, genannt »der Gärende«, stampfte vor ihnen her, verbissen, naß, dreckig, wütend, durch den gleichen Dreck stampfen zu müssen wie die Männer hinter ihm.

Die Straße zog sich lang hin. Sie führte durch die Niederungen der Warthe, durch abgeerntete Kornfelder, vorbei an traurigen Birken und melancholischen Buchen. Der graubraune Fluß rann träge zwischen den sandigen Ufern.

Sie waren müde, und es war keine Zeit zum Singen. Aber sie taten es, weil es »der Gärende« befohlen hatte: marschierende und singende graue Schemen in einer grauen Landschaft unter einem grauen Himmel, mit nassen Gesichtern und aufgerissenen schwarzen Mündern, aus denen sich müde die Lieder vom Heideröslein, dem Edelweiß, den rollenden Panzern und morschen Knochen lösten und sich wie der Regen, der vom Himmel nieselte, auf die traurige, nasse Landschaft senkten.

153 Mann.

»Kompanie - halt!« brüllte Peter Hefe. Er scherte nach links aus und blickte auf die müden, knochigen, verdreckten Männer, die ihn teilnahmslos anstierten und froh waren, nicht mehr singen zu müssen. Ein trauriger Verein, meine Fresse!

»Hört mal zu, ihr Oberpfeifen!«, sagte er mit kratzender, heiserer Stimme, »hört mal zu, ihr singt wie verliebte Waschweiber beim Mondschein. Wenn ich noch mal höre, daß einige aus dem Takt kommen, wenn sie nicht zufällig pennen, machen wir den ganzen Weg im Laufschritt wieder zurück, verstanden?« Er sagte es, aber er meinte es nicht ernst. Keine zehn Pferde würden ihn den langweiligen Weg zurückbringen. Im übrigen war es auch schon ziemlich spät, und deshalb überhörte er auch das müde »Jawohl« aus etwa zwanzig von 153 Kehlen.

»Na also«, sagte er. »In einer Viertelstunde marschieren wir ins Lager ein - daß mir das zackig geht! Der Kommandeur ist da, macht mir also keinen Kummer! Verstanden?«

»Jawohl!«

»Also denn - ein Lied! Es ist so schön, Soldat zu sein! Singt es mit Wonne, meine Lieben! Mit Wonne und Gefühl!«

Sie marschierten wieder, sie sangen, die Warthe rann träge durch den Sand, links und rechts standen triefende Birken und Buchen.

So marschierten sie ins Lager ein, wo sie von Oberfeldwebel Krüll bereits erwartet wurden.

An diesem späten Nachmittag erfand Krüll seine neue Masche, die er später »Die Kunst des Überrollens« nannte.

Er war wütend, das heißt, sein permanenter Wutzustand hatte wegen Karl Schwanecke und wegen der Verspätung der anmarschierenden Kolonne einen neuen Gipfel erreicht. Sieben Minuten über die Zeit! Und der Kommandeur stand womöglich am Fenster, schaute auf die Uhr und grinste auf seine hinterhältige Art.

Ich werde euch -! dachte Krüll, ich werde euch .! Weiter dachte er nicht, nur sein kleiner Finger, wo er das alles hatte, was ein ausgekochter Spieß wissen mußte, arbeitete unablässig.

Der Schlagbaum ging hoch, die Kompanie schwenkte links ein, Unteroffizier Peter Hefe kommandierte mit heller, im Anblick des Kasernenhofes und des breitbeinig, mit in die Hüften gestemmten Fäusten dastehenden Oberfeldwebels wie erneuerter Stimme. Doch genau auf dem Wege der Marschkolonne lagen die vier Neuankömmlinge auf dem Bauch und blickten mit seitwärts gekehrten Gesichtern den Marschierenden entgegen.

Peter Hefe sah es, obwohl etwas spät, und kommandierte Rechts schwenken, um den Liegenden auszuweichen. In der Kolonne entstand eine leichte Verwirrung.

In diesem Augenblick fiel beim Oberfeldwebel Krüll die Klappe.

