Kapitel 11

Berlin:

Draußen schneite es. Dicke, nasse Schneeflocken fielen aus dem dunklen Himmel und zerschmolzen auf den Steinen der Terrasse. Dr. Kukill stand am Fenster und starrte in den trostlos aussehenden, kahlen Garten, der in der langen grauen Morgendämmerung versank. Sein Raubvogelgesicht war bleich, eingefallen und ruhig. Seine Augen waren weit offen, aber sie sahen nicht in den Garten. Abwesend, seltsam leblos starrten sie vor sich hin, als konzentrierte sich der Mann auf einen unsichtbaren Punkt. Schließlich drehte er sich um, zog die schweren Vorhänge zu, ging fröstelnd zu seinem Schreibtisch, setzte sich und fing zu schreiben an:

»Sehr geehrter Herr Kollege Dr. Deutschmann!

Wenn Sie dieses Schreiben erhalten, ist es aller Wahrscheinlichkeit nach bereits zu spät. In Erfüllung einer Liebe, vor der man sich nur in Ehrfurcht beugen kann und die einem Menschen wie mir unverständlich und unfaßbar ist und, ich fürchte auch bleiben wird, hat Ihre Frau Julia an sich selbst den Versuch wiederholt, dessentwegen man Sie als Selbstverstümmler verurteilt hatte. Sie wollte beweisen, daß Sie recht gehabt hatten, und daß Ihr eigener Versuch nur mißlungen war, weil Ihr Gegenserum zu schwach wirkte. Allem Anschein nach hat sie sich mit einer zu großen Dosis des Staphylokokkus aureus infiziert; Professor Dr. Burger, Dr. Wissek und auch ich sind der Meinung, daß es für sie keine Rettung mehr gibt.

Damals, bei meinem Gerichtsgutachten, habe ich nach dem Stand der heutigen Medizin geurteilt und mich nicht auf das spekulative Gebiet der Möglichkeiten gewagt, weil das, was Sie an sich versuchten und was Ihre Frau gegen meinen Rat und trotz meines Widerstandes wiederholte, so phantastisch war, so unglaubwürdig, daß der nüchterne Verstand sich sträubte, es einzusehen. Jetzt allerdings ist mir klar, daß ich mich geirrt habe. Wir hatten Nachrichten aus England, nach denen es den dortigen Wissenschaftlern bereits gelungen ist, das zu vollbringen, was Sie versucht hatten. Aber das ist ja jetzt in dieser Stunde unwichtig. Ich weiß, wie schrecklich Sie diese Nachricht über Julia treffen muß, noch viel mehr, wo Sie selbst nichts tun können. Glauben Sie mir, ich empfinde mit Ihnen, ich weiß, was Sie mit ihr verlieren, denn auch ich - ich gestehe es - habe sie sehr achten und verehren gelernt.

Jetzt, da ihr Leben an ihrer großen Liebe zerbrochen ist, verspreche ich Ihnen, alles zu tun, was in meiner Macht steht, um Sie aus dem Strafbataillon herauszuholen. Ich weiß, daß Ihre Arbeit Ihr einziger Trost sein wird, und ich werde Sie dabei mit allen meinen Kräften unterstützen. Sie werden in ein paar Tagen von mir hören; ich bin überzeugt, daß es nicht allzu lange dauern wird, bis Sie wieder in Berlin eintreffen.

Ich gebe meinen Irrtum zu. Wie glücklich wäre ich doch, wenn dies auch Ihre Frau retten könnte!

Ich stehe immer in Ihrer Schuld.

Dr. A. Kukill«

Den Brief legte er sofort in den Umschlag, schrieb die Adresse und versiegelte ihn. Dann stand er auf, blieb einige Augenblicke nachdenklich stehen und ging dann hinaus.

Noch am selben Vormittag trug er das Schreiben zum OKW in der Bendlerstraße. Seine weiten Verbindungen bewährten sich auch diesmal: Der Brief ging als wichtige Dienstsache in Richtung Orscha.

Gegen Mittag rief Dr. Kukill wieder in der Charite an. Noch bleicher als zuvor und mit versteinertem Gesicht verlangte er Professor Dr. Burger.

»Wie geht es Julia?« fragte er knapp, ohne Umschweife.

»Ist Dr. Kukill dort?«

»Ja. Wie geht es Julia Deutschmann? Ist der Exitus ...«

»Nein, nein. Warten Sie, ich gebe Ihnen Dr. Wissek, er hat die ganze Nacht bei ihr gewacht.«

Dr. Kukill wartete. Und dann, nach endlos erscheinenden Minuten, meldete sich die müde, übernächtigte Stimme Dr. Wisseks.

»Wie geht es ihr?« fragte Kukill wieder.

»Etwas besser. Puls nicht mehr so flach. Die Atmung ist kräftiger. Wir geben Sauerstoff. Aber immer noch tiefes Koma ...«

»Atmung kräftiger?« Kukill mußte sich auf den Tisch aufstützen. Er fühlte plötzlich eine flaue Schwäche von seinen Beinen empor über den Körper kriechen. »Kräftiger«, wiederholte er, »es geht ihr besser?« Das letzte schrie er fast.

»Es läßt sich noch nichts Bestimmtes sagen. Aber es scheint, daß dieser Aktinstoff zu wirken begonnen hat. Wir haben noch einmal 5 ccm gespritzt .«

»So viel?«

»Wir müssen alles versuchen .«

»Ja, natürlich, natürlich ... wir müssen alles versuchen ... Warten Sie, ich komme hin, mein Gott, vielleicht ...«, stotterte Dr. Kukill sinnlos, legte den Hörer wieder auf und fuhr sich mit beiden Händen über das naßgewordene Gesicht. »Vielleicht«, murmelte er, »Julia ... wenn das stimmt ... ich hol’ ihn heraus, wenn das ... wenn das nur stimmt!«

Er hatte schon den Mantel angezogen, als ihm der Brief an Deutschmann einfiel. Für einen Moment blieb er unschlüssig -die Hand auf der Türklinke - stehen, überlegte - dann ging er mit großen Schritten zum Telefon und ließ sich mit dem Kurier-Offizier, dem er vormittags den Brief persönlich übergeben hatte, verbinden.

Die Blässe war aus seinem Gesicht verschwunden; seine gewohnten, energischen Züge kamen wieder zum Vorschein. In kurzen, abgehackten Sätzen forderte er den Brief wieder zurück.

Aber Dr. Kukill kam zu spät. Der Brief war schon seit einer halben Stunde mit der planmäßigen Kuriermaschine nach Orscha unterwegs ...

In Barssdowka ging ein Gerücht durch die Reihen der 2. Kompanie. Oberleutnant Obermeier war zu Hauptmann Barth nach Babinitschi befohlen worden.

»Es liegt eine Sauerei in der Luft«, sagte Wiedeck. »Beim Furier soll Schnaps angekommen sein. Das kenne ich ... wenn es Schnaps gibt, liegt Rabatz in der Luft.«

»In einer normalen Truppe - allerdings.« Bartlitz zerteilte sein Stück Brot in kleine Brocken, die er mit billiger Marmelade bestrich und einen nach dem andern aß. Bei ihm sah es aus, als diniere er das feinste Hors d’reuvre. »Sie glauben doch nicht im Ernst, daß wir hier Schnaps bekommen?«

»Warum nicht? Es geschehen noch Wunder«, sagte Deutschmann.

»Hat sich was, mit dem Wunder! Wunder gibt’s keine«, sagte Wiedeck. »Wenn wir Schnaps bekommen, dann kommt gleich danach ein Befehl ... du weißt schon, was ich meine. Ein Befehl, verstehst du, bei dem man besoffen sein muß, um ihn überhaupt durchzuführen. Himmelfahrtskommando. Ist doch so. Oder?«

»Möglich«, sagte Bartlitz. »Allerdings muß ich sagen, daß sich diese Art von Kriegsführung sehr weit davon entfernt hat von der, wie wir einen Krieg führen wollten.«

»Wolltet ihr das?« fragte Deutschmann.

»Nein, ich wollte sagen - wie wir es gelernt haben.«

»Gelernt oder nicht, das ist scheißegal«, sagte Wiedeck. »Ich glaube nicht, daß man einen Krieg so führen kann - wie ihr es gelernt habt. Das ist jetzt unwichtig. Ich sage nur eins: Es stinkt!«

Aber Genaueres wußte niemand. Alle warteten darauf, daß Oberleutnant Obermeier aus Babinitschi zurückkam. Außerdem sollte er auch Post mitbringen - die erste Post nach langen Wochen. Und die war noch wichtiger als Schnaps oder eine Sonderration glitschigen Brotes.

Der Motorschlitten rumpelte durch die weiße Nacht. Oberleutnant Obermeier saß neben dem Fahrer, einem altgedienten Gefreiten, und döste vor sich hin.