»Geradeaus -!« brüllte er. Dadurch wurde die Verwirrung nur noch größer. Aber schließlich schaltete auch Peter Hefe. Er übersah die Situation, er wußte, was Krüll bezweckte, und seine Aufgabe war es nicht, etwas anderes zu bezwecken. Seine laute Kommandostimme schallte über den Hof, und die Dreierkolonne, 153 Mann, aufgeteilt in vier Züge, marschierte über die Liegenden und sang dazu ein Lied.

Krüll wußte, daß er damit nichts riskierte. Die Abstände zwischen den Liegenden waren zwar knapp, aber nicht zu knapp. Wenn man vorsichtig auftrat, konnte man den Fuß zwischen sie setzen - auch wenn er in einem übergroßen Knobelbecher steckte. Außerdem wußte er, daß die Marschierenden genausowenig auf die Liegenden treten werden wie ein Pferd, wenn es über einen Menschen galoppiert, der auf dem Boden liegt ... Aber - es war eine hübsche, eine neue Sache, ein Vorgeschmack für Neuankömmlinge, eine Warnung und eine Strafe im Vorschuß zugleich. Infolge hatte er diese Methode weiter vervollkommnet und manchmal die restliche Kompanie über einen liegenden Zug marschieren lassen, streng darauf achtend, daß die Marschierenden nicht aus dem Gleichschritt kamen; da dies fast unmöglich war und die Kolonnen regelmäßig ins Stolpern kamen, hatte er eine gute Handhabe zu immer neuen Übungen.

Die Einrückenden waren müde und teilnahmslos. Viele verstanden nicht, um was es ging. Viele waren zu müde, um die Füße höher als zehn Zentimeter über den Boden zu heben, und meistens sahen sie die Liegenden erst ziemlich spät.

So kam es, daß bei dieser Begrüßungsszene durch Oberfeldwebel Krüll alle vier einige schmerzhafte, blaue Flecke davontrugen, und der erste, Schütze Gottfried von Bartlitz, einen zerquetschten Finger, weil er die Hand zu spät wegzog.

Der Bataillonskommandeur, Hauptmann Barth, stand am Fenster der Schreibstubenbaracke und blickte auf dieses Schauspiel. Als die letzten über die Liegenden schritten und die flach dahingestreckten, von oben bis unten verdreckten Gestalten wieder sichtbar wurden, wandte er sich um.

»Ihre Kompanie, Obermeier?« fragte er den Oberleutnant, der hinter ihm stand.

Der Oberleutnant nickte. »Sie kommt vom Arbeitseinsatz zurück. Sandgruben. Kein Vergnügen, bei diesem Sauwetter!«

»Ein scharfer Hund, der Krüll«, sagte der Hauptmann und sah wieder hinaus. Und als der Oberleutnant hinter ihm nichts antwortete, fuhr er fort: »Genau der Richtige für uns.«

»Na, ich weiß nicht, Herr Hauptmann«, sagte der Oberleut-nant.

Die Kompanie stand jetzt mitten auf dem Hof vor Oberfeldwebel Krüll. Peter Hefe machte seine Meldung, aber Krüll überhörte sie, gemütlich den 153 Männern zunickend. Dann schob er den Daumen zwischen den dritten und vierten Knopf seiner Uniformbluse und begann eine seiner alltäglichen Begrüßungsreden, wo er von Picknick in freier Natur sprach, von Steinchen, die sie wahrscheinlich über die Warthe haben hüpfen lassen, da sie zu spät kamen, von diesem und jenem - und im Grunde unterschied sich seine Ansprache kaum von Tausenden anderer Ansprachen, die um diese Zeit auf den Kasernenhöfen fast ganz Europas gehalten wurden, von anderen Spießen an andere Soldaten, Rekruten und Altgediente. Der einzige Unterschied war der, daß es hier Männer eines Strafba-taillons waren, die zuhörten - das heißt: die meisten hörten gar nicht zu.

Oberflächlich gesehen, war dieser Unterschied nicht so gewaltig. Ein Strafbataillon war zwar eine Einheit, die aus lauter Todeskandidaten bestand, genauer - aus etwa 95 bis 98 Prozent Todeskandidaten. Aber Todeskandidaten waren in dieser Zeit ja fast alle Uniformierten, auch wenn die Verlustquoten bei anderen Einheiten nicht so groß waren, obschon sie manchmal die der Strafbataillone fast erreichten. Der Unterschied bestand in den Uniformen, in der Verpflegung, vor allem aber in dem, was vor dem Tode kam: dem Unmaß von Erniedrigung, geistiger und körperlicher Vergewaltigung, Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung.

Als Krüll mit seiner Ansprache fertig war, jagte er die ausgepumpten Männer zweimal bis an die hintere Mauer, ließ sie einmal hinlegen und befahl ihnen schließlich abzutreten. Die vier Neuen ließ er immer noch liegen.

»Jetzt prügeln sie sich um die Wasserhähne«, sagte der Oberleutnant.

»Wieso?« fragte Hauptmann Barth. »Draußen regnet’s ja.«

»Ich habe einmal zugesehen. Zehn Stunden lang ohne Trinkwasser schuften und dann noch singen, na, ich danke!«

»Aber Obermeier!« sagte der Hauptmann spöttisch, steckte sich eine Zigarette an und legte das Etui offen auf den Tisch, damit sich der andere bedienen konnte. »Ich dachte, ich treffe hier einen fröhlichen Kasino-Kameraden, wie Sie es früher einmal waren - und dabei stehen Sie herum wie ein nasser Regenschirm. In Witebsk waren Sie anders.«

»Das ist es ja, Herr Hauptmann. Dort, an der Front, war ich am Platze - aber das hier? Ich bin ein Offizier und kein Gefängniswärter.« Er nahm sich eine Zigarette aus dem Etui und steckte sie sich mit leicht zitternden Fingern an. Der Hauptmann sah ihm dabei neugierig zu.

»Tun Ihnen die Kerle leid?«

»Ihnen nicht, Herr Hauptmann?«

»Wieso?« Der Hauptmann legte den Kopf auf die Seite. »Es ist keiner unter ihnen, der nicht rechtskräftig verurteilt wurde.«

Fritz Obermeier zerdrückte die kaum angerauchte Zigarette in dem großen Aschenbecher. »Sie haben meine Kompanie gesehen, Herr Hauptmann«, sagte er. »Hundertdreiundfünfzig hin- und hergejagte Leichen, die vom Oberfeldwebel Krüll schnell noch einmal fertiggemacht werden, weil sie sieben Minuten zu spät gekommen sind. Rechtskräftig verurteilt! Der kleine Schmächtige, in der ersten Reihe zum Beispiel, Oberstleutnant Remberg, Ritterkreuzträger, stand als einer der ersten vor Moskau. Bei einer Lagebesprechung sagte er etwas, daß wir uns in den russischen Weiten totlaufen und ausbluten werden. Er sagte, daß wir aufhören müßten, solange es noch geht, weil es sonst eine Katastrophe gibt. Jetzt ist er hier. >Ich kann da nicht mehr mitmachen, ich bin kein Schlachter< hatte er gesagt, und das Hauptquartier reagierte sauer. Jetzt schippt er Sand.«

»Er wollte ja - kein Schlächter sein, jetzt ist er - Sandschipper«, sagte der Hauptmann. »Besser Sandschipper als tot, oder?«

Doch der Oberleutnant beachtete seinen Vorgesetzten nicht. »Oder der Ausgemergelte mit der großen Glatze und Brille. Dort geht er über den Hof - sehen Sie?«

»Was ist mit dem?« fragte der Hauptmann.

»Professor Dr. Ewald Puttkamer. Major der Reserve. Er hatte gesagt, daß das braune Hemd die neue Kluft und Berufskleidung der Totengräber sei.«

»Nicht schlecht«, grinste der Hauptmann.

»Es gibt noch eine Menge solcher Menschen hier. Aber das wissen Sie ja selbst.«

»Aber auch Kriminelle, nicht?«

»Auch die.«

»Und was soll das alles?« fragte der Hauptmann.

»Ich glaube kaum, daß es die Aufgabe eines deutschen Offiziers ist, die Aufgaben eines Gefängnisaufsehers zu übernehmen.«

Hauptmann Barth lächelte. Er setzte sich in den einzigen Sessel und blies den Rauch seiner Zigarette gegen die niedrige Barackendecke. Vom Appellplatz her durch das geschlossene Fenster hindurch, hörte man Krülls Geschrei; der Oberfeldwebel war auf dem Wege zur Essenausgabe.

»Scheußlich«, sagte Obermeier.