Plötzlich wurde das Motorengebrumm tiefer, und der Schlitten fuhr langsamer. Obermeier schreckte aus seinen Gedanken hoch und sah den Gefreiten an, der auf die Straße vor sich spähte.

Am Rand der Straße lag ein Pferd.

Ein kleines, braunes, struppiges Panjepferd. Seine Augen schienen fast zugefroren, das Fell war weiß überkrustet. Es rührte sich nicht, und vom Schlitten aus sah es so aus, als wäre es vom Schnee halb zugedeckt. Eine Räumkolonne der 1. und 4. Kompanie hatte die Straße am Abend zuvor frei gemacht und die Schneeberge einfach gegen die Telegraphenmasten gedrückt, die wie einsame, dürre Zeigefinger aus der Ebene ragten.

Seitlich von dem Panjepferd lag hinter einer Schneeverwehung Oberleutnant Sergej Petrowitsch Denkow. Er hatte die Maschinenpistole mit dem großen, runden Magazin auf dem Unterarm liegen und sah hinüber zu dem hoppelnden Schlitten, der aus der Nacht gefahren kam.

»Was ist das?« fragte Obermeier.

Der Gefreite fuhr langsam gegen den dunklen Haufen im Schnee.

»Ich glaube, es ist ein Pferd, Herr Oberleutnant.«

»Sie träumen wohl, wie soll ein Pferd hierherkommen?« Doch dann sah auch Obermeier, daß der Gefreite recht hatte. Anscheinend war es tot. So wenigstens dachte Obermeier. Doch der Gefreite sagte:

»Wahrscheinlich erschöpft. Wer hat es wohl hier liegen lassen? Darf ich anhalten?« In ihm regte sich der westfälische Bauer - und wo gibt es einen Bauern, der an einem leidenden Pferd vorbeifahren und es seinem Schicksal überlassen könnte? Ohne auf Obermeiers Antwort zu warten, bremste er den Schlitten ab.

Sergej drückte den Sicherungsflügel seiner Maschinenpistole herunter. Zugleich schob er den Lauf der Waffe etwas höher. Nur zwei dachte er. Aber heute zwei und morgen zwei und übermorgen zwei ... solange es auf der Welt Deutsche gibt ... Er biß sich auf die Lippen, sein Zeigefinger legte sich um den Abzug.

»Sehen Sie nach«, sagte Obermeier.

Der Gefreite kletterte vom Schlitten und ging auf das Pferd zu - direkt in Sergejs Schußrichtung.

Nun kletterte auch Obermeier vom Bock. Er war mitten in der Bewegung, als das Panjepferd mit einem plötzlichen, wilden Satz aufsprang, als habe es die Witterung der fremden Männer erschreckt. Auch Sergej zuckte vor dem plötzlich aufjagenden Schatten zusammen, und zugleich schoß er.

»Deckung«, brüllte Obermeier und ließ sich in den Schnee neben dem Schlitten fallen. Der Gefreite blieb einen Augenblick ratlos stehen, warf sich dann nach vorn - und erhielt mitten im Sprung einen donnernden Schlag gegen die Stirn. Er warf die Arme empor, die Nacht war für den Bruchteil einer Sekunde rot und grell, dann schlug er der Länge nach in den Schnee, seine Hände scharrten sinnlos herum, und seine Füße trampelten auf den Boden, daß die Eisstückchen herumspritzten. Dann streckte sich sein Körper lang aus und blieb regungslos liegen.

Das Pferd galoppierte die Straße entlang. Mit fliegender Mähne, wirbelnden Beinen und weit vorgestrecktem Hals. Der Schaum stand ihm vor dem Maul.

Sergej kroch nach rückwärts, dann seitwärts, hinter einen Telegraphenmast und sah vorsichtig über den Schneehaufen gegen den Schlitten. Ein dünner Knall zerriß die dumpfe Stille, und neben seinem Kopf stäubte der Schnee auf. Der Gegner schoß. Er wechselte wiederum die Stellung; diesmal kroch er etwas weiter, und als er wieder über den Schnee sah, blieb alles still. Doch auch er konnte von hier aus den Gegner, der hinter dem Schlitten lag, nicht sehen. Alles blieb still und ruhig, der Schlitten stand, etwa 30 Meter weit von ihm entfernt, mitten auf der Straße, und davor lag die dunkle, ausgestreckte Gestalt des Toten.

Sergej wartete.

Er wird kommen, sagte er zu sich. Ich habe Geduld. Er wird kommen. Er ist ein Deutscher. Er will ein Held sein. Alle deutschen Helden sind ungeduldig, darum überleben sie gewöhnlich ihre Heldentaten nicht.

Er wartete - und er wußte nicht, daß Obermeier kein Held sein wollte, sondern nur ein Mensch in Uniform war, der genauso warten konnte wie Sergej. Warten, um zu töten.

Fast eine Stunde lagen sie sich stumm gegenüber.

Als die Nacht langsam, unmerklich einer fahlen Dämmerung wich, wußte Sergej, daß er sein Opfer nicht bekommen würde. Er konnte nicht länger warten. Bald schon mußten Deutsche die Straße entlangkommen, eine Patrouille vielleicht oder eine Nachschubkolonne. Wenn sie ihn hier erwischten, war er erledigt. Und bald schon würde es zu hell sein, um fliehen zu können. Der andere würde ihn sehen, bevor er zwischen den Büschen des nahen Waldes verschwand. Ich habe einen getötet, sagte er sich, als er steifgefroren, zähneklappernd zurückkroch und gebückt hinter dem Schneewall neben der Straße vom Schlitten weglief. Es war einer, morgen werden es zwei sein, oder drei, oder vielleicht mehrere ... Einer ist zu wenig ...

Als er glaubte, weit genug zu sein, bog er nach rechts ab und lief über das freie Feld gegen den Wald. Zwischen den Büschen verschwand er, ein lautloser, verschwommener Schatten.

Obermeier sah ihn, aber er schoß nicht. Es war zu weit. Aber auch wenn Sergej näher gewesen wäre, so wäre Obermeier kaum imstande gewesen zu schießen: Er fror jämmerlich, sein Körper war steif, seine Hände und Füße gefühllos. Langsam, ächzend stand er auf, sah einige Augenblicke dem verschwundenen Gegner nach und begann dann wie verrückt um den Schlitten zu laufen. Es dauerte eine ganze Weile, bis in seinen Körper wieder Gefühl zurückkam. Als es in seinen Füßen und Händen scharf zu kribbeln begann, trug er den Toten zum Schlitten und bettete ihn auf den Rücksitz. Doch bevor er abfuhr, sah er noch einige Sekunden in die Weite des Landes, über die langsam ein neuer Wintertag anbrach. Dieses Land war unersättlich wie ein Riesenschwamm. In ihm hätte die ganze Menschheit Platz, dachte er, und auch dann wäre es nicht zu voll.

Es begann zu schneien. Lautlos, in kleinen kalten Flocken.

Der Schlitten fuhr an und entfernte sich immer schneller.

In Barssdowka empfing Stabsarzt Dr. Bergen den Oberleutnant. Etwas abseits stand Oberfeldwebel Krüll. Seit zwei Stunden hatten sie auf den Schlitten gewartet und sprachen bereits davon, daß sie einen Erkundungstrupp gegen Babinitschi schik-ken wollten. Nun standen sie wortlos neben dem Schlitten, als Obermeier mit steifgefrorenen Gliedern herunterkletterte.

»Tot?« fragte Stabsarzt Dr. Bergen und zeigte mit dem Kinn gegen den Gefreiten auf dem Rücksitz. Es war eine sinnlose Frage: Jedermann konnte sehen, daß der Mann tot war. So konnte nur ein Toter daliegen.

»Wer?« fragte Oberfeldwebel Krüll. In seiner Kehle saß ein dicker Kloß. Er fror, aber es war nicht nur die Kälte, die ihn zittern ließ.

»Gefreiter Lohmann. Lassen Sie ihn wegschaffen«, befahl Obermeier kurz.

»Kommen Sie, ein Schnaps wird Ihnen guttun«, sagte Stabsarzt Dr. Bergen.

Die beiden Offiziere gingen schweigend zu Dr. Bergens Unterkunft und ließen den Oberfeldwebel zurück, der wortlos, mit weitaufgerissenen Augen den Toten anstarrte.

Der Tod des Gefreiten Lohmann wurde zur Kenntnis genommen und beflucht - und trat sogleich zurück vor der Kunde, daß Oberleutnant Obermeier tatsächlich Post mitgebracht hatte.

Bis hinaus zu den Schanzkommandos drang diese Nachricht. Der mürrisch gewordene, schweigsame Wiedeck verwandelte sich in einen aufgeregten Jungen vor der Weihnachtsbescherung. Ruhelos lief er umher, verharrte plötzlich still, fragte immerzu, wie spät es sei, und fing erstmals nach langen Wochen von seiner Frau und den Kindern zu reden an.

»Erna hat todsicher geschrieben«, sagte er. »Ich möchte nur wissen, wie es dem Kleinen geht. Nimmt denn dieser Tag überhaupt kein Ende?«

Der ehemalige Oberst Bartlitz, der bei der Küche von einem Leichtverwundeten abgelöst worden war, saß still und nachdenklich in einer Ecke des halbfertigen Bunkers, schlürfte heißes Wasser, das sie Tee nannten und über einem Knüppelfeuer in den Kochgeschirren wärmten, und träumte vor sich hin. Was würde wohl Brigitte schreiben! Obwohl sie die Tochter eines Generals war, der im Ersten Weltkrieg fiel, war sie auch dann tapfer geblieben, als er wegen Befehlsverweigerung degradiert und in dieses Bataillon geschickt worden war. Einmal durfte sie ihn besuchen, als er noch in Untersuchungshaft war, und sagte über den Besuchstisch hinweg, sehr ruhig und besonnen: »Kopf hoch, Liebster! Denk an Napoleon ... es wird nicht allzu lange dauern!« Es war ein Glück, daß der wachhabende Feldwebel nicht wußte, wer Napoleon war ...

Als Bartlitz an diese kleine Szene zurückdachte, lächelte er kaum merklich. Brigitte hat ganz bestimmt geschrieben - und nicht nur einen einzigen Brief. Wenn kein Brief da war, dann mußte irgend etwas geschehen sein. Und wie so oft in den letzten Wochen und Monaten, fing er schweigend zu beten an: Gott, laß sie gesund bleiben, laß sie nicht umkommen bei den Luftangriffen, laß sie am Leben bleiben, laß mich zurückkommen zu ihr, laß mich sie finden, wenn ich zurückkomme ...

Zusammengekauert, mit grauem, eingefallenem Gesicht, das Kochgeschirr in der leicht zitternden Hand, mit abwesenden Augen saß er da, trank und betete.

Im Hauptverbandsplatz Barssdowka hatte Oberfeldwebel Krüll die Post bereits gesichtet und einige Briefe aussortiert. Es waren Briefe an Schwanecke, Deutschmann, Kronenberg und an einige andere »Lieblinge« des Oberfeldwebels. Vor allem der Brief an Deutschmann ärgerte ihn.

Auf dem Umschlag stand: Herrn Dr. Ernst Deutschmann -und das war es, was ihm gegen den Strich ging. So nahm er einen Rotstift, strich alles durch und schrieb mit klobigen Buchstaben hin: Schütze E. Deutschmann -.

Dann nahm er die ganze Post, ging damit zu Obermeier, der in Dr. Bergens Zimmer saß und legte sie vor.

»Auch für Schwanecke ist was dabei«, sagte er. »Soll ihm der Brief wirklich ausgehändigt werden, Herr Oberleutnant? Ohne Kontrolle?«

Obermeier nickte. »Geben Sie mir den Brief. Ich werde ihn selbst aushändigen.«

»Und Schütze Deutschmann?«

»Warum fragen Sie? Haben Sie nicht gesehen, daß der Brief als dringliche Dienstsache eingestuft ist? Fragen Sie nicht so dumm, gehen Sie schon und verteilen Sie die Post, an die, die hier sind. Los, ab!«

Wütend verließ Krüll Dr. Bergens Unterkunft. Immer diese Ausnahmen, dachte er bitter. Dringliche Dienstsache, was hat dieser Viertelsoldat für dringliche Dienstsachen zu bekommen! Aber die halten zusammen! Die halten immer zusammen, auch wenn einer ein Offizier ist und der andere nur ein Schütze. Die halten zusammen, wenn dieser Scheißschütze so’n lausiges Abitur hat und noch mehr, wenn er’n Doktor ist. Was heißt hier schon - Doktor!?

»Da, Herr Doktor!« sagte Krüll mit bissigem Spott, als er in der Lazarettbaracke Deutschmann fand. »Ein Brief lein aus der Heimat - dringliche Dienstsache für Herrn Doktor. Los - auffangen!« Er warf den Brief Deutschmann zu, aber er warf ihn absichtlich zu kurz.

Deutschmann sagte nichts. Er bückte sich wortlos, hob den Brief auf und steckte ihn in die Tasche.

Enttäuscht ging Krüll weg. Kein Rückgrat, diese Intellektuellen, dachte er grimmig, kein Mumm in den Knochen. Schwanecke hätte wenigstens: »Leck mich ...«

Schwanecke hätte wenigstens: »Leck mich ...« gesagt. Aber dieser Viertelsoldat! Zu vornehm, viel zu vornehm.

In seiner Kammer neben der Scheune setzte sich Deutschmann auf einen Hocker und wog den Brief in der Hand. Er dachte zunächst, er wäre von Julia, und ein heißes Schamgefühl und nahezu Angst vor dem Schreiben drückten ihm das Herz zusammen. Als er dann aber sah, daß nicht Julia, sondern Dr. Kukill geschrieben hatte, war er doch enttäuscht. Warum schrieb Julia nicht? War etwas geschehen? Vielleicht - Bombenangriff? Warum schrieb ihm dieser Dr. Kukill? Was wollte er jetzt auf einmal? War es etwa - wegen Julia? Aber das war doch unmöglich!

Langsam, zögernd riß er den Rand des Umschlages auf, faltete den Bogen auseinander und begann zu lesen.

Nach den ersten Sätzen wurde sein Gesicht hart, aber je weiter er las, um so mehr verfiel es, bis es gegen Ende zu das Aussehen eines Todkranken bekam. Mit übermenschlicher Energie zwang er sich, den Brief Satz für Satz, Wort für Wort zu Ende zu lesen. Und als er fertig war, glättete er den Bogen sorgfältig auf den Knien, faltete ihn langsam zusammen, steckte ihn zurück in den Umschlag und schob ihn in die Tasche. Dann saß er noch eine ganze Weile da: Zusammengesunken, unnatürlich ruhig, ein Mann, den eine schreckliche Wahrheit, die schlimmer war als der Tod, unter sich begraben hatte: ein Mann, der sich plötzlich entblößt und erbärmlich selbst sah, ein Mann, der sich sagen mußte, daß er um eines kurzen Abenteuers willen sein ganzes bisheriges Leben verraten und weggeworfen hatte. Und was noch schlimmer war: Ein Mann, der plötzlich erkennen mußte, daß ein Mensch für ihn das Höchste geopfert hatte, was es zu opfern geben konnte, während er selber nicht wert war, daß man ihn ansah. Und als wollte er seine Qualen noch vergrößern, wiederholte er in Gedanken immer wieder: Sie hat es getan, während ich sie verraten habe.

An diesem gleichen Morgen stand Karl Schwanecke vor Oberleutnant Obermeier.

Er stand sehr stramm da, die Hände an der Hosennaht, das Kinn heruntergezogen, das Kreuz hohl, die Brust heraus. Ein Mann wie aus einer Dienstvorschrift! So steht der deutsche Soldat still.

»Sie haben Post bekommen, Schwanecke.«

Über Schwaneckes Gesicht zog ein ungläubiges Staunen.

»Post, Herr Oberleutnant? Ich habe noch nie Post bekommen.«

»Doch.«

»Dann ist es sicher nichts Gutes, Herr Oberleutnant.«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Wie kann ich schon etwas Gutes bekommen ... ich meine ... wenn ich einen Brief bekomme ...« Er stockte, machte mit der Hand eine hilflose Gebärde und legte sie dann wieder an die Hosennaht.

»Was ist dann? Erwarten Sie etwas Unangenehmes?«

»Nein ... das heißt ... meine Mutter, in Hamburg, Herr Oberleutnant, verstehen Sie? Jeden Tag Luftangriffe ... aber sie hat mir bis jetzt noch nie geschrieben, von ihr kann es nicht sein ... Irgendwer wird mir geschrieben haben, daß sie, ich meine, die Mutter ... schließlich ist sie ja meine Mutter, auch wenn ... verstehen Sie?« Er hob wieder den Blick, sah in die erstaunten Augen des Oberleutnants und begann zu grinsen. Aber sein Lachen ließ ihn noch hilfloser und verwirrter erscheinen.

»Nein, das verstehen Sie nicht, Herr Oberleutnant«, sagte er. »Meine Mutter sagte immer zu mir: >Ich habe keinen Sohn mehr. Du bist ein Lump, ein Verbrechern. So ist das bei uns, Herr Oberleutnant. Man wächst auf wie eine Ratte - bis man abgeschossen wird wie eine Ratte. So ist das, Herr Oberleutnant.«

»Ihre Mutter hat Ihnen geschrieben«, sagte Obermeier mit trockener Kehle.