»Ach was!« sprach der Hauptmann gemütlich. »Der Krieg ist scheußlich. Und der Frieden ist noch scheußlicher, weil wir Soldaten dann überflüssig sind. Sie müssen gleichgültiger sein, mein Lieber, viel gleichgültiger. Dann haben Sie vielleicht eine Chance zum Überleben. Dann kümmert Sie nicht mehr, ob ein Oberstleutnant und Ritterkreuzträger oder ein siebenkluger Professor und andere solche Helden von Krüllschnitt gegen die Mauer gejagt werden und - wie haben Sie das gesagt? - ausse-hen wie herumgetriebene Leichen. So war’s doch?«

Der Oberleutnant nickte.

Hauptmann Barth erhob sich schwerfällig, gähnte, reckte seine breite, große Gestalt und drückte den verschobenen Ledergürtel gerade. Dann blickte er auf die kleine goldene Uhr an seinem Handgelenk und gähnte noch einmal, ohne die Hand vor den Mund zu nehmen. Ein weißes Leinenarmband hielt die Uhr fest, und man erzählte, daß Barth dieses Armband jeden Tag gegen ein neues, reinweißes und steif gestärktes auswechselte. Vielleicht stimmte es auch, obwohl dies irgendwie zu diesem großen, starken Mann nicht passen wollte - eher zu dem Kompanieführer der ersten Kompanie und Frauenliebling, Oberleutnant Wernher.

Als er wieder aufblickte, sah er Obermeier in strammer, dienstlicher Haltung vor sich stehen.

»Ich bitte Herrn Hauptmann, meine Versetzung zur Fronttruppe zu beantragen!«

»Ach nee -!« sagte der Hauptmann mokant. »Sieh mal an, ein Held! Hätten Sie noch eine Minute gewartet, dann hätten Sie sich dieses altgermanische Heldenepos ersparen können.« Er griff umständlich in die Tasche, zog einen schriftlichen Befehl heraus und legte ihn zu den Akten, die einen Teil des Schreibtisches bedeckten.

»Ihre Kompanie, die zweite vom Bataillon 999, rückt in den nächsten Tagen nach Rußland ab.«

»Rußland?«

»So ist es. In Abständen von zwei Tagen folgen die restlichen Kompanien. Ich komme mit der letzten, das ist mit der ersten des Bataillons, nach. Zufrieden?«

»Nein, Herr Hauptmann!«

»Noch immer nicht? Zum Donnerwetter, was wollen Sie noch?«

»Eine ordentliche Truppe. Was soll ich mit diesen Halbtoten in Rußland anfangen? Sollen wir mit Wracks Krieg führen und gewinnen?«

»Gewinnen? Obermeier, Sie dummer Junge!« Barth lächelte überdrüssig. »Na, so oder so: wir bekommen eine wunderhübsche Aufgabe. Sie werden Ihren ganzen Heldenmut beweisen können. Eine Aufgabe mit Termin, bis da und da fertig sein -sonst Kriegsgericht. Nicht nur das langweilige, blödsinniges Schanzen, Minenaufräumen, Bombenentschärfen, Gräbenentwässern, Munitionsschleppen, Straßenbauen, Kadaverwegräumen ...«

»Und - was soll diese wunderhübsche Aufgabe sein?«

»Sie werden es rechtzeitig erfahren.« Barth trat ans Fenster und sah hinaus. Auf dem Appellplatz jagte Krüll einen Landser hin und her wie einen Hasen, der das Hakenschlagen üben soll.

»Und wer ist dieser da? Sie kennen doch die Lebensgeschichten Ihrer Leute.«

»Oberleutnant Stubnitz«, sagte Obermeier.

»Schütze Stubnitz«, verbesserte ihn der Hauptmann. »Was hat er angestellt?«

»In Dortmund ein Schnapsglas gegen das Führerbild geworfen und >Prost August!< gerufen.«

»Idiot!« sagte der Hauptmann.

»Er war betrunken«, sagte der Oberleutnant.