»Meine Mutter?« Schwanecke streckte die Hand vor und riß sie sogleich wieder zurück. »Mutter?« wiederholte er. Und jetzt sah Obermeier etwas, was er nie geglaubt hätte, wenn es ihm ein anderer erzählen würde: Über Schwaneckes hartes, verschlossenes Gesicht zog ein weiches, warmes Lächeln, und aus seinen sonst leblosen, zwei Glaskugeln ähnlichen Augen leuchtete mit einem Male kindliche Freude. »Stimmt das, Herr Oberleutnant? Nehmen Sie mich nicht auf den Arm ...? Entschuldigen Sie, Herr Oberleutnant, aber ...« Mit seiner schweren, klobigen Hand fuhr er sich schnell über das Gesicht, als wollte er irgend etwas Störendes wegwischen.

»Es stimmt. Hier«, sagte Obermeier und nahm den Brief vom Tisch hinter sich. Ein einfaches blaues Kuvert, darauf eine große, ungelenke Schrift. Schwanecke wischte sich die Hand an der Hose ab und streckte sie zögernd aus. »Na, los, nehmen Sie schon!« sagte Oberleutnant Obermeier. »Gehen Sie jetzt, und lesen Sie den Brief in Ruhe!«

Schwanecke ging hinüber zu der großen Scheune und setzte sich auf sein Bett. Kronenberg und Krüll, die ihn beobachteten, wie er den Brief sinnend in der Hand hielt, schlenderten näher.

»Briefchen von Liesl, Anni, Gretchen - oder von wem?« fragte Kronenberg.

»Von der Mutti!« grinste Krüll.

Schwanecke fuhr hoch. »Haut ab!«

»He, Sie - Sie haben immer noch nicht gelernt, wie Sie sich zu benehmen haben, wenn Sie mit einem Vorgesetzten sprechen!« sagte Krüll.

»Jawohl!« sagte Schwanecke leise und stand langsam auf. Krüll sah in seine Augen und entfernte sich wieder.

»Du auch!« sagte Schwanecke zu Kronenberg sehr ruhig und wartete, bis auch dieser ging. Dann setzte er sich wieder und riß

den Umschlag mit dem Fingernagel langsam und behutsam auf.

Nach fünf Jahren der erste Brief! Sie hatte nicht geschrieben, als er in Untersuchungshaft saß, sie hatte ihn verleugnet, als er ins Zuchthaus kam, sie hatte geschwiegen, als die SS ihn aus dem Zuchthaus holte und in das KZ Buchenwald brachte. Sie hatte ihn vergessen, als er in den thüringischen Steinbrüchen schuftete, als er mit bloßen Händen zentnerschwere Steinbrok-ken schleppte und den harten Basalt mit der Spitzhacke aus dem Berg brach. Und sie hatte geschwiegen, als er nach Rußland kam zu diesem verfluchten Bataillon der Verlorenen.

Aber nun schrieb sie!

Man mochte zu der Mutter stehen, wie man wollte, man mochte sie tausendmal verflucht haben, daß sie einen zur Welt gebracht hatte - aber Mutter blieb sie doch. Und wenn so ein Brief kam, dann war alles vergessen, dann fühlte man sich wie ein kleiner Junge, der gerade von irgend jemandem verdroschen worden war und nun zu seiner Mutter ging, um zu hören, daß es gar nicht so schlimm sei. Und ihre Hand auf dem Kopf zu spüren und noch ein bißchen zu heulen, aber dann war es ja wirklich nicht mehr so schlimm, nicht mehr, wenn sie es sagte und wenn sie einem über das Haar strich.

»Soldat Karl Schwanecke«, stand auf dem Briefumschlag.

Soldat!

»Scheiße!« sagte Schwanecke laut. Aber es klang so, als hätte er gesagt: Mach dir nichts draus, Mutter, ich bin ein Soldat, das ist eine verfluchte Sache, aber die andern sind’s auch, und das ist gar nicht so schlimm. Ich komm’ schon durch. Soldat hin oder her - unwichtig! Hauptsache, du hast endlich geschrieben!

Der Brief lautete:

»Lieber Karl!

Am Donnerstag vor 14 Tagen haben uns die Terrorflieger ausgebombt, alles ist kaputt, das Haus und die Möbel und Deine Schwester Irene war drin als die Bombe fiel. Sie war nicht sofort tot und hatte große Schmerzen und man hörte sie schreien aber sie war schon tot als man sie ausgebuddelt hat. Es ist eine schreckliche Zeit womit haben wir das verdient??? Jetzt geben sie mir keine neue Wohnung weil alles so voll ist und die Leute auf dem Bahnhof schlafen müssen aber der Bahnhof ist auch kaputt. Und sie sagen ihr Sohn ist ein Volksschädling und Gewaltverbrecher, sie bekommen keine Wohnung und was soll ich machen? Ich verfluche den Tag wo ich dich geboren habe und wenn ich daran denke wie schwer du auf die Welt kamst!!! Jetzt lebe ich draußen in einer Bretterbude es ist sehr kalt und es gibt keine Kohle und immer die Flieger ach, wäre schon dieses verfluchte Leben vorbei! Alles wegen Dir! Für Irene habe ich keinen Sarg bekommen, weil sie Schwanecke heißt und das ist wie der Teufel! Aber mir ist das alles jetzt egal. Das Leben ist sowieso nichts mehr, ich möchte auch Ruhe haben, vielleicht werde ich es dann haben, wenn ich tot bin. Es grüßt dich Deine Mutter

Herta Schwanecke«

Schwanecke las den Brief langsam, ganz langsam, Wort für Wort. Und als er fertig war, begann er noch einmal von vorne, als wollte er die Zeilen auswendig lernen. Beim Lesen bewegten sich seine Lippen langsam wie bei einem ins Gebet versunkenen Mann, der aus dem Gebetbuch buchstabierte. Und je länger er ihn las, desto fahler wurde sein Gesicht, farblos, eingefallen, knochig, grau.

Als er endlich fertig war, aufsah und über den Brief hinweg ins Leere starrte, brannten seine Augen tief unter den buschigen Brauen.

»Mensch - was hat er denn jetzt?« fragte Kronenberg leise.

»Was schreibt denn die Mutti?« schrie Krüll vom anderen

Ende der Scheune.

Schwanecke hörte es nicht. Ein Brief nach fünf langen Jahren. Was hatte sie geschrieben? Ausgebombt ... und der Name Schwanecke ist wie ein Teufel ... sie möchte lieber tot sein ...

»Schweine!« schrie er plötzlich auf. Er sprang hoch, den Kopf in den Nacken geworfen, den Mund weit offen, als könnte er keine Luft bekommen. »Schweine!« brüllte er grell, nur das eine Wort immer wieder. Dann zerknüllte er den Brief, schleuderte ihn in die Dunkelheit des Raumes und stampfte wie ein Irrer auf. »Mutter!« schrie er jetzt. »Mutter ... alle sind Schweine! Alle!«

Krüll und Kronenberg stürzten zu ihm hin. Sie erreichten das Bett, als Schwanecke begann, mit Händen und Füßen seine Liege zu zerstören, brüllend, um sich schlagend, mit erschrek-kend verzerrtem Gesicht und irrsinnigen Augen.

»Weg!« schrie er. »Weg von hier! Ich bringe euch um, ich bringe alle um, alle!«

Kronenberg und Krüll wechselten einen schnellen Blick. Der Fall war klar: Schwanecke hatte einen Koller. Sie warfen sich auf den Tobenden, aber es mußten noch drei kommen, bis sie ihn endlich überwältigten, ihn in das halbzerstörte Bett legen und festbinden konnten.

Stabsarzt Dr. Bergen, Dr. Hansen und Obermeier kamen in die Scheune gerannt.

Kronenberg klopfte sich die Hände ab, als hätte er einen Mehlsack getragen. Sein linkes Auge fing an, anzuschwellen. »Er schläft«, sagte er trocken. »War ein kleiner Schock für ihn. Vielleicht hat er in den Jahren das Lesen verlernt und ärgerte sich darüber.«

»Halten Sie Ihr dummes Mundwerk, Kronenberg!« schnauzte ihn Obermeier an. Er trat an das Bett heran und blickte auf das anschwellende, zerschlagene Gesicht Schwaneckes. »Ich nehme ihn mit nach Gorki - und Sie kommen auch mit, Krüll.«

»Aber meine Verwundung, Herr Oberleutnant ...«, stotterte Krüll.

»Ich hab’ mir sagen lassen, daß Ihr Hintern wieder gut ist. Im übrigen brauche ich nicht Ihr Gesäß, sondern Ihre Hände, und die sind, wie man sieht, wieder vollkommen in Ordnung. Oder haben Sie etwa mit dem Hintern auf Schwanecke eingeschlagen?«

»Nein, Herr Oberleutnant.«

»Also: Heute nacht um ein Uhr vor der Operationsbaracke.«

»Jawohl!«

»Und die Partisanen?« fragte Dr. Bergen.

»Machen Sie sich nichts draus, Herr Doktor, wir müssen zurück.«

Krüll schlich zu seinem Bett. Wieder an die Front, dachte er. Wieder zurück in diesen Dreck: Feindeinsicht, Feuerüberfälle, Partisanen. Mist.

Dr. Bergen gab Schwanecke eine Morphiumspritze.

»Wird er sich beruhigen?« fragte ihn Obermeier.

»Bis heute nacht schläft er. Ich hoffe, daß es dann vorbei ist.«

»Was war eigentlich los?« wandte sich Obermeier an Kronenberg.

»Der Brief .«

»Wo ist er?«

Kronenberg suchte den zerknüllten Brief und gab ihn dem Oberleutnant, der ihn glättete und las. Als er fertig war, faltete er ihn sorgfältig zusammen, steckte ihn in die Tasche und verließ schweigend den Raum.

»Was muß da bloß drinstehen, der war ja auch ganz belämmert?« sagte Kronenberg.

»Wer weiß. Es gibt Briefe, die man nie abschicken sollte«, sagte Dr. Hansen, bevor er ging.

Um ein Uhr nachts standen Krüll und Schwanecke vor der Operationsbaracke. Schwanecke lehnte, finster vor sich hinblickend, an der Wand. Als er aufgewacht war und sich auf das Bett gefesselt sah, lachte er zuerst lange und hysterisch. »Ich haue euch schon nicht ab, ihr Idioten!« sagte er dann, vom Lachen geschüttelt. »Wo soll ich denn hin in diesem Mistland?«

»Man kann’s nie wissen, du hast einen ganz schönen Koller gekriegt, und man weiß ja, daß Leute mit Koller allerlei Dummheiten machen.« Kronenberg saß am Fußende und hielt hinter dem Rücken eine neue Spritze bereit, falls Schwanecke wieder zu toben beginnen würde. »Dich wird ja einmal doch die SS schnappen und aufhängen. Dabei hättest du als Überläufer beim Iwan die größte Chance.«

Krüll trat Kronenberg auf den Fuß und zu Schwanecke sagte er grob: »Dir schießen sie die Rippen einzeln ‘raus, wenn du abhaust.« Nachdem selbst Stabsarzt Dr. Bergen, Krülls letzte Hoffnung, ihn k.v. geschrieben und damit bestätigt hatte, daß sein Schuß in den Hintern kein Hindernis wäre auf dem Weg zum Heldentum, hatte sich Krüll den Gegebenheiten schnell angepaßt. Dies wurde schon eine Viertelstunde nach der Untersuchung und endgültigen Entscheidung bekannt, als Krüll in der Lazarettscheune einen Leichtverletzten strammstehen ließ und ihn durch den Mittelgang hin und her jagte, weil er, wie er sagte, im warmen Bett verlernt hätte, anständig die Vorgesetzten zu grüßen. »Euch werde ich helfen«, schrie er durch die Lazarettscheune, »Ihr Simulanten wärmt euch hier den Bauch, während wir draußen im Schnee liegen und Eis kauen! Alle Lazarettrückkehrer werde ich in Zukunft selbst nachbehandeln!«

»Sauhund!«

Krüll fuhr herum. In den Betten lagen die Schwerverletzten. Auf den Pritschen und Strohsäcken lümmelten sich die Gehfähigen und grinsten.

»Wer war das?«

Aus der Dunkelheit im Hintergrund kam leise und klar: »Der Wind, der Wind, das himmlische Kind .«

Kronenberg kicherte. Aber mit den Sanitätern wollte es sich Krüll nicht mehr verderben. So schwieg er und ballte die Fäuste. »Es wird auch wieder eine andere Zeit kommen!« drohte er, und Kronenberg nickte heftig.

»Hoffentlich! Darauf warten wir ja alle .«

»Wie meinen Sie das?«

»Genauso, wie Sie gesagt haben, Herr Oberfeldwebel.«

So war der Abend vergangen. Doch in der Nacht, als sie vor der Baracke standen und froren, war Krüll stiller geworden, in sich gekehrt und sehr nachdenklich. Die Front kam wieder näher, er dachte an die Partisanen, durch deren Gebiet sie gleich fahren mußten, an das Grabensystem mit seinen Granatwerferüberfällen, den nächtlichen Feuerstößen, dem Artilleriefeuer. Und er dachte an die undefinierbare Drohung der nahen Zukunft, an die ungreifbare und doch überall gegenwärtige und immer eindringlicher werdende Ahnung einer nahenden Katastrophe.

Was es war, und woher er dieses Wissen oder diese Ahnung des Unheils hatte, wußte Krüll nicht. Es war zu ihm gekommen, genauso wie es zu den anderen gekommen war, leise, schleichend, eindringlich.

Als er so an der Hauswand stand und gegen das kalte Holz lehnte, kümmerte er sich nicht um Schwanecke, der neben ihm stand, und es wäre ihm wahrscheinlich auch gleichgültig gewesen, wenn nach und nach eine Kompanie Landser an ihm vorbeigegangen wäre, ohne ihn zu grüßen.

Schließlich kam Oberleutnant Obermeier. Unter der Fellmütze hatte er einen Schal um den Kopf gebunden und sah aus wie ein Zahnkranker, der seine geschwollene Backe schützte.

»Alles klar, Oberfeldwebel?«

»Jawohl, Herr Oberleutnant!«

»Wir nehmen auch Deutschmann mit. Er muß gleich kommen.«

»Was macht er denn noch?« fragte Schwanecke respektlos.

»Dr. Hansen muß ihm noch einiges Material zusammenpak-ken«, antwortete Obermeier, aber dann schien er sich plötzlich zu erinnern, wer es gefragt hatte und wie - wollte aufbrausen -und unterließ es. Schweigend und nachdenklich betrachtete er Schwanecke, der seinen Blick mit einer dumpfen Gleichgültigkeit erwiderte.

»Schwanecke ...«

»Ich weiß, Herr Oberleutnant. Sie brauchen es gar nicht zu sagen: Bei Fluchtversuch wird sofort geschossen. Habe ich jetzt schon hundertmal gehört. Es hängt mir zum Hals heraus!«

»Vergessen Sie es nur nicht. Sie werden übermorgen nach Orscha überstellt.«

»Warum denn?«

»Sie wissen Bescheid.«

»Wenn’s sein muß .«

Ein Schlitten mit zwei Panjepferdchen kam die Dorfstraße herunter und hielt vor der Scheune an. Ein Landser, vermummt wie ein Nordpolfahrer, unkenntlich wie ein Wesen von einem anderen Stern, hockte auf dem Bock. Er legte lässig die Hand an die Fellmütze, die er einem russischen Muschik abgenommen hatte und statt der Feldmütze trug. Jetzt kam von der Lazarettbaracke her auch Deutschmann, langsam, wie schlafwandlerisch, nach vorn gebeugt, mit stillen, leeren Augen.

Obermeier musterte ihn kurz und fragte sich heute schon zum zweitenmal, was diesem Mann geschehen war, daß er sich so verwandelt hatte. Deutschmann war ja nie laut und gesprächig gewesen, doch hatte er sich allem Anschein nach an die Uniform gewöhnt und auch an die Einheit, in der er dienen mußte. Von ihm ging eine stille, gelassene Ruhe aus, die Einsicht eines Mannes, der sich mit den Gegebenheiten abgefunden hatte. Seit heute morgen aber, als er, Obermeier, ihm den Brief aus Deutschland gegeben hatte, war es damit vorbei: Es schien, als wäre alles Leben von Deutschmann gewichen und als bewege sich hier ein lebender Toter nur noch unter dem Zwang äußerlicher Einflüsse, der wie ein Automat sprach und auf Fragen antwortete, ohne wirklich dabeizusein.

Krüll stieg als erster ein. Er zog Schwanecke hinter sich her und postierte sich neben ihm, so daß er jede seiner Bewegungen sehen konnte. Deutschmann beachtete er nicht.

Stabsarzt Dr. Bergen kam aus seiner Baracke gelaufen und rief Obermeier zu:

»Jetzt gerade rief Wernher an. Bei Witebsk ist der Russe auf einer Breite von über dreißig Kilometern durchgebrochen. Er nimmt an, daß der nächste Stoß hier bei uns erfolgen wird.« Er stockte und trat dann ganz nahe an Obermeier heran: »Wenn wir uns nicht mehr sehen sollten, nehmen Sie mit auf den Weg: Sie sind einer der letzten anständigen Kerle hier, und ich - ich .«

Er wandte sich schroff ab und eilte durch den Schnee zurück in die Operationsbaracke. Obermeier sah hinter ihm her, schüttelte den Kopf, ging zum Schlitten und setzte sich neben Krüll.