»Also ein betrunkener Idiot. Warum greifen Sie nicht ein? Warum jagen Sie Krüllschnitt nicht zum Teufel? Sie könnten gegen ihn einen Tatbericht wegen Mißhandlung der Truppe machen.«

»Und was würde dabei herauskommen? Eine kurze Verhandlung. Frage: Welche Truppe? Antwort: Strafbataillon 999. Was haben Sie gemacht, Oberfeldwebel? Ich habe einen aufsässigen Soldaten im erlaubten Rahmen auf seine unrichtige Handlung aufmerksam gemacht. Gut so, Oberfeldwebel, machen Sie weiter! Der Blamierte wäre ich.«

»Stimmt, Sie Schwärmer«, sagte der Hauptmann. »Sie sind gar nicht so dumm. Na, jetzt wird’s ja besser, wenn wir nach Rußland kommen. Bald werden Sie von all Ihren Sorgen und tiefsinnigen Gedanken befreit sein.«

»Wieso?«

»Weil Sie -«, sprach der Hauptmann langsam und betonte jedes Wort, als müßte er es an die Wand nageln, »- weil Sie dort nach einigen Wochen keine Kompanie mehr haben werden.«

Schweigen. Und dann, als wollte der Hauptmann den Eindruck seiner Worte besänftigen und die Schatten einer blutigen, gespenstischen Zukunft verjagen, die sich im Zimmer auszubreiten begannen: »Die vier Leute, die dort im Dreck liegen, gehören Ihnen. Das ist Ihr Ersatz. Interessante Leutchen - genau das Richtige für Ihre Sammlung. Der erste heißt« - Barth ging zum Schreibtisch und klappte einen Aktendeckel auf, den er mitgebracht hatte - »Gottfried von Bartlitz, ehemals Oberst und Eichenlaub träger, Divisionskommandeur, nun Schütze. Nach Stalingrad hatte er den Mund zu voll genommen, aber das Rückgrat hat ihm die Sache mit dem Rückzugsbefehl gebrochen - auch er wollte angeblich kein Schlächter sein. Der zweite heißt Erich Wiedeck. Ehemals Obergefreiter, ein Bauer aus Pommern, hat seinen Urlaub verlängert, weil er die Ernte einbringen wollte. Behauptet er. Dritter Karl Schwanecke, ehemals Werftarbeiter, aber nur ab und zu. Sonst hauptberuflich Gewohnheitsverbrecher und sozusagen ein Untermensch. Und der vierte, Dr. Ernst Deutschmann - ein bezeichnender Name, was? - Selbstverstümmelung. Sehr raffiniert ausgeklügelt, ging aber trotzdem schief. Das war’s. Was haben Sie, Obermeier?«

»Wie - wie heißt der erste?« fragte der Oberleutnant stockend.

»Wieso - kennen Sie ihn?«

»Wie heißt er?«

»Gottfried von Bartlitz. Kennen Sie ihn?«

Der Oberleutnant nickte. »Er war früher einmal mein Bataillonskommandeur«, sagte er schwer.

»Ach - nee! Ist ja interessant.« Der Hauptmann ging wieder zum Fenster und sah hinaus, als hätte er noch nicht genug von dem Anblick des umherstolzierenden und brüllenden Krüll. »Sehen Sie, so ist das«, sprach er halblaut, ohne den Oberleutnant anzusehen, »gestern hoch oben, heute unten und morgen ganz tief unten. Ich meine - unter der Erde. Bleiben Sie oben, Obermeier, das ist wichtig. Das ist das wichtigste: immer oben bleiben, versuchen Sie, höher zu klettern, aber nicht zu hoch. Und vergessen Sie, was diese Leute früher einmal waren. Vergessen Sie es, sonst kann Ihnen einmal das gleiche passieren. Diese Menschen haben keine Vergangenheit mehr. Sie sind Schützen in einem Strafbataillon. Schützen ohne Gewehre. Die Ehre, Waffen zu tragen, haben sie sich verscherzt. Es bleibt ihnen nur noch die Ehre, sterben zu dürfen. Schützen im Strafbataillon 999«, sagte er langsam, als müßte er jeden Buchstaben einzeln auskosten. Mit einer schnellen, abrupten Bewegung steckte er die Hände in die Hosentaschen und zog die Schultern hoch. »Überleben«, sagte er, »oben bleiben, kein Idiot sein. Haben Sie etwas zu trinken?«

»Hennessy?« fragte der Oberleutnant.

»Her damit!« sagte der Hauptmann.

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