»Abfahren!«

Krüll blickte ihn erschrocken an.

»Der Russe ist durchgebrochen?«

»Es scheint so.«

»Und jetzt - bei uns?«

»Wahrscheinlich.«

Krüll schluckte. »Was sollen wir nur machen, wenn es hier losgeht, Herr Oberleutnant? Wir haben doch nichts. Für die ganze Kompanie nur drei MGs, vier Maschinenpistolen, zehn Karabiner, fünf Pistolen. Das ist alles. Damit können wir den Russen doch nicht aufhalten!«

»Sie haben wieder einmal recht, Krüll.«

Schwanecke grinste breit. »Gleich stinkt’s, Herr Oberleutnant. Rücken Sie ab - er scheißt in die Hosen .«

Aber Krüll beachtete ihn nicht. Mit weit offenen Augen sah er den Oberleutnant an. »Sie werden uns ab knallen wie die Hasen«, sagte er, »wir können uns doch nicht so einfach abknallen lassen!«

»Warum eigentlich nicht?«

Obermeier rieb sich die klammen Hände. »Was glauben Sie denn, warum wir hier sind?«

Der Morgen graute, als der Pferdeschlitten in Gorki einfuhr und vor dem Kompaniegefechtsstand hielt. Jens Kentrop, der in Abwesenheit Obermeiers und Krülls die Kompaniegeschäfte führte, kam aus der Hütte gelaufen und machte Meldung. Die Unteroffiziere Peter Hefe und Hans Bortke waren mit den Schanzkolonnen draußen im Grabensystem und hatten mit dem in der vergangenen Nacht verlegten Feldtelefon durchgegeben, daß eine russische Patrouille hinter der deutschen HKL eine Arbeitskolonne beschossen habe. Da nur drei Karabiner und zwei Pistolen zur Verteidigung vorhanden waren, hatte die Kompanie schwere Verluste: sieben Tote und dreizehn Verwundete. Erst nachdem die Verstärkung mit einem MG und zwei Maschinenpistolen kam, zogen sich die Russen zurück und ließen drei Tote liegen.

Oberfeldwebel Krüll, der diese Meldung beim Aussteigen mitanhörte, hatte das Gefühl, die Welt würde über ihm einstürzen. Jetzt war es da, was er befürchtet hatte.

Obermeier schwieg. Er nickte Kentrop zu und ging mit gesenktem Kopf in die Hütte. Kentrop drehte sich zu Krüll um und sagte mißmutig:

»Es stinkt gewaltig. Und das ist nur der Anfang. Bei der 1.

Kompanie hat es in dieser Nacht ganz fürchterlich gebumst.«

Deutschmann hatte diese Gespräche wie durch einen dicken Wattebausch vernommen. Er kümmerte sich nicht um die anderen. Mit abwesendem, starrem Blick, der in seine Augen gekommen war, nachdem er Dr. Kukills Brief gelesen hatte, setzte sich Deutschmann auf seine Pritsche in der winzigen Kammer, wo er schlief. Der verhängnisvolle Brief knisterte in seiner linken Brusttasche. Auf der ganzen Fahrt von Barssdowka nach Gorki hatte er kein Wort gesprochen, weder mit Obermeier, der ihn in Ruhe ließ, noch mit Krüll oder Schwanecke, die einige Male ein Gespräch beginnen wollten und immer wieder aufhörten, da er keine Antwort gab.

Julia ist tot. Das hatte er zwischen den Zeilen herausgelesen. Dr. Kukill hatte sie sterben sehen, sie hatte sich für ihn, Deutschmann, geopfert. Sie hatte beweisen wollen, daß er unschuldig war. Sie hatte an ihn geglaubt, an ihn und an seine Arbeit, sie hatte ihm vertraut - doch der Aktinstoff hatte auch bei ihr versagt. Was bedeutete es, daß Kukill ihn jetzt bat, Zusammensetzungen, Formeln, Versuchserfahrungen zu schicken, daß er schrieb, er glaube an die Möglichkeit eines Aktinstoffes, daß er beteuerte, er wolle ihn rehabilitieren? Das alles war nebensächlich, unwichtig gegen die Tatsache, daß Julia gestorben war, während er mit Tanja ...

Es gab keinen Ausweg aus seiner Qual. Es gab keinen Ausweg vor den Selbstvorwürfen und der Selbstanprangerung. Und während er auf der Pritsche saß und vor sich hinstarrte, hatte er das Gefühl, er wäre schuld an Julias Tod, er allein. Niemand konnte ihm diese Schuld abnehmen, nie mehr würde er frei von ihr sein. Er nahm den Brief aus der Tasche und zerriß ihn in ganz kleine Teile, die er auf den Boden streute und mit den Stiefelsohlen in den Lehm rieb.

Oder - eine unsinnige Hoffnung regte sich in ihm - oder war Julia gar nicht gestorben? Kukill schrieb doch nur, daß sie sehr schwer krank sei, aber von ihrem Tod stand kein Wort in dem Brief. Vielleicht - vielleicht würde sie durchkommen, genauso wie er selbst durchgekommen war ... vielleicht ...

Unsinn!

Er wischte mit der Handfläche über sein Gesicht. Es war unsinnig, sich einer Hoffnung hinzugeben. Es gab keine mehr. Julia war tot.

Er zog seinen Mantel aus, legte ihn über die Pritsche, hielt mitten in der Bewegung inne und sah mit einem irren Blick um sich, als würde er etwas suchen. Es war irgend etwas, was er hatte tun wollen, es gab irgend etwas, was er erledigen mußte ... nicht nur er war schuld an Julias Tod, nicht nur er ... warum war er eigentlich hier? Warum mußte er hier sitzen in dieser elenden Kammer, verdreckt, verlaust ... warum das alles? Wie kam es zu dem Abenteuer mit Tanja? Warum kam es dazu? Es war ein Abenteuer, es war ein Mittel, um zu vergessen, und das alles wäre nicht geschehen - wenn nicht dieser Mann gewesen wäre, der ihm geschrieben hatte: Dr. Kukill. Er war schuld. Wäre er nicht gewesen, so würde er, Deutschmann, immer noch in Berlin leben, arbeiten - zusammen mit Julia. Mit einer gesunden, schönen Julia, seiner Frau, seiner wunderbaren Frau, die nicht nur Ehefrau war, sondern eine Freundin, Mitarbeiterin ...

Hastig, mit nervösen, fliegenden Händen riß er einen Pappkarton unter seinem Bett hervor, nahm einen Schreibblock und einen Bleistift heraus, legte den Block auf die Knie und begann zu schreiben:

»Dr. Kukill, ich habe Ihren Brief erhalten. Es dürfte Sie kaum interessieren, wie sehr mich Ihr wehleidiges Stottern angeekelt hat. Ich sage es Ihnen trotzdem. Ich sage es Ihnen vor allem, um endgültig klarzustellen, was ich glaubte, zwischen den Zeilen Ihres Briefes herauszulesen: Sie empfinden ein gewisses Gefühl der Schuld. Aber das ist zu wenig, Herr Dr. Kukill. Ich kann mir vorstellen, daß Sie sich darüber keine grauen

Haare werden wachsen lassen; wie ich Sie kenne, liegt es Ihnen fern, sich je über das Leid Ihrer Mitmenschen, das Sie verursacht haben, Gedanken zu machen. Wenn ich könnte - und gebe Gott, daß es mir einmal möglich sein wird -, würde ich Ihnen jetzt und immer wieder ins Gesicht schlagen und so laut brüllen, daß Sie es hören müßten: Sie sind schuld! Sie sind schuld! Sie sind schuld, daß ich hier bin, Sie sind schuld, daß Julia tot ist, Sie sind schuld! Julia ist tot - und das haben Sie ... das haben Sie ... Sie sind schuld! Julia ist tot - tot!«

Er ließ den Bleistift kraftlos auf das Papier fallen. Mit trok-kenen, heißen Augen stierte er auf den Boden vor sich, lange Minuten, ohne sich zu rühren. Er dachte: Ich möchte weinen. Ich möchte es tun. Aber ich kann es nicht. Mein Gott, wenn ich ihn nur hier hätte! Wenn ich ihn nur hier hätte! Und er sah nicht auf, als die Tür aufging und jemand zu ihm in den kleinen Raum kam.

Es war Schwanecke.

»Was is’n eigentlich mit dir los?« fragte er, während er sich auf die Pritsche setzte und Deutschmann prüfend ansah.

»Nichts. Was machst du hier?« fragte Deutschmann.

»Ich suche Gesellschaft, Professor, verstehst du? Bevor sie mich köpfen .«

Deutschmann schwieg, und erst nach und nach drangen Schwaneckes Worte in sein Bewußtsein.

»Dich - was?« fragte er.

»Köpfen, habe ich gesagt, Professor. Eins, zwei, drei - der Kopf ist ab, und Schwanecke war einmal.«

»Du bist verrückt!«

»Ich nicht, aber die anderen. Die werden mir schon einen Strick drehen, darauf kannst du dich verlassen. Zuerst stecken sie mich hier ‘rein ins Strafbataillon und sagen: Bewähre dich, mein Junge, wenn du genug Russen totmachst, biste wieder’n feiner Maxe. Aber dann kam die blödsinnige Geschichte mit diesem Idioten ...«

»Bevern?«

»Na klar.«

»Aber du hast ihn doch nicht umgelegt, und sie können dir ja gar nichts beweisen!«

»Vielleicht hab’ ich ihn doch umgelegt ...« Schwanecke grinste breit.

Deutschmann wich zurück. Erschrocken starrte er auf den Sitzenden, der ihn verschlagen blinzelnd von unten her anstarrte. »Du - du hast ihn ...?«:

»Ach wo, nichts habe ich. Aber die Sache ist so, verstehst du: Wenn sie einmal einen in der Mache haben, dann kommt er nicht davon. Der Verdacht genügt. Und mit so einem Verdacht ist es eine verdammte Sache. Paß gut auf: Der erste sagt - der war mit ihm allein im Graben. Der zweite sagt - der hätte ihn aber gut umlegen können. Und der dritte sagt - der hat ihn umgelegt! und der vierte sagt - klar, es gibt nichts anderes, das ist mal todsicher. Kein anderer konnte Bevern umlegen als Schwanecke! Und das kommt dann zu dem ganzen Re. Re.

- na, wie heißt das schon?«

»Vorstrafenregister«, sagte Deutschmann.

»Genau. Und das ist bei mir nicht von Pappe, sage ich dir. Klar, daß nicht jedermann glaubt, ich hätte ihn wirklich umgebracht. Schade, daß ich es nicht getan habe ...!«:

»Vielleicht hast du es doch?«

»Ach wo. Jetzt geht’s mir an den Kragen. Nix Bewährung! Ein Volksschädling! Fallbeil! Sssss - Rübe ab. Das deutsche Volk kann erleichtert aufatmen. Schwanecke ist nicht mehr. Verstehst du ...«

»Das ist ja furchtbar«, sagte Deutschmann leise.

»Furchtbar? Ach wo. Wenn so viele Leute ins Gras beißen müssen ... Und jetzt muß ich dir etwas sagen, was ich noch keinem Menschen gesagt habe: Vielleicht haben die sogar recht. Ich meine ... verstehst du ... ich meine, ich war wirklich ein Schwein. Ich kannte nichts. Hab’ ich ein Mädchen gesehen

- los, ‘ran! Hab’ ich einen Tresor gesehen - nischt wie knak-ken! Ich kann schon verstehen, daß die anderen genug haben von mir. Aber, verstehst du, jetzt hab’ ich’s ja eingesehen, ich glaube, vielleicht ... man kann ja nie was versprechen ... aber vielleicht könnte das anders werden ... ich habe dich kennengelernt, Professor, und Wiedeck und Bartlitz, ihr seid alle in Ordnung, verdammt noch mal, ihr seid wirklich in Ordnung, ich glaube ... sie müßten mir noch eine Chance geben ... aber jetzt ist’s aus, verdammt noch mal, jetzt ist’s aus ...!«

Er legte den Kopf in die Hände und weinte.

Es war ungeheuerlich. Deutschmann hätte alles andere erwartet, als daß Schwanecke einmal weinen könnte. Er war unfähig, sich zu rühren, unfähig, ihm etwas zu sagen. Doch dann konnte er es nicht mehr länger ertragen. Er streckte die Hand langsam vor und legte sie auf die Schulter des Weinenden.

»Vielleicht - vielleicht ist es nicht so schlimm«, sagte er, »vielleicht ...«

»Ach was!« sagte Schwanecke und sah auf. Seine Augen waren blutunterlaufen, flackernd, und vor seinem Blick wich Deutschmann zurück. »Da gibt’s kein Vielleicht! Ich muß mir selbst helfen, das ist alles.«

»Wie meinst du das?«

»Wie ich das meine? Eine blödsinnige Frage! Ich werde abhauen!«

»Abhauen? Etwa - desertieren?«

»Na klar.«

Deutschmanns Gesicht war fahl. »Du bist ja verrückt! Wenn sie dich schnappen, stellt dich selbst Obermeier an die Wand, und wir müssen auf dich schießen!«

»Wer spricht da von schnappen? Sie werden mich nicht schnappen! Kein Mensch kann mich hier schnappen, wenn ich nicht will.«

»Wie willst du durch die HKL kommen?«

»Mensch, du vergißt, daß ich ein uralter Hase bin. Ich kenne alle Schliche, mir kann keiner was vormachen. Und ich sage dir noch etwas, halt dich fest!« Er stand langsam auf und sah Deutschmann gerade in die Augen. »Du warst immer ein anständiger Kerl, Professor. Du bist ein Doktor, Mensch, was machst du denn noch hier? Die Schweine haben dich zur Sau gemacht, warum hockst du noch hier? Wenn du willst, nehme ich dich mit. Ehrenwort!«

Deutschmann schüttelte den Kopf.

Schwaneckes Stimme wurde drängend: »Sei nicht dumm, Professor, wenn du mit mir gehst, kommst du durch. Das garantiere ich dir. Du nimmst deine Rote-Kreuz-Fahne mit und so ‘ne Armbinde und gibst mir auch eine. Dann wird man auf beiden Seiten denken, wir suchen nach Verwundeten - und ab durch die Mitte!«

»Das kann ich nicht!«

»Warum nicht?«

»Es wäre eine Schweinerei. Ich meine, das mit dem Roten Kreuz ...«

»Du bist vielleicht ein blöder Hund! Ich möcht’ bloß wissen, was in deinem Kopf vorgeht. Die Sache ist doch sonnenklar. Der ganze Krieg ist eine Schweinerei. Und ich werde dir etwas sagen: Diese Rote-Kreuz-Fahne ist dazu da, um Menschen - du verstehst schon ... ich meine, um Menschen durchzubringen. Sie wird auch uns durchbringen - warum soll das dann eine Schweinerei sein? Andererseits - wenn du hier bleibst, gehst du beim nächsten Angriff der Russen todsicher drauf. Womit willst du dich wehren? Wir werden wie Zielscheiben durch den Schnee hoppeln, und die werden ein Übungsschießen auf uns veranstalten, und ich garantiere dir, daß das bald kommt, ich spüre es in allen Knochen. Und du redest noch von Schweinerei, und vom Roten Kreuz und so. Bleibst du hier, kommst du um, kommst du mit, bleibst du am Leben - und das Rote Kreuz hat genau das getan, was es zu tun hat!«

»Und - die anderen?«

»Wer?«

»Ich meine die anderen, unsere Kameraden.«

»Was ist mit denen?«

»Was werden die machen?«

»Ich kann dir genau sagen, was die machen werden. Sie werden sagen: Verdammt noch mal, endlich zweie, die nicht auf den Kopf gefallen sind. Hoffentlich kommen sie durch, wir halten ihnen alle Daumen. Genau das werden sie sagen. Mensch, wach doch auf! Siehst du denn nicht, was hier gespielt wird? Wir werden abgeschlachtet wie eine Viehherde. Es wird nicht mehr lange dauern, und dann krepierst du auch. Kannst du denn das nicht begreifen? Da drüben haben wir eine Chance. Ich weiß, es ist kein Spaß, bei den Russen einen Gefangenen zu spielen, sie werden uns feste drannehmen, aber unsere Chance ist mindestens 50:50, daß wir durchkommen. Wenn du hierbleibst, hast du vielleicht eine Chance 1:100. Hier bist du der letzte Dreck, wenn du im Strafbataillon bist. Aber da drüben wird man vielleicht sagen: Das sind Märtyrer, die haben gegen Hitler gekämpft, es lebe hoch der Schwanecke, heil dem Deutschmann. Wollt ihr zu fressen haben, was wollt ihr saufen? Gib dir einen Stoß, komm mit!«

»Nein!«

»Mit der Armbinde und der Fahne kommen wir durch wie nichts!«

»Und die Minenfelder?«

»Du hast noch immer nicht kapiert, daß ich den Dreh ‘raushabe. Ich rieche eine Mine auf 50 Meter! - Und du willst ein Intellektueller sein? Ich weiß gar nicht, warum du dagegen bist. Ich muß weg. Ich kann mir keine Masche aussuchen, wie

Hilfssani und so, mir hacken sie die Rübe ab, und ich wär’ schön blöd, wenn ich warten würde.«

»Aber laß mich dabei aus dem Spiel!«

Schwanecke drehte sich um, trat an das winzige Fenster und sah hinaus auf die Dorf Straße. Krüll stand im hohen Schnee, den Mantelkragen emporgeklappt, und schrie auf einen Soldaten ein. Es war der schmächtige, halbverhungerte Professor, den man nur zu leichten Arbeiten innerhalb der Kompanie einsetzen konnte. Er hatte die Straße vom Schnee freigefegt und sich einige Augenblicke erschöpft auf den Stiel seines Drahtbesens gestützt. So traf ihn Oberfeldwebel Krüll an, als er einen Rundgang durch das Dorf machte. An ihm konnte er seine Wut vor der eigenen Angst auslassen. Während er ihn hin und her jagte, konnte er wenigstens eine Zeitlang vergessen, wo er war, und die Ahnungen niederdrücken, die ihn ruhelos herumhetzten und vor denen er nirgends sicher war.

»Sie akademischer Schlappschwanz!« brüllte er, »das Abitur machen, den Hintern auf den Universitätssitzen weichrutschen, große Fresse haben über dußlige Philosophen - das kann er, aber ‘ne Straße fegen, da geht der Kerl in die Knie! Hopphopphopp, Herr Professor, dreimal um die Schreibstube herum, marsch, marsch!«

Der Professor nahm seinen Besen wie einen Speer in die Hand und rannte los. Keuchend, mit vorquellenden Augen, taumelnd, die linke Hand auf das Herz gepreßt. Krüll stand auf der Straße und kommandierte:

»Schneller! Schneller! Beine müssen fliegen! Kopf hoch! Mehr Haltung, Sie philosophischer Knülch. Denken Sie an Sokrates, das war doch einer von Ihrer Sorte. Denken Sie an Kant, nehmen Sie sich ein Beispiel an ihm, er schlief in einem Faß, in der frischen Luft! Hier haben Sie frische Luft! Noch eine Runde! Hopphopp!«

Der Professor taumelte, stolperte, warf den Stahlbesen weg, schlug mit den Armen um sich und fiel vornüber in den Schnee. Mit dem Gesicht auf dem Eis lag er mitten auf der Dorfstraße, ein lebloses Bündel Kleider, aus denen ein schmaler grauhaariger Kopf sah.

Krüll sah verblüfft auf den Liegenden und schüttelte den Kopf. »Na, so was«, sagte er, drehte sich herum und schrie: »Deutschmann! Deutschmann! Herkommen!«

Schwanecke drehte sich böse grinsend vom Fenster. »Geh raus«, sagte er. »Deine Freunde haben den Professor zur Sau gemacht. Geh nur, bald bist du dran!« Ohne Deutschmann weiter zu beachten, ging er an ihm vorbei. Deutschmann lief hinterher.

Krüll stand breitbeinig neben dem Ohnmächtigen. Als Deutschmann mit der Medizintasche in der Hand näher gelaufen kam, fragte er, jetzt doch ein bißchen nervös geworden: »Gibt’s auch dafür eine Spritze?«

»Mal sehen.« Deutschmann kniete in den Schnee und drehte den Liegenden herum. Über die Stirn des Professors zog sich ein tiefer Schnitt. Das Blut gefror in der Kälte. Als Deutschmann die Lider des Ohnmächtigen hob, waren die Augen verdreht und glanzlos.

»Ist er etwa - verreckt?« fragte Krüll.

»Noch nicht. Herzkollaps.«

»Sprechen Sie deutsch mit mir!« Krüll tippte mit der Stiefelspitze in die Seite des Mannes, der bewußtlos auf dem Boden lag. »Was hat er?«

»Masern!« sagte Deutschmann wütend und kümmerte sich nicht mehr um den verdatterten Oberfeldwebel. Er sah sich hilfesuchend um und bemerkte Schwanecke, der an der Hauswand lehnte und ausdruckslos hinüberstarrte. »Komm her -hilf mir!« rief Deutschmann und packte den Ohnmächtigen unter den Armen.

Schwanecke schlenderte langsam näher. »Laß das«, sagte er, hob den Professor auf seine Arme und trug ihn hinüber zum Revier. Sie betteten den leblosen Körper auf einen Strohsack, Deutschmann knöpfte die Uniform auf und massierte die schmale Brust, aus der die Rippen ragten wie die Sprossen einer Leiter.

Der Professor kam langsam zu sich, sein Mund öffnete und schloß sich, und kaum verständlich röchelte er: »Luft - Luft -Luft!« Doch dann wurde er wieder ohnmächtig.

»Wasser!« rief Deutschmann.

Schwanecke rannte in eine Ecke, füllte einen Kochgeschirrdeckel mit Wasser, kam zurück und begann die Brust des Professors zu massieren. Deutschmann klopfte mit der flachen Hand die Herzgegend ab.

»Gib ihm doch ein Herzmittel!« sagte Schwanecke.

»Ich habe nichts hier, nur Sympathol!«

»Dann gib’s ihm doch!«

»Das hilft nicht.«

»Das ist doch wurscht. Vielleicht hilft’s doch. Wir müssen den Kerl durchkriegen. Er ist in Ordnung. Krüll - dieses Schwein - dieses verfluchte Schwein!«

Deutschmann nahm aus einer Sanitätstasche ein kleines Fläschchen heraus und träufelte fünfzehn Tropfen auf einen Löffel. Schwanecke schob seinen dicken Zeigefinger zwischen die verkrampften Lippen des Ohnmächtigen und drückte den Mund auf. Vorsichtig schüttete Deutschmann die Tropfen hinein. Dann massierten sie wieder die Brust und die Herzgegend.

»Soll ich Schnaps besorgen?« fragte Schwanecke.

»Nein, das hat keinen Zweck.«

»Er muß durchkommen«, sagte Schwanecke wieder, »Krüll, dieses Schwein, dieses verfluchte Schwein! Wenn ich den einmal erwische ...«

»Er wird durchkommen - jedenfalls scheint es mir so«, sagte Deutschmann schwitzend, als der Professor regelmäßiger zu atmen und leise zu stöhnen begann. Aber er war immer noch ohnmächtig.

»Na, kommst du nun mit oder nicht?« fragte Schwanecke.

Deutschmann schwieg.

»Willst du wirklich hier verrecken? So wie der da? Auch wenn er durchkommt, wird er irgendwann verrecken - spätestens dann, wenn ihn die Russen umlegen!«

»Halt den Mund!« sagte Deutschmann.

»Jaja, ist schon gut. Meinetwegen verrecke. Mir ist’s gleich.«

Sie arbeiteten schweigend weiter. Als es den Anschein hatte, daß es nichts mehr zu tun gab, deckten sie den Professor mit zwei Decken zu. Dann setzten sie sich zu beiden Seiten des Schlafenden und stierten vor sich hin auf den Boden. Sie hatten sich nichts mehr zu sagen. Oder doch? Hatte Schwanecke am Ende doch recht, fragte sich Deutschmann. War es wirklich so, wie er sagte? Was hielt ihn noch hier zurück? Warum griff er nicht mit beiden Händen zu? Denn es war eine Chance durchzukommen, während hier?

Als Obermeier plötzlich eintrat, erhoben sie sich nicht. Sie bemerkten ihn erst, als er am Bett stand.

»Krüll?« fragte der Oberleutnant.

Deutschmann nickte. »Irgend etwas muß er ja tun.«

Wortlos, mit einem bleichen, böse-verbissenen Gesicht verließ Obermeier das Revier.

In der darauffolgenden Nacht tobte Krüll wie ein wildgewordener Stier im Dorf herum - und dann wieder schlich er bedrückt durch die Straße von Haus zu Haus, aus einer Unterkunft in die andere. Oberleutnant Obermeier hatte ihm wegen des Professors eine fürchterliche Zigarre verpaßt. Aber die Zigarre allein wäre nicht so schlimm gewesen: In seiner langjährigen militärischen Laufbahn hatte er gelernt, die Maßregelungen der Vorgesetzten gleichgültig von sich abzuschütteln wie ein nasser Hund das

Wasser. Doch weitaus unangenehmer war die Tatsache, daß ihm Obermeier befohlen hatte, wieder hinaus in die Gräben zu gehen, um die Arbeit dort zu beaufsichtigen und vor allem die fertiggestellten Grabenstücke auszumessen.

»Sie haben sich ja zu einem Fachmann im Messen entwik-kelt, Oberfeldwebel«, hatte Obermeier zu ihm gesagt. »Oder stimmt es nicht?«

Krüll hatte die Hacken zusammengeschlagen und heiser bestätigt:

»Jawohl, Herr Oberleutnant.«

Und dieses stumpfsinnige Jawohl tat ihm innerlich so weh, daß er aus einer Stimmung in die andere fiel, aus wütendem Toben in verbissenes, ahnungsvolles Schweigen.

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